Verschiedene Weisen die Vergangenheit literarisch aufzuarbeiten.

W.G. Sebald und Jonathan Littell im Vergleich


Masterarbeit, 2011

68 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Über die Erinnerung zur Vergangenheit
2.1. Subjektives Erinnern
2.2. Individuelle Konstruktion der Vergangenheit
2.3. Arten der Erinnerung

3. W.G. Sebald
3.1. Bricolage
3.2. Die Ausgewanderten
3.2.1 Der Ich-Erzäher
3.2.2. Bricolage in Die Ausgewanderten
3.2.3. Intertextualität in Die Ausgewanderten
3.3. Austerlitz
3.3.1. Darstellung von Gewalt in Austerlitz
3.4. W.G. Sebald: Ein Versuch der Restitution

4. Jonathan Littell
4.1. Die Wohlgesinnten
4.1.1. Hyperrealismus
4.1.2. Der Ich-Erzähler Dr. jur. Maximilan Aue
4.1.3. Orestie
4.1.4. Historische Genauigkeit
4.2. Medienreaktionen auf Die Wohlgesinnten
4.3. Die Faszination des Bösen

5.Resumeé

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

In dieser Masterarbeit soll untersucht werden, auf welche verschiedene Weisen die Vergangenheit literarisch aufgearbeitet werden kann. Die beiden Autoren W.G. Sebald und Jonathan Littell stehen im Mittelpunkt der Analyse. Der Roman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell sowie die beiden Werke Austerlitz und Die Ausgewanderten von W.G. Sebald bilden hierbei die literarische Grundlage, anhand derer die Zugangsweisen der Autoren zum Thema Vergangenheit erarbeitet werden.

Die beiden Werke Sebalds sind nur schwer einer literarischen Gattung zuzuordnen. Die Taschenbuchausgabe von Austerlitz wird im Peritext als Roman ausgewiesen, während diese Information fehlt bei der gebundenen Ausgabe fehlt. Die Ausgewanderten wird im Peritext schlicht als „Vier lange Erzählungen“ beschrieben.

In Kapitel 2 wird zunächst eine theoretische Grundlage zum Thema Erinnerung erarbeitet. Hier wird ein besonderes Augenmerk auf die verschiedenen Arten der Erinnerung im Sinne von Marcel Proust und deren Interpretation durch Samuel Beckett gelegt.

Das dritte Kapitel widmet sich W.G. Sebald. Zuerst wird auf die Bricolage als das besondere Schreibverfahren Sebalds eingegangen. Es folgt die Untersuchung von Die Ausgewanderten und Austerlitz hinsichtlich des Verfahrens der Bricolage, der Intertextualität und der Darstellung von Gewalt. Besonders das Thema Intertextualität in Die Ausgewanderten als Mittel zur literarischen Aufarbeitung von Vergangenheit wird am Beispiel der Spuren von Vladimir Nabokov in den vier Erzählungen untersucht. Abschließend wird das Schreiben Sebalds als ein Versuch der Restitution beschrieben.

Jonathan Littell und sein Roman Die Wohlgesinnten ist das Thema des vierten Kapitels. Es werden vier Ansätze untersucht, wie Littell sich im Roman dem Thema Vergangenheit annähert. Anfangs wird die hyperrealistische Beschreibung des Massakers von Babi Jar untersucht. Hiernach werden der Ich-Erzähler Dr.jur. Maximilian Aue sowie die Verwendung der Orestie von Aischylos als literarische Folie genauer betrachtet. Abschließend wird auf die Genauigkeit der historischen Fakten bei Jonathan Littell eingegangen. Da der Roman in den Feuilletons auf große Resonanz stoß, wird die Medienreaktion auf Die Wohlgesinnten in einem Unterkapitel untersucht.

Im Abschlusskapitel werden die untersuchten Ansätze zur literarischen Aufarbeitung der Vergangenheit von Sebald und Littell verglichen.

2. Über die Erinnerung zur Vergangenheit

In diesem Kapitel werden theoretische Vorüberlegungen angestellt, um sich über das individuelle Erinnern einem literarischen Konzept von Vergangenheit zu nähern. Eingangs wird der Prozess des Erinnerns dargestellt, es folgt ein Überblick über die Konstruktion von Vergangenheit nach Aleida Assmann sowie ein kurzer Überblick über das kommunikative, kulturelle und kollektive Gedächtnis. Abschließend wird näher auf zwei Arten der literarischen Erinnerung eingegangen: Die willentliche und unwillentliche Erinnerung.

2.1. Subjektives Erinnern

Erinnern ist ein mentaler Prozess, bei dem Erlebnisse oder Wahrnehmungen aus der Vergangenheit wiedererlebt werden. Das Ergebnis ist die Erinnerung. Um sich an etwas zu erinnern muss man etwas vergessen haben: „Der Mensch mit einem gutem Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nichts vergißt.“[1] Problematisch an Erinnerungen ist, dass Erinnerungen keine objektiven Abbilder von vergangenen Wahrnehmungen, geschweige denn einer vergangenen Realität [sind]. Es sind subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen. Erinnern ist eine sich in der Gegenwart vollziehende Operation des Zusammenstellens (re-member) verfügbarer Daten.[2]

Die Erinnerung ist immer einem Abgleich mit der Gegenwart unterworfen. Es ist unmöglich, sich objektiv zu erinnern, ohne dass die Erinnerung einen subjektiven Filter der Gegenwart passieren muss.

2.2. Individuelle Konstruktion der Vergangenheit

Erinnerungen sehr individuell, allerdings kann man objektive Merkmale beschreiben, die auf alle Erinnerungen zutreffen. Sie sind perspektivisch, das heißt „jedes Individuum besetzt mit seiner Lebensgeschichte einen eigenen Platz mit einer je spezifischen Wahrnehmungsposition“.[3] Daraus ergibt sich, dass Erinnerungen von mehreren Menschen bestimmte Überschneidungen haben, aber nie identisch sind. Erinnerungen existieren nicht isoliert, sie sind mit den Erinnerungen anderer vernetzt.

Durch ihre auf Kreuzung, Überlappung und Anschlussfähigkeit angelegte Struktur bestätigen und festigen sie sich gegenseitig. Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz und Glaubwürdigkeit, sondern wirken auch verbindend und gemeinschaftsbildend.[4]

Erinnerungen sind ferner fragmentarisch. Wenn man sich an etwas erinnert, sind es „in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher“[5]. Erst wenn man die Erinnerung erzählt, zum Beispiel als Geschichte, bekommt die Erinnerung eine Form. Da die Erinnerung an das Individuum gebunden ist, ist sie flüchtig und labil. Erinnerungen können vom Individuum erzählt werden, solange es lebt. Im Laufe des Lebens ändert sich die Bewertung von Erinnerungen: Was früher unwichtig erschien, kann heute wichtig erscheinen und ebenso andersherum. Wenn eine Erinnerung schriftlich fixiert wird, zeigt der Text nur, wie die Erinnerung zum Zeitpunkt des Schreibens war.

Zusammenfassend gesagt: Das individuelle Gedächtnis, in dem die Erinnerungen gespeichert werden, ist „das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung.“[6]

Des Weiteren sind Erinnerungen immer an einen bestimmten Zeithorizont gebunden, welcher durch den Wechsel der Generationen bestimmt wird. Durch familiäre Kommunikation nehmen „Kinder und Enkel (..) einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren Erinnerungsschatz auf, in dem sich selbst Erlebtes und Gehörtes überkreuzen.“[7] Dieses Drei-Generationen-Gedächtnis löst sich nach achtzig bis hundert Jahren wieder auf, „um im fließendem Wechsel den Erinnerungen nachfolgender Generationen Platz zu machen“.[8]

Vom individuellem Gedächtnis, das Assmann als das kommunikative Gedächtnis bezeichnet, lässt sich das kulturelle Gedächtnis unterscheiden. Es handelt sich dabei „um eine an feste Objektivationen gebundene, hochgradig gestiftete und zeremonialisierte, v.a. in der kulturellen Zeitdimension des Festes vergegenwärtigte Erinnerung“.[9] Man kann es als „Gesellschaftsgedächtnis“ ansehen. Damit ist die „Tradition in uns“ gemeint, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild präg[t].[10]

Das kollektive Gedächtnis kann man als Wechselspiel zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis verstehen:

Der Begriff des kollektiven Gedächtnis verweist darauf, wie sehr das individuelle Gedächtnis kollektiv geprägt ist: Selbst persönliche Erinnerungen entstehen nicht unabhängig von der Interaktion in sozialen Gruppen. Die Gruppe wirkt dabei wie ein Filter oder Rahmen.[11]

Für den Verlauf der Arbeit sind diese Vorüberlegungen wichtig. W.G. Sebald ist 1944 und Jonathan Littell 1967 geboren. Beide haben die Zeit, zu der ihre Protagonisten überwiegend gelebt haben, nicht selbst erlebt. Sie sind auf Erinnerungen von anderen angewiesen, wobei die Autoren sich jeweils unterschiedlich dem Fremden Erinnerungsmaterial nähern: Sebald arrangiert seine Geschichten mit Hilfe von Fundstücken, wohingegen Littell seine Geschichte um historische Fakten herum konstruiert.

2.3. Arten der Erinnerung

In den Werken von Sebald und Littell sind Erinnerungen das Gerüst für den Inhalt. Wie zuvor beschrieben, handelt es sich nicht um Erinnerungen der Autoren, sondern um geliehene Erinnerungen.

Gerade da diese geliehen sind und demnach bewusst von den Autoren verwendet werden, stellt sich die Frage nach der Qualität der Erinnerung aus Sicht des Rezipienten.

Einen Ansatz bietet in dieser Hinsicht der Essay Proust von Samuel Beckett. Fällt im Zusammenhang mit Proust das Wort Erinnerung, wird zwangsläufig die „Madeleine“ erwähnt:

In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog.[12]

Ein belangloses Stück Gebäck löst eine Kette von Erinnerungen aus, die eventuell nicht durch den reinen Versuch des willentlichen Erinnerns entstanden wären.

Dies ist ein Mechanismus, der sich besonders durch die Werke von Sebald, aber auch durch Die Wohlgesinnte n zieht. Auf der einen Seite die mémoire involontaire, die unwillentliche Erinnerung, die ohne eigenes Zutun, durch ein souvenier involontaire, etwas auslöst, was dem Gedächtnis innewohnt. Auf der anderen Seite die mémoire volontaire, die willentliche Erinnerung, bei der bewusst bzw. willentlich eine Erinnerung aus dem Gedächtnis heraufbeschworen wird.

Beckett schreibt den beiden Weisen der Erinnerung verschiedene Werte zu: Die

willentliche Erinnerung (...) ist als Instrument der Evokation wertlos und vermittelt ein Bild, das vom Realen so weit entfernt ist, wie der Mythos unserer Einbildungskraft oder die Karikatur, die von der direkten Wahrnehmung geliefert wird.[13]

Die besondere Qualität der willentlichen Erinnerung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Erinnerung ein stückweit vorbestimmt, weil wenn man sich willentlich an etwas erinnern möchte, schon eine bestimmte Vorstellung hat, wie diese Erinnerung aussehen soll. Der „Filter der Gegenwart“ ist in diesem Fall aktiv und lässt kein objektives Erinnern zu.

Das russische Sprichwort, „Er lügt wie ein Augenzeuge“ verdeutlicht volkstümlich, dass selbst wenn jemand persönlich Zeuge eines Ereignisses war, es in der erzählenden Wiedergabe subjektiv so verfälscht sein kann, dass es keine Garantie für den Wahrheitswert der Schilderung gibt.

Die willentliche Erinnerung ist die gleichförmige Erinnerung des Verstandes, und man kann sich darauf verlassen, daß sie zu unserer gefälligen Ansicht diejenigen Eindrücke der Vergangenheit wiedergibt, die bewusst und verstandesmäßig gebildet wurden. (...) Das Material, das sie liefert, enthält nichts von der Vergangenheit, nur eine –einst weggerückte- verwischte und gleichförmige Projektion unserer Angst und unseres Opportunismus – das heißt also nichts.[14]

Im Gegensatz dazu steht die unwillentliche Erinnerung, ausgelöst durch ein souvenier involontaire, prototypisch die Proustsche Madeleine. Die unwillentliche Erinnerung „wählt sich ihre eigene Zeit und ihren eigenen Ort für die Vorführung ihres Wunders.“[15] Wenn das Wunder passiert, dann ist die

unwillentliche Erinnerung explosiv, «ein unmittelbares, alles umfassendes und köstliches Aufflammen». Sie stellt sich nur das vergangen Objekt wieder her, sondern den Lazarus, den es verzauberte oder marterte, nicht nur den Lazarus und das Objekt, sondern mehr, weil weniger, mehr, weil sie das Nützliche, das Opportune, das Zufällige abstrahiert, weil sie in ihrer Flamme die Gewohnheit und all ihre Werke verzehrt und in ihrer Helligkeit das offenbart hat, was die karikaturhafte Realität der Erfahrung niemals offenbaren kann und wird: das Reale.[16]

Das Reale wird zufällig wiedererfahren. „Prousts ganze Welt steigt aus einer Teetasse auf, nicht Combray und seine Kindheit.“[17] Genau diese Art der Erinnerungen ist, was noch zu zeigen sein wird, ein wichtiges Motiv bei Sebald, insbesondere bei der Figur Austerlitz.

Dass Sebald sich auf Proust bezieht, ist evident. Der Band „Sebald. Lektüren.“ von Marcel Atze und Franz Loquai, widmet sich der Analyse der Arbeitsbibliothek von Sebald. Anhand der Randnotizen, die Sebald machte, kann man den Einfluss der Suche nach der verloren Zeit auf seine Werke, insbesondere bei Austerlitz, zeigen.

Sebald hat, wie erwähnt, Prousts Recherche bereits Anfang der sechziger Jahre gelesen und dann, den Randnotizen aus seinen Arbeitsexemplaren zu schließen, mindestens ein weiteres Mal zu der Zeit, als er mit der Vorbereitung oder Niederschrift von Austerlitz befaßt war.[18]

Eine handschriftliche Bleistift-Notiz Sebalds auf der letzten Seite von Prousts „Die Wiedergefundene Zeit 2“, beschreibt die grobe Gliederung von Austerlitz in fünf Stichwörtern: „Liverp-Street Projekt – Waiting Room – Krise – Rekonstr. – Th´stadt“.[19]

Der Wartesaal der Liverpool Street Station, in den Austerlitz, der Protagonist aus Austerlitz, zufällig gelangt, ist der Ort, an dem sich jener das erste Mal an seine Kindheit erinnert. Die Erinnerungen sind an diesen Ort gebunden und prasseln dann unwillentlich auf Austerlitz ein.

Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstreckte es sich über die gesamte Ebene der Zeit.[20]

In diesem Wartesaal sieht Austerlitz zwei Personen mittleren Alters, die im Stil der dreißiger Jahre gekleidet sind. Seine Pflegeeltern, die gekommen sind um einen Knaben, ihn, abzuholen. Aufgrund des Rucksacks, den auch der alte Austerlitz noch immer bei sich trägt, erkennt dieser sich selbst.

So aber erkannte ich ihn, des Rucksäckchens wegen, und erinnerte mich zum ersten Mal, soweit ich zurückdenken konnte, an mich selber in dem Augenblick, in dem ich begriff, daß es in diesem Wartesaal gewesen sein mußte, daß ich in England angelangt war vor mehr als einem halben Jahrhundert.[21]

Diese Erkenntnis löst in Austerlitz eine Art Schockzustand aus, nach Sebalds Bleistift-Notiz „eine Krise“.

Den Zustand, in den ich darüber geriet, sagte Austerlitz, weiß ich, wie so vieles, nicht genau zu beschreiben; es war ein Reißen, das ich in mir verspürte, und Scham und Kummer, oder ganz etwas anderes, worüber man nicht reden kann, weil dafür die Worte fehlen, so wie mir die Worte damals gefehlt haben, als die zwei Fremden Leute auf mich zutraten, deren Sprache ich nicht verstand.[22]

Bei Littell gibt es wenige Momente, in denen der Protagonist, Maximilian Aue, an Passagen seiner Kindheit erinnert. Dabei wird der Auslöser etwas drastischer beschrieben, als bei Sebald.

Diese großen zerstörten Wohngebäude, in denen letzten Sommer noch Tausende von Menschen Familien das alltägliche gewöhnliche Leben aller Familien gelebt hatten, ohne zu ahnen, dass bald Soldaten zu sechst in ihren Ehebetten schlafen, sich den Hintern mit ihren Vorhängen oder Laken abwischen, sich mit Spatenhieben in ihren Küchen massakrieren und ihre Badewannen mit Leichen der getöteten Soldaten vollstopfen würden, diese Wohngebäude erfüllten mich mit einer unbegründeten, bitteren Angst; und durch diese Angst hindurch stiegen immer häufiger Bilder aus der Vergangenheit auf, wie Ertrunkene nach einem Schiffbruch. Oft waren es erbärmliche Erinnerungen.[23]

Im Kern ist Die Wohlgesinnten ein Roman, der sich auf eine fiktionale willentliche Erinnerung stützt. Das einleitende Kapitel beginnt: „Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.“[24]. Der Protagonist hat sich an seinen Schreibtisch gesetzt und einen Teil seiner Lebensgeschichte aufgeschrieben.

So gesehen, ist das Schreiben ein Zeitvertreib wie jeder andere auch.[...] Ich habe, wie man so sagt, Beruf und Familie, mithin Verpflichtungen, all das kostet Zeit, lässt kaum welche, um seine Erinnerungen zu schreiben. Und Erinnerungen habe ich in Hülle und Fülle. Ich bin geradezu eine Erinnerungsfabrik. Am Ende werde ich ein ganzes Leben damit verbracht haben, Erinnerungen zu fabrizieren [...].[25]

Die Metapher vom Protagonisten als Erinnerungsfabrik verdeutlicht, dass seine Erinnerungen gezielt, also willentlich, hergestellt werden.

Die literarische Annäherung an die Vergangenheit geschieht alsobei Sebald offenbar durch die unwillentliche und bei Littell durch die willentliche Erinnerung.

3. W.G. Sebald

Am 18.5.1944 ist Winfried Georg Sebald in Wertach im Allgäu geboren. Von 1963 bis 1966 studierte Sebald Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Freiburg/Breisgau und Friborg/Schweiz. Weitere Stationen in Manchester, St. Gallen und Norwich. 1973 Dissertation über Alfred Döblin, 1986 Habilitation an der Universität mit „Die Beschreibung des Unglücks“. 1990 Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, 1992 Veröffentlichung von Die Ausgewanderten und 2001 Veröffentlichung von Austerlitz. Am 14.12.2001 verstarb Sebald bei einem Autounfall in der Nähe von Norwich.

Die Untersuchung zu W.G. Sebald ist wie folgt aufgebaut: Eingangs wird das System nach dem Sebald schrieb, die Bricolage, vorgestellt. Anschließend wird untersucht, inwiefern Sebald die Vergangenheit literarisch aufarbeitet. Die literarischen Instrumente, die Sebald dazu nutzt, sind neben der Bricolage vor allem die Intertextualität. Die Werke Die Ausgewanderten und Austerlitz werden hinsichtlich dieser Instrumente untersucht. Abschließend wird Sebalds Selbstverständnis seiner literarischen Arbeit, der Versuch der Restitution, besprochen.

3.1. Bricolage

Ich arbeite nach dem System der Bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Da ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.[26]

Das „intellektuelle Basteln“, auf französisch bricolage wird von Lévi-Strauss in der Figur des Bastlers, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind, illustriert.[27] Der Bastler muss dabei auf das Material zurückgreifen, das ihm zur Verfügung steht. Demnach sammelt er Dinge und

je nach Bedarf löst er sie aus ihrem alten Zusammenhang, wobei sie Teile ihres ursprünglichen Verwendungszweckes bewahren können. Die Tätigkeit des Bastlers ist also ein unabschließbarer Prozess von Zerlegung und Rekombination, von Analyse und Synthese.[28]

Sebalds Texte werden immer wieder durch Fotografien oder Abbildungen von Gegenständen durchbrochen. Sebald hat Bilder und Kuriositäten offensichtlich gesammelt, wie z.B. eine Wecker-Teekocher-Kombination namens teas-maid, um Ausgangspunkte für seine Erzählungen zu finden.

Sebald bastelt intellektuell nicht nur mit abbildbaren Gegenständen, er verbaut auch Teile von authentischen Biographien. Am auffälligsten ist das bei der Figur Austerlitz, die aus zwei Lebensläufen montiert wurde. Sebald sagte dazu „daß sie sowohl auf seinem eigenen Vermieter in Manchester in den sechziger Jahren beruht als auch auf einen sehr bekannten Maler, in dem manche Frank Auerbach erkannt haben wollen.“[29]

Sebalds Art zu schreiben kann man anhand eines Ebenenmodells verdeutlichen. Es wird von einem Bild, Objekt oder Dokument ausgegangen (1.Ebene), als Basis (Denotat). Die bereits erwähnte teas-maid hat es tatsächlich gegeben. Dass dieser Gegenstand eine Geschichte hat, es Menschen gibt oder gab, die Erinnerungen mit dieser einer auf dem Foto abgebildeten teas-maid haben, wird zweitrangig, weil es nur um den Gegenstand an sich geht.

Die teas-maid wird aus ihrem eigentlichen Umfeld herausgenommen um in einer Rekombination mit anderen Gegenständen die Basis für die Geschichte des Max Aurach in Die Ausgewanderten zu bilden.

Als Endprodukt soll eine Narration (3.Ebene) auf Basis der 1.Ebene entstehen. Hier kann der teas-maid, durch den Autor, eine neue Identität oder einfach nur ein neuer Besitzer gegeben werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zwischen den dem Ausgangspunkt der 1. Ebene und dem Endprodukt liegt die 2. Ebene. Man kann die sie als Lücke ansehen, die geschlossen werden muss. Dies geschieht durch Erinnerungen, die verschriftlicht werden.

Ob die Erinnerungen fiktiv sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Die Erinnerungen sind die Verbindungslinien, die die Bilder oder Objekte zueinander in Beziehung setzen.

Tabelle nach Lachmann[30]

3.2. Die Ausgewanderten

Der Klappentext von Die Ausgewanderten lautet: „W.G. Sebald schildert die Lebens- und Leidensgeschichte von vier aus der europäischen Heimat vertriebenen Juden, die im Alter an ihrer Untröstlichkeit zerbrechen.“ Das stimmt nur teilweise. Ambros Adelwarth ist weder Jude noch vertrieben worden und Paul Bereyter ist Dreiviertelarier und hat Europa nie verlassen.

In Die Ausgewanderten ist die Erzählstruktur aller vier Erzählungen gleich angelegt. Ein Erzähler kommt auf verschiedene Weisen in Kontakt mit der Person, die der Erzählung den Namen gibt. In der ersten Erzählung ist es der Vermieter des Erzählers, in der zweiten der verstorbene ehemalige Volksschullehrer, in der dritten ein Großonkel und in der letzten Erzählung ein Maler, den der Erzähler zufällig kennenlernt.

Die Figuren kommen „in den Erzählungen über ihr Leben, ihre Erinnerung über weite Strecken selbst zu Wort oder aber Menschen bzw. Figuren, die die Protagonisten gekannt haben, erzählen über sie.“[31]

Der Duktus, in dem Die Ausgewanderten erzählt wird, ist

häufig derjenige der Mündlichkeit[..], zumal dieser Kunstgriff der literarischen Fingierung von Mündlichkeit imstande ist, einen gesteigerten Realismus und den Eindruck der Authentizität zu erzeugen und die Illusion einer „Sprache der Nähe“ zu erzeugen.[32]

[...]


[1] Beckett, Samuel: Proust. Frankfurt am Main: Sammlung Luchterhand. 1989. S.26

[2] Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: J.B.Metzler 2005. S.7.

[3] Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck. 2006. S. 24

[4] ebd. S.24

[5] ebd. S.25

[6] ebd. S.25

[7] Assmann 2006. S.26

[8] ebd. S.26

[9] Erll 2005, S.28

[10] Assmann, Jan:Das kulturelle Gedächtnis. In:Thomas Mann und Ägypten. München: C.H. Beck. 2006. S. 70.

[11] http://www.bpb.de/themen/6FU9UY,0,Begriffe_und_Definitionen.html

[12] Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In Swanns Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S.63

[13] Beckett 1989. S.12

[14] ebd. S.28

[15] ebd. S.29

[16] Beckett 1989. S.29

[17] ebd. S.30.

[18] Loquai, Franz: Max und Marcel. Eine Betrachtung über die Erinnerungskünstler Sebald und Proust. In: Sebald. Lektüren. Marcel Atze/Franz Loquai(Hrsg.). Eggingen: Edition Isele. 2005. S.215

[19] ebd. S.213

[20] Sebald, W.G. : Austerlitz. München: Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH. Textfassung der 2001 im Carl Hanser Verlag erschienenen deutschsprachigen Erstausgabe. 2008. S. 196

[21] ebd. S.197

[22] ebd. S.197f.

[23] Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin: Berliner Taschenbuchverlag. 2009. S.545

[24] ebd. S.9

[25] ebd. S.10

[26] W.G. Sebald im Interview mit Sigrid Löffler in : Löffler, Sigrid: „Wildes Denken“ – Gespräch mit W.G. Sebald. In: Loquai,Franz(Hg): W.G. Sebald. Porträt. Eggingen: Edition Isele 1997. S.136

[27] Vgl. Seitz, Stephan : Geschichte als bricolage – W.G. Sebald und die Poetik des Bastelns. Göttingen: V&R unipress. 2011. S.67

[28] ebd. S.68

[29] Schedel, Suanne : „Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?“ Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald. Würzburg: Königshausen&Neumann GmbH. 2004.S.128

[30] Lachmann, Tobias: Archäologie oder Restauration In: Im Krebsgang. Strategien des Erinnerns in den Werken von Günther Grass und W.G. Sebald. Iserlohn: Tagungsprotokolle – Institut für Kirche und Gesellschaft. 2006. S.82

[31] Schedel 2004, S.129

[32] ebd.

Ende der Leseprobe aus 68 Seiten

Details

Titel
Verschiedene Weisen die Vergangenheit literarisch aufzuarbeiten.
Untertitel
W.G. Sebald und Jonathan Littell im Vergleich
Hochschule
Universität Münster
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
68
Katalognummer
V203925
ISBN (eBook)
9783656310297
ISBN (Buch)
9783656310655
Dateigröße
2260 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
verschiedene, weisen, vergangenheit, sebald, jonathan, littell, vergleich
Arbeit zitieren
Thorsten Gawollek (Autor:in), 2011, Verschiedene Weisen die Vergangenheit literarisch aufzuarbeiten. , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203925

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Verschiedene Weisen die Vergangenheit  literarisch aufzuarbeiten.



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden