Schlaue dumme Fragen

Die Bedeutung des Sokratischen Dialogs in Platons Theätet


Forschungsarbeit, 2012

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Unsokratischer Sokratischer Dialog
1.2 Thematik und Methodik

2 Textanalyse
2.1 Ein Text unter vielen – Intertextuelle Betrachtung des ‚Theätet‘
2.2 Das Sokratische Gespräch – Intratextuelle Textanalyse
2.2.1 Setting
2.2.2 Phasencharakter
2.2.3 Ein Spiel mit offenen Karten – Das Metagespräch
2.2.4 Der Gesprächsleiter – Steuermann und Navigator
2.2.5 „Schlaue dumme Fragen“ – Die Frage als Methode

3 Dialogische Philosophie bei Platon – Ein extratextuelles Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einführung

1.1 Unsokratischer Sokratischer Dialog

Der – bei weitem nicht nur in der Philosophie bekannte – ‚Sokratische Dialog‘ scheint momentan Hochkonjunktur zu haben: Er ist zu einem bewährten Mittel der Psychotherapeutischen Praxis geworden, findet Anwendung im schulischen und universitären Unterricht und ist eine anerkannte Weiterbildungsmaßnahme für erfolgreiche Gesprächstechnik von Fach- und Führungskräften. Auch die Philosophie sieht in ihm den „Stein der Weisen“:

Das Sokratische Paradigma ist so reichhaltig und besitzt so viel Eigenständigkeit, daß es von sich heraus philosophische Erkenntnisgewinnung begründet.[1]

Dabei ist das Sokratische Paradigma in seiner heutigen Form nicht einmal das Werk seines Namensgebers, sondern das Ergebnis vielfältiger neuzeitlicher Korrekturen der antiken „Sokratischen Dialoge“, die uns durch Platon überliefert wurden. Erst die pädagogischen Modifikationen des Mathematikers Karl Weierstraß[2] und die Umstrukturierung und Explikation der impliziten „Sokrates-Technik“ durch die Philosophen Leonard Nelson[3] und Gustav Heckmann[4] machten die altgriechische Gesprächsführung für die tägliche Praxis handhabbar – und somit erst zu einer anerkannten Methode:

Ein Sokratisches Gespräch ist eine von der Erfahrung ausgehende, personenbezogene und argumentierende Suche einer Gesprächsgemeinschaft nach der Erkenntnis der Wahrheit über ein philosophisches Problem mit der Absicht, diese Wahrheitserkenntnis nach gemeinsamer Prüfung schließlich in einem konsensfähigen Urteil zu fassen.[5]

Man ist generell schnell geneigt die neuzeitliche Sokratische Dialogform auf die historische Persönlichkeit des Sokrates von Athen (469-399 v. Chr.) zurückzuführen. Doch diese Vorstellung bringt einige Probleme, aber auch einige „mysteriöse“ Phänomene mit sich: Von Sokrates sind keine eigenen schriftlichen Aufzeichnungen überliefert. Alles was wir von ihm wissen, ist Überlieferungsgut anderer griechischer Philosophen, wie Xenophon (426-355 v. Chr.) und insbesondere Platon (428-348 v. Chr.). Als bekanntester Schüler des Sokrates schrieb Platon aber keine faktische Biografie, sondern Texte, die in ihrem Aufbau dem Genre des Dramas sehr nahe stehen.[6] Dafür spricht, dass sich das in der Literaturwissenschaft etablierte ‚Dramendreieck‘ von Gustav Freytag[7] leicht auf die sokratischen Texte von Platon übertragen lässt: Es gibt ein realistisches Setting, an dem sich verschiedene Charaktere begegnen. Die Texte versprühen eine gewisse Unmittelbarkeit. In der Exposition des „platonischen Dramas“ wird ein Problem in Form einer Fragestellung aufgeworfen. Die Protagonisten versuchen in mehreren Schritten dieses Problem zu lösen (in der Terminologie von Freytag: ‚steigende Handlung und erregendes Moment‘), wobei ihnen als einziges Hilfsmittel das reine dialogische Gespräch zur Verfügung steht. Nachdem ein scheinbarer Ausweg erörtert wurde (‚Höhepunkt‘), kippt die Lösung in ihr „Gegenteil“ (‚Peripetie‘) und wird als Scheinlösung enttarnt. In der ‚fallenden Handlung‘ wiederholt sich dieses Hin-und-Her-Spiel mit einigen ‚retardierenden Momenten‘ (scheinbare Lösungsfindung). Am Ende schließt das „Drama“ entweder als Tragödie – in Form der Aporie: „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ – oder als Komödie, also als handfeste Erkenntnis. Die Sokratischen Dialoge von Platon haben daher, neben der philosophischen, vor allem eine hohe literarische Qualität.

1.2 Thematik und Methodik

Ich möchte in dieser Arbeit ausdrücklich den literarischen Charakter von Platons ‚Theätet‘ in den Vordergrund stellen und von diesem Standpunkt aus die Bedeutung einer dialogischen Philosophie herausarbeiten. Es soll hier nicht so sehr um das Was (die im Gespräch gefundenen Lösungen), als vielmehr um das Wie (das Gespräch als solches selbst) gehen. Der Hauptteil wird daher eine Textanalyse bzw. Gesprächsanalyse sein. Diese Herangehensweise schafft einen völlig anderen, bisher weitgehend vernachlässigten Zugang zum Werk: Platon in der Rolle des Dichters ist mehr philosophischer Spielraum zuzugestehen, als Platon in der Rolle des reinen Logikers. Statt der bisher oft nur vollzogenen Fixierung auf die bloße Thematik vom Wissen und die damit verbundene nüchterne Prüfung der Stimmigkeit von Argumenten, soll hier die erzählerische Mehrdimensionalität im ‚Theätet‘ zur Sprache kommen. Der Wechsel der Perspektiven zwischen intra-, inter- und extratextuell ist daher ein wichtiger Schritt, um die ganze Tragweite der platonischen Philosophie zu erkennen und wertzuschätzen.

2 Textanalyse

Grundsätzlich lassen sich bei der Textanalyse der meisten literarischen Werke drei Ebenen unterscheiden: 1) die extratextuelle, 2) die intratextuelle und 3) die intertextuelle Ebene. Die extratextuelle Ebene beschreibt die reale Welt und damit die Umstände, unter denen ein Text entstand. Die intratextuelle Ebene ist die fiktive Welt, in welcher die literarischen Figuren agieren; sie wird bei Erzähl-Werken von der Literaturwissenschaft oft auch als ‚erzählte Welt‘ bezeichnet. Die intertextuelle Perspektive nimmt den Text als das wahr, was er ist: als formalen Text, den man mit anderen Texten vergleichen kann.

Auf der extratextuellen Ebene ist Platon als historische Persönlichkeit der Autor des Sokratischen Dialogs ‚Theätet‘. In dieser Rolle hat er einen gewissen Abstand zum textuellen Geschehen. Aus dieser Perspektive heraus können wir auch sagen, dass Platon der berühmteste Schüler von Sokrates war und die Lehren seines Meisters weitertrug. Sokrates wiederum war ein Philosoph, der keine eigenen Schriften verfasste; er betrieb – soweit die historischen Quellen verlässlich sind[8] – eine reine „Philosophie des Wortes“. Dieses scheinbar triviale „Hintergrundwissen“ wird für das Gesamtbild der platonischen Philosophie an anderer Stelle noch wichtig werden. Bei der intratextuellen Perspektive spielen der Autor Platon und die in der realen Welt vorkommenden Personen wie Sokrates von Athen keine Rolle; es geht dabei nur um die Protagonisten des platonischen „Dramas“ und um ihre Welt. Auch wenn eine Figur hier ebenfalls ‚Sokrates‘ heißt, so ist sie nicht identisch mit jenem Sokrates, den wir von der extratextuellen Ebene kennen. Der Sokrates im ‚Theätet‘ ist das literarische Produkt des Dichters Platon. Im Hinblick auf die intertextuelle Ebene ist Platons Werk ein Text unter vielen anderen Texten: Er hat eine spezifische Form, mit der er sich von anderen Schriftstücken unterscheidet bzw. sich an andere Texte anlehnt. Die Textstruktur des ‚Theätet‘ erinnert stark an ein klassisches griechisches Drama.

Diese Differenzierung ist zwar leicht nachvollziehbar, aber man ist im Alltag meist geneigt, die Perspektiven gnadenlos zu vermischen – mit fatalen Konsequenzen: die Gesamtaussage des Werkes bleibt unerkannt. Daher sollen im Folgenden diese Perspektiven zunächst sauber getrennt gehalten werden. Erst am Ende der separaten Analyse liefern die Erkenntnisse bezüglich der einzelnen Ebenen eine gehaltvolle philosophische Aussage über die Bedeutung der dialogischen Philosophie bei Platon.

2.1 Ein Text unter vielen – Intertextuelle Betrachtung des ‚Theätet‘

Bei der intertextuellen Analyse werden die besonderen textuellen Merkmale von Platons ‚Theätet‘ herausgestellt. Diese Ebene hat dort fließende Übergänge zur intratextuellen Ebene, wo diese für die Textcharakteristik wichtig ist. Im Wesentlichen geht es um die einzelnen „Textbausteine“.

Charakteristische Textmerkmale

Wie bereits gesagt, kann man Platons ‚Theätet‘ in die dramatische Gattung einordnen. Das klassische griechische Drama, das von Aristoteles geprägt wurde[9], enthält fünf markante Elemente: 1) Der mythos charakterisiert eine zusammenhängende und vor allem darstellende Handlung im griechischen Drama. Darstellend ist Platons Dialog insofern, weil der Inhalt nicht einfach nüchtern durch einen Erzähler vermittelt wird, sondern allein durch die Figurenrede einzelner Personen erschlossen werden muss. Dadurch wird eine plastische Situation konstruiert, bei der der Leser quasi einem „realistischen“ Gespräch lauscht. Es ergibt sich eine Synchronizität von Rezeption und Inszenierung. 2) Für diese Gattungsform ist auch die ethe ein konstitutives Element: Es gibt besondere Charaktere im Geschehen, die man Protagonisten oder „Helden“ nennen kann. Sokrates befindet sich in der Rolle eines weisen Lehrers und Theätet ist der lernende Schüler, der vom „richtigen philosophischen Weg“ abgekommen ist. Die durch Sokrates angeleitete Selbst-Bekehrung führt Theätet schließlich in die richtige Richtung. 3) Ein Kernelement im griechischen Drama ist die lexis. Sie verweist auf die Figurenrede – den Dialog. Formal erkennt man das gesprochene Wort daran, dass jedem Sprechakt der Name des jeweils Sprechenden vorangestellt ist. Der größte Part in Platons Drama ist ein Wechsel von Fragen und Antworten, wobei am Anfang Sokrates, Theodoros und Theätet etwa gleich große Redeanteile haben. Im Verlauf wandelt sich das Gespräch immer mehr in einen reinen Dialog zwischen Sokrates und Theätet um – mit zuweilen monologischen Passagen[10] von Sokrates. Insgesamt überwiegt der Redeanteil des philosophischen Lehrers deutlich. Besonders interessant, und für diese Zeit nahezu einmalig, ist die ausgefeilte Erzählform: Der gesamte Sokratische Dialog ist ein vorgelesener Monolog. Wie man im „Prolog“ erfährt, liest ein Sklave den Sokratischen Dialog vor, der wiederum von Eukleides nach einem Gespräch mit Sokrates niedergeschrieben wurde. Die Zuhörer sind Eukleides und Terpsion. 4) Der Begriff dianoia beschreibt die Intention des Stückes, d.h. die meist „zwischen den Zeilen stehende“ Absicht bzw. den Hauptgedanken. Dieser wird – und dazu sind noch einige Untersuchungen notwendig – erst im Fazit formuliert. 5) Die opsis kennzeichnet die poetische Darstellung, die Schau und Szenerie: Die Gespräche der Figuren finden nicht in einem Vakuum statt, sondern in einem erschaffenen Raum – z.B. auf einem griechischen Marktplatz. Der Text ist auch reich an stilistischen Mitteln wie der Hebammenmetapher, Verwendung von Redewendungen und Alltagssprache, Ironie und Witz: „Aber nimm es mir nicht übel – er ist nicht schön, sondern ähnelt dir […].“[11]

[...]


[1] Raupach-Strey (2002), S. 135 [Unterstreichung: S.W.].

[2] Vgl. Weierstraß (1903), S. 315-329.

[3] Vgl. Nelson (2002).

[4] Vgl. Heckmann (1981).

[5] Raupach-Strey (2002), S. 106.

[6] Vgl. z.B. Platons Werke Theätet, Phaidros, Timaios, Gorgias u.a.

[7] Vgl. Freytag (1969).

[8] Vgl. Xenophons Werke Memorabilien und Symposion sowie Platons Werke Apologie, Kriton, Laches und Protagoras.

[9] Vgl. Jahraus (2009), S. 136.

[10] Vgl. Platon (2007), S. 31 [Abschnitt über die ‚Hebammenkunst‘].

[11] Ebd., S. 9.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Schlaue dumme Fragen
Untertitel
Die Bedeutung des Sokratischen Dialogs in Platons Theätet
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Institut für Philosophie )
Veranstaltung
Philosophie und Schriftlichkeit bei Platon
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V204199
ISBN (eBook)
9783656305286
ISBN (Buch)
9783656305590
Dateigröße
804 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Platon, Sokrates, Theätet, Theaitetos, Sokratischer Dialog, Sokratische Technik, Sokratisches Paradigma, Fragen, Antworten, Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Literalität, Dialogische Philosophie, Antike, Philosophie der Antike, Sprachphilosophie, Gespräch, Gesprächsanalyse, Gesprächstechnik, Drama, Dramatik, Textanalyse, nondirektive Gesprächstechnik, Metagespräch, Sprachpraxis, Wahrheit, Plato, Carl Rogers, Philosophieren
Arbeit zitieren
Sebastian Wendt (Autor:in), 2012, Schlaue dumme Fragen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204199

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