Was wäre wenn...? Zur kontrafaktischen Imagination einer Welt ohne Adolf Hitler am Beispiel von Eric-Emmanuel Schmitts Roman 'Adolf H. Zwei Leben'

Pseudo-wissenschaftliches Gedankenspiel oder kulturelle Aufarbeitung der Vergangenheit?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

39 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
oder: Was wäre, wenn diese Arbeit ungeschrieben bliebe?

2. Die Bedeutung(s-losigkeit) der kontrafaktischen Geschichte
oder: Fakten, Fakten, Fakten im Alternativspiel des Weltgeschehens
2.1 Das Wesen des Kontrafaktischen
2.2 Von Ereignis und Struktur
2.3 Exkurs: The Butterfly Effect

3. Zu Eric-Emmanuel Schmitts „Adolf H. - Zwei Leben“
oder: Die ‚Führer‘-lose Welt führt uns hinter den Mond
3.1 Dualistische Struktur und Doppelgesicht
3.2 Vorstrukturiertheit oder Singularität?
3.3 Realitätspotential?
3.4 Erkenntnis oder Entertainment?

4. Schlusswort
oder: Was wäre, wenn diese Arbeit ungeschrieben blieben wäre?

5. Literaturverzeichnis

1. EINLEITUNG

oder: Was wäre, wenn diese Arbeit ungeschrieben bliebe?[1]

Wenn in diesem Moment nicht diese Zeilen verfasst würden, dann hätte dieser spezielle Umstand vermutlich keine entscheidenden Auswirkungen auf das Weltgeschehen. Oder vielleicht doch? Die versteckte Offenheit der Historie stellt den Menschen immer wieder aufs Neue vor ein unlösbares Gefühl der Ungewissheit. Gerne wähnt er sich im sicheren Raum der Absehbarkeit und vor allem der Abgeschlossenheit dessen, was er ‚Geschichte‘ zu nennen gelernt hat. Das kontrafaktische Denken erschüttert diese trügerische Sekurität in ihren Grundmauern, indem es gezielte Stellen im scheinbar linearen Verlauf von der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Frage stellt und dadurch aufzeigt, dass die chronologische Geschichtsschreibung keineswegs nur so und nicht anders verlaufen konnte, wie wir sie heute kennen und interpretieren, sondern, dass vielmehr eine unendliche Zahl von Alternativen zur Verfügung standen, die, teilweise nur bedingt durch einen seltsamen Zufall, eben nicht in die Dimension der Realität eingetreten sind. Obgleich zweifelsohne eine grundsätzliche Abneigung gegenüber (de-)konstrukti-vistischer[2] Überlegungen eines kontrafaktischen Geschichts-verlaufes existiert[3], ihre Bemühungen oft als „müßiges Gedankenspiel, als unseriöse Spekulation“[4] deklassiert werden, erkennt man mittlerweile sogar einen Trend zur Achronie - und zwar sowohl in historisch-wissenschaftlichen Werken, wie auch in literarischen Kreisen[5].

Ziel dieser Arbeit soll es daher sein, die kontrafaktische Narration als literarisches Genre zum einen und als historisches Phänomen einer Gedächtniskultur zum anderen zu analysieren. Weiterhin wird die Frage nach der Bedeutung beziehungsweise nach dem Erkenntnispotential des Kontrafaktischen fokussiert. Hierfür bedarf es zunächst einer ausführlichen Begriffsklärung, die unter Punkt (2) versuchen wird, das schier grenzenlose Feld der Historie(-nschreibung) im hier gegebenen Rahmen zweckdienlich zu erfassen. Zur gezielten Anwendung im literaturwissenschaftlichen Kontext wird der Roman Adolf H. - Zwei Leben von Eric-Emmanuel Schmitt im Fokus der Betrachtungen stehen.

2. DIE BEDEUTUNG(S-LOSIGKEIT) DER KONTRAFAKTISCHEN GESCHICHTE

oder: Fakten, Fakten, Fakten im Alternativspiel des Weltgeschehens

2.1 Das Wesen des Kontrafaktischen

Zunächst ist festzuhalten, daß man am ehesten den Begriff ‚kontrafaktisch‘ als Oberbegriff für jegliche Beschäftigung mit Geschichte nehmen kann, die sich punktuell oder generell von dem entfernt, was als rekonstruierter Geschehensverlauf akzeptiert ist, und statt dessen anders oder neu konstruiert.[6]

Gregor Weber konstituiert hier einen Kontrafaktizitätsbegriff, der zugleich auf den Konstruktionscharakter der Historie verweist und damit die vermeintlich starre Grenzziehung in Frage stellt. Während die Geschichtsschreibung und die damit einhergehende Akzeptanz der Meinung beziehungsweise des Bildes von dem Verlauf der Vergangenheit auf einem Prozess der Rekonstruktion durch Interpretation wahrscheinlicher Kausalzusammenhänge beruht, handelt es sich bei kontrafaktischen Überlegungen um eine Art Okkasionskonstruktion, die den Bereich alternativer Möglichkeiten beleuchtet. Des Weiteren bleibt das Kontrafaktische trotz all seiner Bemühungen stets im Raum des Irrealen, wohingegen der historische Konsens als Faktum in die Realität übergeht und auf sie einwirkt.

Es lassen sich vier Hauptaspekte feststellen, die das Wesen des Kontrafaktischen größtenteils neutral von Be- oder Verurteilung bestimmen: (1) Zeit, (2) Raum, (3) Wissen und (4) Position. Die zeitliche Komponente umfasst dabei sowohl die Vergangenheit, wie die Gegenwart und auch die Zukunft auf unterschiedliche Art und Weise. Vergangene Geschehnisse, einzelne Punkte dessen, was wir unter dem Begriff der Historie zusammenfassen, werden zum Austragungsort kontrafaktischen Räsonierens, indem der tatsächliche, der gewohnte Verlauf punktuell verändert wird, wobei entscheidend ist, „daß nicht die gesamte Vorgeschichte eines Ereignisses als zu seinen relationalen Eigenschaften gehörig angesehen werden kann, sondern nur seine kausale Vorgeschichte.“[7] Das gegenwärtige Geschehen ist insofern in die kontrafaktische Überlegung involviert, dass

when we speculate about what might have happened if certain events had or had not occured in our past, we are really expressing our feelings about the present. […] Alternate history is inherently presentist. It explores the past less for its own sake than to utilize it instrumentally to comment upon the state of the contemporary world.[8]

Im Spekulieren über die Vergangenheit manifestiert sich also eine Bewertung der Gegenwart, insofern der jetzige Ist-Zustand als das Ergebnis zurückliegender Geschehnisse angesehen wird. Je nach der Position desjenigen, der kontrafaktische Überlegungen anstellt und seiner Bewertung der Gegenwart, fällt entsprechend die Alternation des Vergangenen aus.[9] Das Phänomen der Kontrafaktizität impliziert weiterhin eine Kumulation von Zukunftsängsten bezüglich der Tatsache, dass „in our current transitional era, in which the future is less clear than ever, we recognize that nothing is inevitable at all.“[10] Das Gefühl von Ungewissheit und Unabsehbarkeit künftiger Entwicklungen eröffnet die Einsicht in die Undeterminiertheit des Weltgeschehens und damit auch in die „open-endedness of historical change“[11].

Es ist genau diese Erkenntnis, die weiter zum Aspekt der Räumlichkeit des Kontrafaktischen führt. Das Loslösen von der Idee einer deterministischen Weltordnung eröffnet einen unendlichen Raum von Möglichkeiten. Gilles Deleuze verbildlicht diese Vorstellung in der Chiffre der Falte:

Im gleichen Moment nun sind unendlich viele Monaden noch nicht aufgerufen worden und bleiben gefaltet, unendlich viele andere sind in die Nacht zurückgefallen oder fallen, wieder in sich zusammengefaltet, darin zurück, unendlich viele andere haben sich verdammt, verhärtet in einer einzigen Falte, die sie nicht mehr auflösen.[12]

Das Chaos der Möglichkeiten, von denen jede einzelne die Fähigkeit zur Entfaltung besitzt, bringt schließlich die Ereignisse in ihrer realen Gestaltung hervor, „vorausgesetzt, daß eine Art Sieb dazwischentritt.“[13] Durch diese Selektion verkümmern andere Monaden, fallen in die Nacht zurück oder verhärten sich, um mit Deleuzes Bildern zu sprechen - sie werden inkompossibel mit der Realität, bleiben aber dennoch als virtuelle Monaden bestehen und bewirken „eine Umkehrung, einen Aufschub und eine Schwebe der Welt […] eine konstitutive Unfertigkeit, ein Zögern vor der Geburt.“[14] Auch Alexander Demandt spricht vom Schwebezustand auf dem Spielplatz des Möglichen: „Von dem Schwindel des Schwebens über dem Abgrund des Ungeschehen-Möglichen heilt uns erst die Rückkehr auf den Boden der geschichtlichen Tatsachen.“[15] Der Schwindel des Schwebens ist es nun wiederum, der zu der Überlegung führt, ob sich das kontrafaktische Räsonieren nicht eigentlich, in der Eröffnung eines unendlichen Handlungs- und Ereignisspielraums, zum raumlosen Ort verkehrt, da es keine Begrenzung, kein Unmögliches gibt. Vielleicht kann man aber doch eine Art Begrenzung im Ausschlussverfahren der Inkompossiblität sehen, denn auch die Monaden, die sich nicht entfalten konnten, sind „Teil der Geschichte und liefer[n] die Paraphernalien für diejenigen Entwicklungen, denen Zukunft beschieden war.“[16] Demzufolge läge die Demarkation des Möglichen in der Divergenz von Realität und irrealer Virtualität, und das kontrafaktische Bemühen sucht genau diese Hürde zu überwinden, um neue Wissensräume zu öffnen[17].

Der Aspekt des Wissens spielt in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle im Bereich der Kontrafaktizität. Zum einen nämlich dahingehend, dass die gesamte achronische Tätigkeit eine Abweichung, ein Entfernen vom allgemein akzeptierten historischen Wissen darstellt[18], insofern jene „Imaginationen […] mit Wissensansprüchen im Modus der certitudo physicalis konfligieren“[19], also mit der Art von Wissen, die bereits den Status der Gewissheit erlangt hat. Zum anderen bedient sich das Kontrafaktische immer eines bestimmten Rückgriffes auf ein ‚Vorherwissen‘, indem nämlich das Wissen über die Vergangenheit sowohl als notwendige Grundlage für die jeweilige Veränderung, sowie als Maßstab für die Plausibilität der daraus entstehenden Konsequenzen vorausgesetzt wird. In diesem Kontext wird eine essenzielle Differenz bezüglich des Wissenshorizontes augenfällig, die sich auf den ‚kontrafaktisch Handelnden‘ und den ‚kontrafaktisch Wahrnehmenden‘ bezieht. Während der Handelnde, also derjenige, der Überlegungen zu einem alternativen Geschichtsverlauf anstellt, der eine achronische Erzählung verfasst, sich in einer gewissen Machtposition befindet, indem es nämlich an ihm liegt, die eine gefaltete Monade zu öffnen und die andere liegen zu lassen - befindet sich der bloß Wahrnehmende, also der Leser, Hörer oder Zuschauer solcher Ideen im Zwischenraum einer fremden Subjektivität, die der Wahrnehmende zwar mehr oder weniger gut nachvollziehen kann, die aber nie genau seiner Monadenöffnung mit genau denselben Konsequenzen, die er ersinnen würde, entsprechen wird. Zwar können sich der Handelnde und der Wahrnehmende auf einer identischen Ebene des objektiven Wissen, der certitudo physicalis befinden, aber der Stand des ‚Wissens‘[20] über die Irrealität wird immer ambivalent bleiben.

Dementsprechend ist es auch die Position des Agierenden, welche für jede einzelne kontrafaktische Überlegung von besonderer Relevanz ist, denn sie gestaltet schließlich die Entfaltung einer alternativen Monade. Imaginationen eines achronischen Geschichtsverlaufs können grundsätzlich in zwei divergierende Richtungen verlaufen:

Fantasy scenarios envision the alternate past as superior to the real past and thereby typically express a sense of dissatisfaction with the way things are today. Nightmare scenarios, by contrast, depict the alternate past as inferior to the real past and thus usually articulate a sense of contentment with the contemporary status quo […] they ratify the present as the best of all possible worlds and thereby discourage the need for change.[21]

Insbesondere im Hinblick auf kontrafaktisches Räsonieren über kriegerische oder andere weltpolitische Ereignisse erscheint die Position des Erzählenden (und später in der Bewertung auch die des Lesers) als entscheidendes Kriterium. Gavriel D. Rosenfeld verdeutlicht dies an der Gegenüberstellung alternativer Texte zum Zweiten Weltkrieg wie folgt:

Audiences within World War II‘s victor nations have been able to read and enjoy alternate histories of Nazism as works of entertainment, but Germans have not been able to enjoy the luxury of embracing such a playful relationship to the past. […] This is probably the same reason few alternate histories of Nazism have appeared in France and Russia, two nations that were ostensibly among the war’s winners but that experienced the war’s horrors much more directly than Britons and Americans.[22]

Distanz und Nähe zum Ereignis beeinflussen grundlegend den Kompetenz- und Wertungshorizont eines Menschen. Das unmittelbare Erleben der Schrecken des Krieges kann aus seiner Natur heraus gar nicht anders, als sich selbst zu verdrängen hinter der Idee einer besseren Gegenwart bei einem andersartigen Vergangenheitsverlauf. Die kontrafaktische Überlegung ist vom Standpunkt der ‚Täternation‘ aus ein Symptom der Reue[23], welches ein kollektives Gefühl verdeutlicht, ‚Opfer‘ der eigenen vaterländischen Vergangenheit zu sein und sich eben in der Darstellung eines fantastischen Szenarios unter der Abänderung der Historie manifestiert. Die Bewertung einer alternativen Vergangenheit und ihrer Konsequenzen für die Gegenwart hängt, wie festgestellt werden konnte, vom Standpunkt des Imaginierenden ab, kann prinzipiell in eine optimistische oder aber pessimistische Sektion divergieren und beeinflusst weiterführend maßgeblich den kontemporären Umgang mit der Historie, insofern ein außergewöhnliches, abnormales Ereignis, „whose traumas remain vivid in the memories of the people“[24] im Zuge der ‚Uchronisierung‘ normalisiert[25] wird. Die kontrafaktische Disziplin erwirkt eine Relativierung des behandelten Ereignisses durch den Vergleich mit anderen historischen Begebenheiten; Universalisierung durch das Einordnen des Geschehenen in den Kontext allgemeiner und globaler Kräfte; und Ästhetisierung durch die Anwendung narrativer Techniken.[26] Relativieren, Universalisieren, Ästhetisieren - Taktiken, die zur Normalisierung eines Ereignisses beitragen können und sollen, wobei die Resultate des Prozesses sehr stark variieren können:

German alternate histories have continued to focus on Hitler’s responsibility for Nazism and have thereby preserved a clear sense of his evil. […] Americans and Britons have largely focused on the responsibility for Nazism as lying mostly with the Germans themselves and not just Hitler.[27]

Das Kontrafaktische bewegt sich im Raum der Subjektivität, was sich in der Relevanz des Standpunktes artikuliert und den größten Angriffspunkt hinsichtlich seiner Wertigkeit bietet[28]. Die Problematik alternativer Geschichtsimaginationen verkörpert sich in deren komplexer, paradoxer und scheinbar insuffizienter Struktur. Arnd Hoffmann spricht von einem „Unbehagen gegenüber einer theoretisch nicht greifbaren Komplexität, die durch den Begriff der Möglichkeit hervorgerufen werden kann“[29]. Die kontrafaktische Komplexität bedingt und bedarf gleichzeitig der Dimension unendlicher Monaden und ist dementsprechend in einem diffizilen Kontext von Irrealität und schwebender Immaterialität verortet. Des Weiteren umfasst sie eine Vielzahl thematischer Punkte, sodass sie sich keiner geradlinigen Klassifikation unterwirft. „It transcends traditional cultural categories, being simultaneously a sub-field of history, a sub-genre of science fiction, and a mode of expression that can easily assume literary, cinematic, dramatic, or analytical forms.”[30] Das Verändern der kollektiven Historie impliziert - wenn auch erst auf den zweiten Blick, dafür aber umso heftiger - einen Angriff auf die persönliche Existenz jedes einzelnen Individuums:

Wenn wir ein einziges Glied aus der Kette herausreißen, geht aller Zusammenhang verloren. Was wäre aus jedem von uns geworden, hätte es die Weltkriege […] nicht gegeben? Wären wir »wir«? Würde die Geschichte an irgendeinem wichtigen Punkt abgeändert, so wäre damit zugleich die gesamte nachfolgende Weltgeschichte außer Kraft gesetzt.“[31]

Kontrafaktizität gefährdet jedes einzelne Leben als verlängernde, oder vielmehr spezialisierende Konsequenz einer ‚Chaotisierung‘ der bestehenden Weltordnung. Dadurch wird das achronische Unternehmen mitunter zu einem Phantom der Restrukturierung, das sich der Sicherheit des Alltagslebens bemächtigt und an Stelle dieser einen offenen Raum voller Fragen evoziert. Fragen, die scheinbar nicht objektiv beantwortet werden können, sondern im Bereich des Arbiträren verweilen müssen.

Insonderheit stellt sich das Problem der Beliebigkeit derartiger Imaginationen, die mit Ausnahme der sinnwidrigen Imaginationen unbegrenzt zu sein scheinen - und das, so ließe sich vermuten, spricht nicht für irgendeinen kognitiven Nutzen; von den Möglichkeiten ihrer kritischen Erörterung ganz zu schweigen.[32]

Die Willkür, die Grenzenlosigkeit, die Irrealität und damit einhergehend der Widerstand gegen die bestehende Ordnung - all dies sind Momente, die das Kontrafaktische insuffizient erscheinen lassen. Es sei nutzlos, methodenlos und respektlos (gegenüber dem tatsächlich Geschehenen), über Dinge nachzusinnen, die ohnehin nachweislich nicht real wurden, so die Kritiker.[33] Neben die Schwierigkeiten, die mit der Arbitrarität und jener all zu komplexen Struktur beziehungsweise Nicht-Struktur einhergehen, tritt in der kontrafaktischen Imagination noch das Moment der Paradoxie. Das Oppositionspaar von Faktizität und Fiktion erfährt hier eine drastische Form der Gegenüberstellung, insofern beide Aspekte miteinander verschmelzen, oder vielmehr die Fiktion des Kontrafaktischen in die ‚Faktizität der Historie‘[34] eindringt, sie auflöst und einen neuen Modus von Wirklichkeit konstruiert, der zwar möglich ist, aber dennoch im Bereich der Irrealität bleibt. Es ist „die Angst vor der Fiktionalisierung bzw. Literarisierung der Historiographie, vor der Angleichung des Geschichtsbuches an einen Science-Fiction-Roman“[35], die zur grundsätzlichen Skepsis gegenüber des Philosophierens über mögliche Alternativverläufe der Geschichte führt. Kontrafaktizität führt der Historie ihren eigenen Schwachpunkt vor, denn „›Tatsächlichkeit‹ hat […] immer auch konstruktive Aspekte, die der Historiker in die Rekonstruktion mit hineinbringt.“[36] Die so wünschenswerte Objektivität und Gewissheit, die man der Historienschreibung allzu gern zugestehen möchte, um im Chaos des globalen Weltgeschehens einen festen Ankerpunkt zu haben, erweist sich als Trugbild der Rekonstruktion[37] und im kontrafaktischen Räsonieren wird diese Illusion durch den verstärkten Hinweis auf die prospektive Offenheit[38] vergangener Ereignisse betont. Daraus ergibt sich noch ein weiteres paradoxes Moment der Achronie, das zwischen der nicht von der Hand zu weisenden Subjektivität und einem immanenten Anspruch auf Wahrheit besteht. Dass sich die behandelte Disziplin im Raum subjektiver Spekulationen und „privater Mutmaßungen“[39] bewegt, ist mittlerweile mehr als deutlich gemacht worden. Es liegt jedoch auch im Wesen der Kontrafaktizität, „dass [sie] als argumentativ zu verstehen ist; in [ihr] also ein Wahrheitsanspruch verfolgt wird.“[40] Imaginationen über eine andere, mögliche Entwicklung der Vergangenheit wollen nicht bloß ein unterhaltendes Denkspiel sein, sie zielen vielmehr darauf ab, zu zeigen, unter welchen Bedingungen ein Ereignis X die Ursache für ein Ereignis Y sein konnte[41] und daraus folgend, wie es anders hätte sein können.[42] Dementsprechend befassen sich kontrafaktische Texte durchaus mit wahren, wenn auch irrealen Begebenheiten, die sie durch argumentative Narration zu verifizieren suchen, und auch, wenn jener Wahrheitsanspruch gewissermaßen mit dem Aspekt der Subjektivität konfligiert, bildet er ein substanzielles Charakteristikum hinsichtlich der Selbstverteidigung achronischen Strebens, „denn auch in fiktionaler Rede lassen sich Wahrheiten vermitteln.“[43] Der Grad der Erfüllung dieses selbstgestellten Wahrheitsanspruchs hängt von jeder individuellen kontrafaktischen Geschichte selbst ab und kann nicht generalisierend als erreichbar oder nicht zu bewältigen eingestuft werden.[44]

Trotz dieser Hürden, die tief im Wesen der Kontrafaktizität verwurzelt sind und die es immer wieder neu zu überwinden gilt, „alternate history has gained both in popularity and respectability.“[45] Die Kategorie des Möglichen ist eines jener Grundprinzipien der Philosophie, die seit der Antike immer wieder in den Fokus unterschiedlicher Debatten und Kontexte gestellt werden. Die aristotelischen Begriffe von Stoff und Form sind dabei nur eines von vielen Beispielen. Hier findet man das kontrafaktische Prinzip in der Idee der noêtê - die „bloß denkbare Materie“[46], die das Potential zur Realisierung, die Fähigkeit, sich in der Wirklichkeit auszuformen, besitzt. Angesichts der Langlebigkeit des Möglichkeitsdenkens, des Fragens nach dem ‚Was wäre, wenn?‘, scheint es ein tiefes menschliches Bedürfnis zu sein, sich in einem bestimmten Rahmen für eine bestimmte Zeit außerhalb der Tatsachenwelt zu bewegen.[47] Die kontrafaktische Imagination bietet dahingehend eine durchaus fruchtbare Chance zur retrospektiven Aufarbeitung vergangener Geschehnisse. „Das Nachdenken über vergangene Möglichkeiten erweitert unsere Kenntnis der Vergangenheit um Wißbares.“[48] - es trägt zur Komplettierung unseres Bildes von der Geschichte bei[49], indem nicht nur das Geschehene (re-)präsen-tiert und in einem Kausalzusammenhang verortet wird, sondern zusätzlich der Blick für die Optionalität einzelner Handlungen geschärft wird, wobei auch immer bedacht werden muss, dass „die Handelnden […] einen anderen Horizont als wir [hatten]. Wenn wir uns das nicht vergegenwärtigen, begreifen wir nicht, warum sie sich so und nicht anders entschieden haben.“[50] Durch das Überdenken von Handlungsmöglichkeiten unter gleichzeitiger Bezugnahme auf die Determination durch bestimmte vorangegangene Ereignisse kann im Rahmen achronischer Überlegungen auch ein Einfühlen in die Individuen vergangener Epochen erwirkt werden, was zu einer Personalisierung des ‚objektivierten Tatsachenberichts‘ führt - die Virtualität wird vitalisiert.[51] Daraus folgend ergibt sich eine Festigung der Erinnerungskonstruktion, indem die Präsentation des Ungeschehenen, aber Möglichen im Prozess der Gegenüberstellung von Irrealität und Realität das tatsächlich Geschehene verstärkend als ‚historisch‘ identifiziert, und zudem selbst als moralische Interpretationsstütze[52] für die Vergangenheit fungiert.

[...]


[1] Ich möchte mich gleich zu Beginn der Arbeit von der bearbeiteten nationalsozialistischen Ideologie distanzieren. Die Verwendung von einschlägigen und diskriminierenden Begriffen soll weitestgehend umgangen werden. Sollte dies in einigen Fällen nicht möglich sein, ohne den Sinn der Aussage zu verändern oder einzuschränken, bitte ich dies zu entschuldigen.

[2] ‚Dekonstruktivistisch‘ im Sinne der Störung einer chronologischen, abgeschlossenen Geschichtsschreibung und ‚konstruktivistisch‘ im Sinne des Aufbaus denkbarer Alternativwelten.

[3] Vgl. dazu Hoffmann, Arnd: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. S. 141. „Die Vergangenheit ist vergangen. Was nutzt da eine mögliche Erkenntnis des ›ungeschehenen Geschehens‹? In ihrem Verständnis kann kein Möglichkeitsmensch an der Faktizität von Geschichte rütteln.“

[4] Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 15.

[5] Vgl. dazu Rosenfeld, Gavriel: The world Hitler never made. S. 2 ff.

[6] Weber, Gregor: Vom Sinn kontrafaktischer Geschichte. In: Virtuelle Antike. Hrsg. von Kai Brodersen. S. 14.

[7] Keil, Geert: Handeln und Verursachen. S. 275.

[8] Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 10.

[9] Vgl. dazu genauer S. 5.

[10] Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 7.

[11] Ebd. S. 6.

[12] Deleuze, Gilles: Die Falte. S. 124.

[13] Ebd. S. 126.

[14] Vogl, Joseph: Was ist ein Ereignis? S. 74.

[15] Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 20.

[16] Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 25.

[17] Vgl. dazu Keil, Geert: Handeln und Verursachen. S. 273f.: „Vielmehr sucht [die kontrafaktische Auffassung] angesichts zweier vorliegender Einzelereignisse X und Y anzugeben, unter welchen Bedingungen X die die Ursache für Y war.“

[18] Vgl. Weber, Gregor: Vom Sinn kontrafaktischer Geschichte. S. 14.

[19] Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. S. 214. [Die certitudo physicalis (WCP) ist in Dannebergs Ausführungen als das ‚sicher wahre‘ Wissen erklärt, das dennoch hierarchisch unter der certitudo metaphysica (Wcma) steht, die wiederum als das „dem Verstand naturhaft vertraute, seinsmäßig bekannte Wissen“ definiert wird. Auf einen Vergleich zur Kantischen Erkenntnistheorie sei an dieser Stelle nur kurz verwiesen.]

[20] Der Begriff des Wissens ist in diesem Kontext insofern problematisch, als dass es prinzipiell keine ‚wahre Überzeugung‘ im Sinne von ‚S weiß, dass p‘ (Vgl. dazu: Gottschalk-Mazouz, Niels: Was ist Wissen? S. 3.) im kontrafaktischen, also irrealen Raum geben kann.

Vgl. auch dazu: http://www.philosophie.hu-berlin.de/institut/lehrbereiche/idealismus/forschung/Epistemologie/

[21] Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 11.

[22] Ebd. S. 15.

[23] Vgl. dazu If it happened otherwise. Hrsg. von J. C. Squire. S. 7.

[24] Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 16.

[25] Vgl. dazu ebd.

[26] Vgl. Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 17.

[27] Ebd. S. 329.

[28] Vgl. dazu ebd. S. 12. und Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 18.

[29] Hoffmann, Arnd: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. S. 141.

[30] Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 4.

[31] Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 19.

[32] Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. S. 219.

[33] Vgl. dazu Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 16.

[34] Vgl. dazu Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. S. 153. „Die Faktizität ex post ermittelter Ereignisse ist nie identisch mit der als ehedem wirklich zu denkenden Totalität vergangener Zusammenhänge. Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen.“

[35] Hoffmann, Arnd: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. S. 141.

[36] Ebd. S. 279.

[37] Vgl. dazu Cowley, Robert: Was wäre gewesen, wenn? S. 10 f.

[38] Vgl. dazu Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. S. 196.

[39] Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 18.

[40] Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. S. 211 f.

[41] Vgl. dazu Keil, Geert: Handeln und Verursachen. S. 273 f.

[42] Dieser Punkt markiert die Grenze zwischen dem Kontrafaktischen und der historischen Fiktion. Während letztere versucht, ein erdachtes Ereignis in den Kontext gegebener historischer Realität zu integrieren, verändert die kontrafaktische Geschichte eben diesen Kontext durch Segregation des realen Kausalzusammenhangs. Vgl. dazu bspw. Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 4 f.

[43] Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. S. 212.

[44] Vgl. dazu Hoffmann, Arnd: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. S. 150.

[45] Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 5.

[46] Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie.

[47] Vgl. dazu Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 10.

[48] Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 23.

[49] Vgl. dazu Demandt, Alexander: Ungeschehene Geschichte. S. 16.

[50] Ebd. S. 26.

[51] Vgl. dazu Cowley, Robert: Was wäre gewesen, wenn? S. 9.

[52] Vgl. dazu Rosenfeld, Gavriel D.: The world Hitler never made. S. 5.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Was wäre wenn...? Zur kontrafaktischen Imagination einer Welt ohne Adolf Hitler am Beispiel von Eric-Emmanuel Schmitts Roman 'Adolf H. Zwei Leben'
Untertitel
Pseudo-wissenschaftliches Gedankenspiel oder kulturelle Aufarbeitung der Vergangenheit?
Hochschule
Universität Erfurt
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
39
Katalognummer
V204316
ISBN (eBook)
9783656304982
ISBN (Buch)
9783656306160
Dateigröße
603 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
imagination, welt, adolf, hitler, eric-emmanuel, schmitts, roman, zwei, leben, pseudo-wissenschaftliches, gedankenspiel, aufarbeitung, vergangenheit
Arbeit zitieren
Carolin Hildebrandt (Autor:in), 2012, Was wäre wenn...? Zur kontrafaktischen Imagination einer Welt ohne Adolf Hitler am Beispiel von Eric-Emmanuel Schmitts Roman 'Adolf H. Zwei Leben', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204316

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