In dieser Seminararbeit soll der Fragestellung „Reflektiert Gerhart Hauptmann in seinem
Werk „Bahnwärter Thiel“ die veränderten Lebensbedingungen durch den technischen Fortschritt
zur Zeit der Industrialisierung?“ anhand von expliziten Beispielen nachgegangen werden.
Anfänglich werde ich für ein besseres Verständnis die gesellschaftlichen Folgen der Industriellen
Revolution skizzieren, bevor ich überprüfe, ob diese in der Novelle, die 1888 erschienen
ist, thematisiert werden. Die Auseinandersetzung mit der psychischen Verfassung des Protagonisten
Thiels sowie mit der Sprach-, Symbol- und Motivgestaltung des Textes stehen dabei
im Mittelpunkt. Am Ende werde ich kurz den Bezug dessen zur epochalen Einordnung
aufzeigen.
Der hinterlassene Text von Gerhart Hauptmann besitzt ohne Frage bis heute einen besonderen
Stilcharakter, der viele Rätsel aufgibt und den Lesern nicht gleich eine eindeutige Interpretationslenkung
aushändigt.
„Spiegelt Hauptmann das Leben der Gesellschaft im ausgehenden 19.Jahrhundert durch das
Medium der Literatur wider?“
„Möchte er auf die Folgen einer fehlenden Technikphilosophie, die die Frage ,Führen technologische
Innovationen immer zu einem besseren Leben oder kann Technik auch gefährlich
werden und uns beherrschen‘ stellt, aufmerksam machen?“
Als wissenschaftliche Grundlage zur Klärung dieser Fragen dient primär Hauptmanns novellistische
Studie „Bahnwärter Thiel“. Aber auch andere Autoren und ihre Arbeiten, unter anderem
Lothar Wieses „Gerhart Hauptmann“, Markus Krauses „Poesie & Maschine“, Rolf
Füllmanns „Einführung in die Novelle“, Silvia Nögers „Technikbewertung und Technikbewältigung
in der deutschsprachigen Literatur seit 1850“5 sowie Oswald Spenglers „Der
Mensch und die Technik“ sollen zur Beantwortung der Fragestellung herangezogen werden,
um Fachleute und deren Meinungen zu integrieren.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Folgen der Industrialisierung
3 Anwendung auf Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“
3.1 Thiel – Symbolfigur für die Anonymitäts- und Entfremdungserfahrung der Gesellschaft
3.2 Darstellung der Natur und Technik als Spiegelbild der Psyche Thiels
4 Epochale Einordnung des Werkes
5 Schlussbemerkung
LITERATURVERZEICHNIS
1 Einleitung
In dieser Seminararbeit soll der Fragestellung „Reflektiert Gerhart Hauptmann in seinem Werk „Bahnwärter Thiel“ die veränderten Lebensbedingungen durch den technischen Fortschritt zur Zeit der Industrialisierung?“ anhand von expliziten Beispielen nachgegangen werden.
Anfänglich werde ich für ein besseres Verständnis die gesellschaftlichen Folgen der Industriellen Revolution skizzieren, bevor ich überprüfe, ob diese in der Novelle, die 1888 erschienen ist, thematisiert werden. Die Auseinandersetzung mit der psychischen Verfassung des Pro- tagonisten Thiels sowie mit der Sprach-, Symbol- und Motivgestaltung des Textes stehen dabei im Mittelpunkt. Am Ende werde ich kurz den Bezug dessen zur epochalen Einordnung aufzeigen.
Der hinterlassene Text von Gerhart Hauptmann besitzt ohne Frage bis heute einen besonderen Stilcharakter, der viele Rätsel aufgibt und den Lesern nicht gleich eine eindeutige Interpretationslenkung aushändigt.
„Spiegelt Hauptmann das Leben der Gesellschaft im ausgehenden 19.Jahrhundert durch das Medium der Literatur wider?“
„Möchte er auf die Folgen einer fehlenden Technikphilosophie, die die Frage ,Führen technologische Innovationen immer zu einem besseren Leben oder kann Technik auch gefährlich werden und uns beherrschen‘ stellt, aufmerksam machen?“
Als wissenschaftliche Grundlage zur Klärung dieser Fragen dient primär Hauptmanns novellistische Studie „Bahnwärter Thiel“[1]. Aber auch andere Autoren und ihre Arbeiten, unter anderem Lothar Wieses „Gerhart Hauptmann“[2], Markus Krauses „Poesie & Maschine“[3], Rolf Füllmanns „ Einführung in die Novelle“[4], Silvia Nögers „Technikbewertung und Technikbewältigung in der deutschsprachigen Literatur seit 1850“[5] sowie Oswald Spenglers „Der Mensch und die Technik“[6] sollen zur Beantwortung der Fragestellung herangezogen werden, um Fachleute und deren Meinungen zu integrieren.
2 Folgen der Industrialisierung
Während der industriellen Revolution, in der eine konkrete Reflexion anhand einer Technikphilosophie fehlte, kam es zu einer Technologisierung des Alltags. Der Einsatz technischer Artefakte ermöglichte die Einführung von Massenanfertigungen, die die Produktionsstandards vereinheitlichten sowie den Ausbau der Infrastruktur anhand neuer Handelswege. Der Mensch war zu diesem Zeitpunkt kaum noch von der Natur abhängig.
In Deutschland besaß der Eisenbahnbau eine Multiplikatorwirkung, denn mit dieser technischen Innovation stieg auch die Nachfrage nach Schienen sowie der Bedarf an Eisen, Stahl und Kohle.[7] Die höheren Ansprüche machten sich erst im Maschinenbauwesen, dann in der Elektronik bemerkbar.
Die Erfindungen und Errungenschaften dieser Zeit bewirkten aber nicht nur Positives. Sie führten zur Urbanisierung, wälzten damit die Gesellschaft um und zogen nicht selten eine Desorientierung oder Überforderung der Bevölkerung nach sich. Der Aspekt, der sozio-ökologischen Einbettung des Homo sapiens, der zugleich auch als Homo Faber bezeichnet werden könnte, besaß eine zu niedrige Priorität.[8] Den Menschen fehlten Richtlinien, die ihnen die Anpassung an die rasante Technologisierung des Alltags ermöglichten und Halt gaben. Die technische Naturwissenschaft verlangte nach einer dichterischen Begleitreflexion[9],die meines Erachtens nach in Hauptmanns Werk umgesetzt wird. Harro Segeberg, dessen Meinung ich teile, macht in seinem Buch „Literatur im Medienzeitalter“[10] auf den technikhistorischen Horizont der Literatur aufmerksam und verdeutlicht, dass Schriftsteller sich auf die Wünsche, Ängste und Hoffnungen, mit denen die Menschen an der Entwicklung der Technik seit jeher teilnehmen, einlassen und diesen Wunsch-Angst-Maschinen, die in den Köpfen der Leser existieren beliebig umbauen können.[11] Ein Werk kann somit das Befinden der Gesellschaft und deren aktuelle politische Situation widerspiegeln, diese aber auch negativ oder positiv beeinflussen. Im Bahnwärter Thiel, geschieht dies schon im ersten Absatz.
Im Verlaufe von 10 Jahren war er zwei Mal krank gewesen; das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des Vorbeifahren herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte; das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden Schnellzug mitten auf seine Brust geflogen war.[12]
Hauptmann greift also bereits am Anfang Erfahrungen und Wahrnehmungen aus seiner Epoche auf[13], thematisiert „die Mechanisierung der Welt“[14] und die Notwendigkeit einer Reflexion, die auf die Gefahren der neuen Technologie für den Menschen zur Zeit der Industrialisierung hinweist. Die Eisenbahn als Grund für die Abwesenheit Thiels, nimmt der Autor zum Anlass, den „[...] unreflektierten Technikoptimismus kritisch zu hinterfragen“[15]. An diesem Beispiel zeigt sich, dass „Dichtung auf einem allgemeinen Gesellschaftserlebnis (beruht) und so auch ihre Motive Abbild dieser kollektiven Erfahrnisse (sind)“[16].
3 Anwendung auf Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“
3.1 Thiel – Symbolfigur für die Anonymitäts- und Entfremdungserfahrung der Gesellschaft
Schon auf der ersten Seite der novellistischen Studie beschreibt Hauptmann die Einsamkeit Thiels, der nach dem Tod seiner Frau wieder alleine dasaß[17] und „[...] noch eifriger der Predigt lauschte oder sang, als er es früher getan hatte.“[18] Der Protagonist, der sich an die veränderten Begebenheiten anpassen muss, sucht Hilfe in der Religion. Dieser Rückzug in die Religiosität ist bezeichnend für das Verhalten der damaligen Bevölkerung. Im Glauben fand diese Halt. Halt in einer Gesellschaft, in der sich die Individuen erstmals so einem rasanten Fortschritt durch technische Innovationen anpassen mussten. Thiel suchte aber nicht nur in Gebeten nach Hilfe, er heiratet noch einmal und hofft so, ein familiäres Umfeld, was er seinem Sohn ermöglichen möchte, herzustellen. Die neue Frau in dem Leben des Bahnwärters heißt Lene, wird von Hauptmann als „[...] eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin [...]“[19], ein Kraftweib beschrieben und besitzt viele Charakteristika einer Maschine, die schon bei der Betrachtung ihres Namens auffallen, der sich von der griechischen Göttin Helena sowie der biblischen Gestalt Magdalena ableiten könnte. Sie ist einerseits eine herrschsüchtige Person, die versucht über Thiel zu obwalten, andererseits aber auch ein positiv konnotierter Mensch, der ihm die sexuelle Befriedigung gewährt, die er sich wünscht. Dieselben Eigenschaften besitzen oft auch technische Artefakte. Am Beispiel der Atomkraft ist dies gut zu sehen. Sie kann bei einem Unfall über die Natur dirigieren und die menschliche Existenz negieren, stillt aber auch unser Bedürfnis nach Strom. An diesem Vergleich kann man meiner Meinung nach gut sehen, dass Hauptmann durch das Lene-Thiel Verhältnis die Thematik „Maschinenlob und Maschinenfurcht, Technikbegeisterung und Technikphobie, Fortschrittspathos und Fortschrittskritik“[20] aufgreift und in sein Werk integriert.
[...]
[1] Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam 2005.
[2] Lothar Wiese: Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel. In: Bogdal, Klaus-Michael; Clemens Kammler (Hrsg.): Oldenbourg Interpretationen 108 . Oldenbourg: Oldenbourg Schulbuchverlag 2007.
[3] Markus Krause: Poesie & Maschine. Die Technik in der deutschsprachigen Literatur. Köln: Kösler 1989.
[4] Rolf Füllmann: Einführung in die Novelle. In: Bogdal, Klaus-Michael; Gunter E. Grimm (Hrsg.): Einführung Germanistik. Darmstadt: WBG 2010.
[5] Silvia Nöger: Technikbewertung und Technikbewältigung in der deutschsprachigen Literatur seit 1850. Eine Motivanalyse anhand von ausgewählten Texten. Inauguraldissertation Frankfurt am Main 2003.
[6] Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. online unter: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/spengler_mensch-technik.pdf, Datum des Zugriffs: 20.02.2012.
[7] Vgl. Dr. Hans Rößler: Die Industrialisierung. In: Friedrich Schultes (Hrsg.): Abitur Wissen. Augsburg: Weltbild 1991 (= Geschichte), S.180-186.
[8] Vgl. Andreas Metzner: Probleme sozio-ökologischer Systemtheorie. Natur und Gesellschaft in der Soziologie Lumanns. online unter: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1812/1/metznerproblemesoziokologischersystemtheorie.pdf, Datum des Zugriffs: 20.02.2012.
[9] Vgl. Harro Segeberg: Technik und Literatur. Oder: Was ist und wozu taugt eine germanistische Technikgeschichte. online unter: http://www.akademienunion.de/_files/akademiejournal/2001-1/AKJ_2001-1-S-29-32_segeberg.pdf, Datum des Zugriffs: 20.02.2012.
[10] Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. o. O.: WBG 2003.
[11] Vgl. Segeberg: Technik und Literatur. Oder: Was ist und wozu taugt eine germanistische Technikgeschichte, S. 29-32, Datum des Zugriffs: 20.02.2012.
[12] Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam 2005, S. 3.
[13] Vgl. Lothar Wiese: Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel. In: Bogdal, Klaus-Michael; Clemens Kammler (Hrsg.): Oldenbourg Interpretationen 108 . Oldenbourg: Oldenbourg Schulbuchverlag 2007, S. 15.
[14] Spengler: Der Mensch und die Technik, S. 31, Datum des Zugriffs: 20.02.2012.
[15] Nöger: Technikbewertung und Technikbewältigung in der deutschsprachigen Literatur seit 1850. Eine Motivanalyse anhand von ausgewählten Texten, S. 77. (Beschäftigung mit dieser Thematik unter anderem auch in Mary W. Shelleys „Frankenstein“ oder in Hauptmanns Werk „Atlantis“)
[16] Joseph Körner: Erlebnis-Motiv-Stoff. In: Klemperer, V.; J. Wahle (Hrsg.): Vom Geiste neuer Literaturforschung. Festschrift Oskar Walzel. Potsdam 1924, S. 80-90.
[17] Vgl. Hauptmann: Bahnwärter Thiel, S. 3.
[18] Ebd., S. 4.
[19] Ebd., S. 5.
[20] Krause: Poesie & Maschine. Die Technik in der deutschsprachigen Literatur, S. 70.
- Arbeit zitieren
- Claudia Ehrentraut (Autor:in), 2011, Reflektiert Gerhart Hauptmann in seinem Werk „Bahnwärter Thiel“ die veränderten Lebensbedingungen durch den technischen Fortschritt zur Zeit der Industrialisierung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203971