Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Exil Schweiz
3. Von der Existenz der kleinen Leute
4. Das Cabaret Voltaire und Dada
5. Der Flüchtling Hugo Ball
6. Fazit
1. Einleitung
Hugo Ball – ein Mensch, der in seinem sehr kurzen Leben von nur einundvierzig Jahren zahlreiche Sinneswandel durchlebte. Der einstige Kriegsbefürworter floh aus dem vom Ersten Weltkrieg erschütterten Deutschland in die neutrale Schweiz und beendete dadurch die ihm so am Herzen liegende Karriere als Theaterregisseur. Als einer der Hauptvertreter des Züricher Dadaismus provozierte Ball die Öffentlichkeit dann mit nie da gewesener sprachlicher Gewandtheit in äußerst pazifistischer Haltung.
Dada und die gesamte Geisteshaltung dieser Bewegung faszinierten die Massen, wurden international berühmt – doch zu diesem Zeitpunkt hatte Hugo Ball sich schon längst seiner Eigenkreation Dada wieder abgekehrt. Im Tessin lebte er zurückgezogen mit seiner Frau Emmy Ball-Hennings und in Gesellschaft seines guten Freundes Hermann Hesse, veröffentlichte nur selten politische Schriften und lebte ein asketisches Leben im Sinn des mystischen Katholizismus.
Um Hugo Balls Hinwendung zum Dadaismus und die so kurz darauf folgende Abwendung hiervon auch nur im Ansatz nachvollziehen zu können, hilft die chronologische Lektüre seiner Werke. Um die Wandlung eines Menschen vom Theaterregisseur über einen Ausnahme-Künstler, politischen Aktivisten, Hauptvertreter und Begründer des Züricher Dadaismus bis hin zu einem zurückgezogen lebenden, stark gläubigen Italien-Liebhaber aufzuzeigen, werden im Folgenden Charakteristika und Aussagen einzelner Publikationen sowie stationär die persönlichen Lebensumstände des Autors untersucht.
Schwerpunkte werden auf Balls Roman Flametti und Veröffentlichungen einzelner Schriften liegen; des Weiteren sollen auch Teile aus Briefwechseln Balls und vor allem die ausführlichen Einträge aus dem erst in seinem Todesjahr 1927 publizierten Tagebuch Die Flucht aus der Zeit helfen, seine Persönlichkeit und Überzeugungen zu rekonstruieren – wobei immer vor Augen geführt werden sollte, dass der Vorwurf, Ball selbst habe nachträglich Änderungen an diesen Schriften vorgenommen, nie völlig widerlegt werden konnte.
Vernachlässigt werden an dieser Stelle Hugo Balls Lautgedichte.
2. Exil Schweiz
Ein grausam-jähes Ende wurde der durchaus erfolgreichen Karriere Hugo Balls als Theaterregisseur und -kritiker gesetzt, als der Erste Weltkrieg in Deutschland proklamiert wurde. Anfangs mitgerissen und begeistert von der Masseneuphorie, die die Kriegspropaganda der Deutschen auslöste, meldete sich Ball als Freiwilliger zum Kriegsdienst. Wie viele andere Künstler seiner Zeit erhoffte er sich eine Art Katharsis, also seelische Reinigung für die Menschheit, und eine allgemeine Befreiung durch den Krieg. Doch bereits kurze Zeit „nach dem Einbruch der Deutschen in Belgien“[1] änderte er seine Meinung abrupt und sah von nun an nichts Positives mehr am Krieg und an der Einstellung Deutschlands. Für Ball beruhte dann
der Krieg […] auf einem krassen Irrtum. Man hat die Menschen mit den
Maschinen verwechselt. Man sollte die Maschinen dezimieren, statt die
Menschen. Wenn später einmal die Maschinen selbst und allein marschieren,
wird das mehr in der Ordnung sein. Mit Recht wird dann alle Welt jubeln,
wenn sie einander zertrümmern.[2]
Als dann auch noch zu allem Überfluss „Freunde, Dichter und junge Künstler reihenweise hingemäht“[3] wurden, gab es für Hugo Ball und seine Partnerin Emmy nur eine logische Konsequenz, nämlich die Flucht in die neutrale Schweiz. Seiner Schwester Maria schreibt Ball:
Ich bin aus Deutschland weggegangen, weil ich immer die Absicht hatte, mich
im Ausland weiterzubilden und weil der Krieg und der 'Patriotismus' meinen Überzeugungen widersprach.[4]
So kann Ball zusätzlich zur offen gezeigten Antipathie Deutschland gegenüber auch den lang gehegten Wunsch, im Ausland tätig und erfolgreich zu werden, verwirklichen.
Doch Hugo Ball und Emmy Hennings, damals noch nicht verheiratet, waren keineswegs die einzigen Flüchtlinge, die sich aus ihren eigenen Ländern vertrieben sahen und das Heil in der Schweiz suchten. International überfüllt war Zürich zur Zeit des Ersten Weltkrieges und es war die
Abscheu vor einem sinnlosen Krieg, [die] sie in Zürich vereint [hatte]. Eine
Stadt mit Emigranten-Tradition nahm erneut Flüchtlinge, Deserteure,
Pazifisten, eine verzweifelte, anarchistische Avantgarde auf.[5]
Als das Paar im Sommer 1915 in Zürich eintraf, mussten sie sich von Anfang an ohne ausreichend finanzielle Mittel durchschlagen.
Zürich war damals überfüllt von Fremden, war das Internationalste, was
man sich denken kann. Am Kai hörte man in allen Zungen sprechen. Der
Aufenthalt für unbemittelte Ausländer, wie wir sie eben waren, erschwerte
sich von Woche zu Woche. Beschäftigung, Verdienstmöglichkeiten gab es
nicht. [Ohne] Arbeit […] wurde die Not immer größer. Und bald zeigten sich
Symptome physischer Erschöpfung.[6]
Die Beiden versuchten, sich erst mit zahlreichen literarischen Veröffentlichungen über Wasser zu halten und schließlich war jede erdenkliche Arbeit recht, um an das so nötige Geld zu gelangen.
Enttäuscht und schon fast ohne jede Hoffnung wurde Emmy schließlich im Kabarett „Hirschen“ angestellt und Hugo fand im Oktober Arbeit als Pianist und Texter bei der Varieté-Gruppe „Flamingo“.[7]
Durch den Krieg wurde insgesamt die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft schwieriger und noch isolierter. Das Aufeinander-Treffen zahlreicher Künstler aus unterschiedlichen Kunstrichtungen und unterschiedlicher Herkunft führte schließlich 1916 zur Entstehung des Züricher Dadaismus. Irritiert und abgestoßen von der „bürgerliche[n] Sättigung und Biederkeit, [der] Internationalität auf der einen, [den] heftigen Ressentiments gegen die Ausländer auf der anderen Seite“[8] fanden Wut, Enttäuschung, Frustration und sicher auch Verzweiflung der Künstler wie so oft ein Ventil in einer neu geschaffenen Kunstrichtung; auch wenn es sich zu diesem Zeitpunkt eher um eine Idee als um eine fest konstituierte Bewegung handelte.
3. Von der Existenz der kleinen Leute
Hugo Balls Roman Flametti kann als Bekundung seiner gegenwärtigen lebensphilosophischen Auffassung verstanden werden, die bis zu seiner Rebellion mit dem Dadaismus vor allem auf Nietzsche beruhte.[9] Zwar erst im Jahre 1918, also schon nach Balls Abwendung vom Dadaismus veröffentlicht, zeigen sich hier doch in erstaunlicher Präzision Balls Sinn für Gerechtigkeit und erste Anzeichen für den von ihm initiierten Sprachwandel, der so prägend für Dada werden sollte. Vordergründig handelt der Roman also nicht von Balls dadaistischen Ansichten und Überzeugungen, sondern enthält vielmehr seine geistige Gesinnung und sein Bestreben aus der unmittelbar vor Dada liegenden Zeit.
Getrieben von einem nicht zu brechenden Verlangen nach Selbstinszenierung deckt Hugo Ball in Zürich ungleiche Behandlungen Menschen unterschiedlicher Klassen auf. Schuld daran sind Staat und Gesellschaft, denn
den Anarchismus verdankt man der Überspannung oder Entartung der
Staatsidee. Er wird sich besonders dort zeigen, wo Individuen oder
Klassen, die in idyllischen, innig mit der Natur oder der Religion
verbundenen Bedingungen aufgewachsen sind, in strengen, staatlichen Verschluß genommen werden. Die [eigentliche] Überlegenheit solcher
Individuen über die Konstruktionen und Mechanismen liegt auf der Hand.[10]
[...]
[1] Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Fuga saeculi, hrsg. sowie mit Anmerkungen und Nachwort versehen von Bernhard Echte, Zürich 1992, S. XII.
[2] Ebd., S. 30.
[3] Ball-Hennings, Emmy: Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball, Frankfurt am Main 1990, S. 61.
[4] Ball, Hugo: Briefe. 1911-1927, Einsiedeln 1957, S. 46.
[5] Bolliger, Hans/Magnaguagno, Guido/Meyer, Raimund (Hrsg.): Dada in Zürich, Zürich 1985, S. 5.
[6] Ball, Hugo/Hennings, Emmy: Damals in Zürich. Briefe aus den Jahren 1915-1917, Zürich 1978, S. 11f.
[7] Vgl.: Ebd., S. 14.
[8] Bolliger, Hans/Magnaguagno, Guido/Meyer, Raimund (Hrsg.): Dada in Zürich, S. 11.
[9] Vgl.: Stein, Gerd: Die Inflation der Sprache. Dadaistische Rebellion und mystische Versenkung bei Hugo Ball, Frankfurt am Main 1975, S. 13.
[10] Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit, S. 26.