„Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur“ (1969) von Victor Turner ist ein Klassiker der Anthropologie, der in keinem studentischen Bücherregal fehlen sollte. Das Buch setzt sich aus fünf Teilen zusammen. Drei Vorlesungen Turners bilden die ersten Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit dem Isoma-Ritual der Ndembu und seinen Klassifikationsebenen. Im zweiten geht Turner auf die Paradoxie des Zwillingsphänomens im Ndembu-Ritual ein. Daran anschließend führt er die Begriffe „Liminalität“ sowie „Communitas“ ein. Dabei spannt er den Bogen von den afrikanischen Ritualen zur restlichen Welt. Im vierten Kapitel geht Turner näher auf sein „Konzept der Communitas“ ein und betont seine Vorstellung von der Gesellschaft als Prozess. Abschließend setzt er Communitas in Verbindung mit Außenseitertum sowie Unterlegenheit in der Sozialstruktur und erläutert die Bedeutung von Ritualen der Statuserhöhung/Statusumkehrung. Seine theoretischen Annahmen unterstreicht Turner mit Beispielen aus unterschiedlichen Gesellschaften.
Doch wer war Victor Turner eigentlich? Als Sohn eines Elektroingenieurs und einer Schauspielerin kam Victor Witter Turner am 28. Mai 1920 in Glasgow (Schottland) zur Welt. Der Dualismus zwischen Wissenschaft und Kunst sollte ihn sein ganzes Leben lang begleiten. Im Department of Anthropology der Universität London studierte Turner Ethnologie. Nachdem er sein Studium mit dem B.A. abschloss, holte ihn Max Gluckman an sein Department in Manchester, wo sich später die „Manchester School“ als eigene Richtung der britischen Sozialanthropologie herausbildete. Im Auftrag des Rhodes Livingston Institutes in Lusaka führte Turner gemeinsam mit seiner Frau Edie zwischen den Jahren 1950 und 1954 Feldforschungen bei den Ndembu in Sambia durch, die ihm viel Anerkennung einbrachten. Später lehrte Victor Turner an verschiedenen Universitäten in den USA bis er am 18. Dezember 1983 an einem Herzinfarkt starb.
Im Folgenden werde ich auf der Basis des Buches „Das Ritual“ Turners Theoriekonzept vorstellen und die wichtigsten Begriffe genauer definieren. Daran anschließend widme ich mich der Kritik an Turners Werk. Im darauffolgenden Kapitel werde ich am Beispiel der Folterer- und Spezialsoldatenausbildung die Charakteristika von Liminalität nach Turner veranschaulichen, um schließlich die Frage zu erörtern, ob Victor Turner zur Idealisierung neigte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Turners Theoriekonzept
3. Kritik an Turner
4. Militärische Ausbildung als Ritual der Statuserhöhung
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur“ (1969) von Victor Turner ist ein Klassiker der Anthropologie, der in keinem studentischen Bücherregal fehlen sollte. Das Buch setzt sich aus fünf Teilen zusammen. Drei Vorlesungen Turners bilden die ersten Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit dem Isoma-Ritual der Ndembu und seinen Klassifikationsebenen. Im zweiten geht Turner auf die Paradoxie des Zwillingsphänomens im Ndembu-Ritual ein. Daran anschließend führt er die Begriffe „Liminalität“ sowie „Communitas“ ein. Dabei spannt er den Bogen von den afrikanischen Ritualen zur restlichen Welt. Im vierten Kapitel geht Turner näher auf sein „Konzept der Communitas“ ein und betont seine Vorstellung von der Gesellschaft als Prozess. Abschließend setzt er Communitas in Verbindung mit Außenseitertum sowie Unterlegenheit in der Sozialstruktur und erläutert die Bedeutung von Ritualen der Statuserhöhung/Statusumkehrung. Seine theoretischen Annahmen unterstreicht Turner mit Beispielen aus unterschiedlichen Gesellschaften.1
Doch wer war Victor Turner eigentlich? Als Sohn eines Elektroingenieurs und einer Schauspielerin kam Victor Witter Turner am 28. Mai 1920 in Glasgow (Schottland) zur Welt. Der Dualismus zwischen Wissenschaft und Kunst sollte ihn sein ganzes Leben lang begleiten. Im Department of Anthropology der Universität London studierte Turner Ethnologie. Nachdem er sein Studium mit dem B.A. abschloss, holte ihn Max Gluckman an sein Department in Manchester, wo sich später die „Manchester School“ als eigene Richtung der britischen Sozialanthropologie herausbildete. Im Auftrag des Rhodes Livingston Institutes in Lusaka führte Turner gemeinsam mit seiner Frau Edie zwischen den Jahren 1950 und 1954 Feldforschungen bei den Ndembu in Sambia durch, die ihm viel Anerkennung einbrachten. Später lehrte Victor Turner an verschiedenen Universitäten in den USA bis er am 18. Dezember 1983 an einem Herzinfarkt starb.2
Im Folgenden werde ich auf der Basis des Buches „Das Ritual“ Turners Theoriekonzept vorstellen und die wichtigsten Begriffe genauer definieren. Daran anschließend widme ich mich der Kritik an Turners Werk. Im darauffolgenden Kapitel werde ich am Beispiel der Folterer- und Spezialsoldatenausbildung die Charakteristika von Liminalität nach Turner veranschaulichen, um schließlich die Frage zu erörtern, ob Victor Turner zur Idealisierung neigte.
2. Turners Theoriekonzept
Victor W. Turner beruft sich in seinem Buch „Das Ritual“ auf das Konzept der Übergangsriten des französischen Ethnologen Arnold van Gennep. Als Übergangsriten bezeichnet van Gennep „Riten, die einen Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel begleiten.“3 Sie weisen immer die folgenden drei Phasen auf: Trennungs-, Schwellen- und Angliederungsphase. Während das Individuum (oder die Gruppe) in der ersten Phase von der Sozialstruktur getrennt wird, erfolgt zum Schluss eine Wiedereingliederung in selbige. Turner legt seinen Schwerpunkt auf die mittlere, die Schwellenphase, auch Liminalität genannt. Diese Phase stellt einen Bereich dar, der wenig oder gar nichts mit dem vergangenen oder zukünftigen Zustand gemeinsam hat.4 Personen, die sich im Schwellenzustand befinden, werden Schwellenwesen genannt und sind „betwixt and between“5 - weder das eine noch das andere. Sie sind gekennzeichnet durch Anonymität, Demut, Passivität, Geschlechtslosigkeit, sexuelle Enthaltsamkeit und Unbestimmtheit. Die Schwellenwesen sind oftmals körperlichen Torturen ausgesetzt und müssen strikten Gehorsam leisten. Außerdem besitzen sie nichts, was auf eine Rolle in der Sozialstruktur verweist. Aufgrund dieser Gleichstellung entwickelt sich unter den Schwellenwesen eine tiefe Verbundenheit.6 Turner führt in seinem Buch die zwei wichtigsten Typen des Schwellendaseins an: Rituale der Statuserhöhung sowie der Statusumkehrung. Bei Ritualen der Statuserhöhung wird das Ritualsubjekt irreversibel in eine höhere Position in der Sozialstruktur gehoben. Dies geschieht z.B. bei Riten der Lebenskrisen (Geburt, Pubertät, Heirat, Tod) oder Amtseinführungsritualen. Während diese Rituale meist nur Einzelpersonen betreffen, beziehen sich Rituale der Statusumkehrung immer auf große Gruppen. Dazu gehören u.a. jahreszeitliche bzw. kalendarische Riten. Hierbei üben Personen, die in der Sozialstruktur normalerweise einen niederen Status innehaben, Autorität über ihre strukturell Überlegenen aus. Letztlich ändert aber keiner der Teilnehmenden seinen Status wirklich, sondern die Strukturordnung bleibt erhalten.7
Laut Turner entsteht unter den Schwellenwesen eine Gemeinschaftlichkeit, die er Communitas nennt. Darunter versteht er „Gesellschaft als unstrukturierte oder rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft.“8 Communitas steht im Gegensatz zur Struktur, kann jedoch nicht über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben und bildet aus diesem Grund meist selbst eine Struktur.9 Communitas und Struktur stellen laut Turner die „zwei Haupt-»Modelle« menschlicher Sozialbeziehungen [dar], die nebeneinander bestehen und einander abwechseln.“10
3. Kritik an Turner
„Das Ritual“ von Victor Turner gehört ohne Zweifel zu den Klassikern der Anthropologie. Doch erntete der britische Ethnologe damit nicht nur Bewunderung. Es gab auch einige kritische Stimmen. Paola Ivanov bezeichnet Turner als „spekulativen Philosophen“11, dessen Erörterungen weitläufig und unsystematisch seien. Seine Ergebnisse, die er durch Deduktion erzielt, seien zudem beliebig übertragbar.12 Victor Turners Versuch, seine Theorie auch auf komplexe Gesellschaften anzuwenden, ist ihm auf jeden Fall hoch anzurechnen. Jedoch kritisiert Ivanov, dass diese Bemühungen „unpräzise, unplausibel und immer weniger empirisch verankert“13 seien.
Bei der Lektüre des Werkes fällt dem Leser des weiteren Turners Vorliebe zur Idealisierung auf. Zum Beispiel ist es kein Muss, dass während der liminalen Phase Kreativität zum Ausdruck kommt. Weiterhin verharmlost er die Torturen, welche die Neophyten in Übergangsritualen erleiden müssen.14 Außerdem beachtet Turner nicht, „daß Gemeinschaftserleben sich auch in ein Massenverhalten wandeln kann, in dem das Fest zum Pogrom wird, und aus einem gemeinschaftlichen <Wir> Haß gegen <Andere> erwachsen kann [...].“15
Im folgenden Kapitel werde ich zunächst an einem Beispiel aus einer komplexen Gesellschaft Turners Konzept der Liminalität zur Anwendung bringen und gleichzeitig zeigen, dass eine Statuserhöhung nicht zwangsläufig positiv sein muss.
4. Militärische Ausbildung als Ritual der Statuserhöhung
Victor Turner spricht in seinen Ausführungen zur Statuserhöhung in westlichen Gesellschaften u.a. von Härtetests bei der Aufnahme in Militärakademien.16 Diesen Punkt möchte ich in diesem Kapitel aufgreifen und weiter ausführen.
[...]
1 Vgl. Turner 2005[1969]: 203f.
2 Vgl. Bräunlein 2006: 91f.
3 Turner 2005: 94.
4 Vgl. Turner 2005: 94.
5 Titel eines Vortrags von Turner (1963)
6 Vgl. Turner 2005: 95; 102f.
7 Vgl. Turner 2005: 160f.
8 Turner 2005: 96.
9 Vgl. Turner 2005: 129.
10 Turner 2005: 96.
11 Turner 2005: 205.
12 Vgl. Ivanov 1993: 243.
13 Turner 2005: 205.
14 Vgl. Bräunlein 1997: 340.
15 Bräunlein 1997: 340.
16 Vgl. Turner 2005: 164.
- Quote paper
- Anonymous,, 2010, Die militärische Ausbildung als Ritual der Statuserhöhung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203937
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