Jeder sterbende Patient ist eine Niederlage im Kampf gegen den Tod. Zur gesellschaftlichen Erwartung gehört heute – und es hat hier schon einen fast ethischen Pathos – dass nicht mehr gestorben werden darf. Doch der Tod trifft uns gerade heute härter denn je, weil wir immer mehr daran setzten, ihn um jeden Preis zu überwinden. Auf der einen Seite werden Tod und Sterben in unserer Gesellschaft heruntergespielt: der Sterbeprozess ist naturwissenschaftlich scheinbar voll erfasst. So ist der „moderne“ Tod im Großen und Ganzen ein Konzept der Biologie und Medizin geworden. Auf der anderen Seite fehlt es aber an tatsächlicher Kommunikation über das, was diese Endlichkeit für uns als Menschen – und ganz besonders für mich persönlich als seiendes Wesen – überhaupt bedeutet.
Der Essay "Sein durch den Tod" entstand im Wintersemester 2012 am Institut für Philosophie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Fakultät für Humanwissenschaften) im Rahmen des Seminars "Martin Heidegger: Sein und Zeit". Die vorliegende Kurzschrift thematisiert Heideggers Seinsverständnis von der Seite des Todes her. Was bedeuten 'Tod' und 'Sterben' bei Heidegger? Welchen Beitrag leistet der Tod für das Verständnis vom "Dasein"?
Sein durch den Tod?
Ein Essay über Heideggers ‚Sein-zum-Tode‘
SEBASTIAN WENDT
Epikurs Plädoyer ÄDer Tod geht uns nichts an“1 ist längst Realität geworden. Die (todgewisse) Endlichkeit des persönlichen Lebens lässt sich vielleicht treffend als Ävierte Kränkung“ der Menschheit bezeichnen. Unsere Antwort ist die Verdrängung:
Sterben und Tod werden verdrängt, indem sie als Problemsituationen erfaßt und un- ter einer Mischung aus Schmerzmitteln und professioneller Sterbehilfe verborgen werden.2
Jeder sterbende Patient ist eine Niederlage im Kampf gegen den Tod. Zur gesellschaftlichen Erwartung gehört heute - und es hat hier schon einen fast ethischen Pathos - dass nicht mehr gestorben werden darf. Doch der Tod trifft uns gerade heute härter denn je, weil wir immer mehr daran setzten, ihn um jeden Preis zu überwinden. Auf der einen Seite werden Tod und Sterben in unserer Gesellschaft Äheruntergespielt“: der Sterbensprozess ist naturwissenschaft- lich voll erfassbar. So ist der Ämoderne“ Tod im Großen und Ganzen ein Konzept der Biolo- gie und Medizin geworden. Auf der anderen Seite fehlt es an tatsächlicher Kommunikation über das, was diese Endlichkeit für uns als Menschen - und ganz besonders für mich persön- lich als seiendes Wesen - überhaupt bedeutet. Wir sind abgekommen vom Weg der Suche nach einem Sinn des Todes.
Der Äphilosophische Wanderer“3 Martin Heidegger hat diesen steinigen Weg mit seinem epo- chemachenden Werk ÄSein und Zeit“ (1927) beschritten und eine Philosophie begründet, die im wahrsten Sinne des Wortes auf Feldwegen entstand. Denken und Wandern stehen bei ihm in enger Beziehung zueinander4: seine stundenlangen einsamen Ausflüge am Todtnauer Berg, ein schon vom Namen her wegweisender Ort, führten ihn zu einer Philosophie, die das Sein zur intimen Privatsache erklärt. ‚Sein‘, ‚Zeit‘ und ‚Tod‘ sind bei ihm nicht mehr getrennt zu denken. Auf den ersten Blick ist das, was er uns zu sagen hat, dunkel und mysteriös, ja ein Abweg: es ist vom ‚Sein-zum-Tode‘, vom ‚eigentlichen‘ und ‚uneigentlichen Sein‘ und vom ‚Mut zur Angst‘ die Rede. Wer Heidegger verstehen will, muss bereit sein, eine neue Sprache zu erlernen und aus der ‚Alltäglichkeit‘ heraustreten. Die geläufigen Begriffe der Alltagsspra- che haben jeweils ganz verschiedene Bedeutungen, sodass sie mal dieses, mal jenes Phäno- men bezeichnen. Heidegger kommt es auf Eindeutigkeit an. Deshalb entwirft er eigene Be- griffe.
Ich möchte in diesem Essay aufzeigen, wie Heidegger das ‚eigentliche Sein‘ vom Phänomen des Todes her entwickelt. Seine ÄTodesanalysen“ scheinen die Grundlage dafür zu sein, dass das ‚Dasein‘ erst zu seiner ‚Eigentlichkeit‘ geführt werden kann. Das klingt zunächst paradox, denn gemeinhin hat doch der Tod gerade nichts mit mir als existierendem Wesen - als ‚da- seinsmäßiges Seiendes‘ - zu tun. Solange ich da bin, bin ich nicht tot. Die Antwort liefert Heidegger am Ende des 1. Kapitels, in §§46-53. Um die gesamte Gedankenstruktur nachzu- vollziehen, ist es zunächst notwendig, sich die vorausgesetzten Begriffe des 1. Kapitels in Erinnerung zu rufen.
Ein zentraler Begriff in ÄSein und Zeit“ ist das ‚Dasein‘. Dieses meint nicht irgendein Dasein, sondern das menschliche Dasein, den Menschen selbst. Es ist ein ganz persönliches ‚In-der- Welt-sein‘, das nur ‚jemeinig‘, d.h. nur immer durch jeden Menschen selbst erfahren werden kann: Nur ich kann meine Gefühle fühlen und meine Gedanken denken; nur ich kann mein Leben führen. Es gibt keine Möglichkeit aus dieser Jemeinigkeit irgendwie herauszutreten und die Welt Äobjektiv“ zu erkennen. Alles Erkennen und Verstehen ist Äsubjektiv“5. Man könnte auch etwas platt sagen: Ädie Welt gibt es nur so, wie ich sie sehe“. Ich würde hier aber nicht so weit gehen und ihm einen Solipsismus unterstellen im Sinne von Ädie Welt gibt es nur durch mich.“ Denn: alle Menschen, also auch meine Mitmenschen - die Heidegger ‚Mitdasein‘ nennt - werden als ‚daseinsmäßiges Seiendes‘ charakterisiert. Dieses daseinsmä- ßige Seiende zeichnet sich dadurch aus, dass es ‚existiert‘. Die Heideggersche ‚Existenz‘ ist nicht mit dem Alltagsterm der Existenz zu verwechseln, der besagt Ädieses und jenes gibt es.“
‚Existenz‘ heißt, dass man nach einem Wer fragen kann6. Nur der Mensch als Dasein erfüllt diese Bedingung. Alle anderen Entitäten, die nicht dieses jemeinige Dasein sind, also Sachen und Tatsachen, gehören zum Bereich des ‚nichtdaseinsmäßigen Seienden‘. Das korrespondierende Fragepronomen wäre hier ein Was. Folglich können auch nur Menschen ‚existieren‘. Die Existenz ist ferner dadurch geprägt, dass das Dasein stets mehrere Wahlmöglichkeiten hat, sein Leben in dieser oder jener Weise zu gestalten.7
Schon in §9 werden zwei grundlegende Existenzweisen unterschieden, die ein Dasein führen kann: die ‚Uneigentlichkeit‘ und die ‚Eigentlichkeit‘. Heideggers Ausgangspunkt zur Diffe- renzierung dieser beiden Begriffe ist der Alltag bzw. das Leben in der ‚Alltäglichkeit‘8. Wenn wir unseren Alltag so betrachten, dann kann man feststellen, dass wir die meiste Zeit einfach so vor uns hinleben; dass wir eigentlich wie programmierte ÄRoboter“ funktionieren. Unser Handeln und Denken scheinen dann nicht aus uns selbst heraus zu erwachsen, sondern sind im Alltag von einer breiten Öffentlichkeit beeinflusst, also von dem, was man gemeinhin tut, meint und sagt. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Man‘, an das wir ‚verfal- len‘ sind.9 In diesem Zustand der ÄDurchschnittlichkeit“10 ist das Dasein ‚uneigentlich‘, weil es sich nicht als solches (als daseinsmäßiges Seiendes) erkennt; oder anders formuliert: Äweil es dem Dasein nicht um sein Sein geht.“ Das vorgeschobene ‚Man‘11 ist nämlich ein ÄNie- mand“, das nicht den Charakter einer Person, eines Menschen bzw. eines Daseins hat, denen ja je eigene Möglichkeiten zustehen. Im Modus der Alltäglichkeit lebt der Mensch nicht seine eigentliche Bestimmung, denn er ist nur ‚Man-Selbst‘. Wie kann sich das Dasein nun Äselbst verwirklichen“ und zum ‚Eigentlichen-Selbst‘ vordringen? Dies ist nur im Modus der Eigentlichkeit möglich.12 Das Dasein erkennt sich als Daseiendes13 nur unter bestimmten - und seltenen14 - Umständen, in denen wir auf uns selbst ‚zurückgeworfen‘ werden: in existenzialen Grenzsituationen. Zweifellos ist der Tod ein derartiges Ereignis. Kein Thema scheint erschreckender und bedrohlicher zu sein als ÄTod und Sterben“. Doch welches genaue Verhältnis hat der Tod bezüglich des Daseins? Welchen ÄBetrag“ leistet er?
Um zu einer Antwort vorzudringen, müssen wir uns zunächst noch auf Heideggers methodischen Ansatz zurückbesinnen.15 Die Besonderheit liegt nämlich darin, dass er von vornherein eine scharfe Trennung zwischen dem ‚Ontischen‘ und dem ‚Ontologischen‘ vornimmt. Dies ist kein verwirrendes Sprachspiel, sondern hat seinen Ausdruck in der Tatsache, wie wir mit den Erscheinungen der Welt umgehen können: So haben Wissenschaften wie Biologie, Medizin, Anthropologie, Theologie, Psychologie und Geschichte die Eigenart, dass sie ihre Gegenstände quasi wie Dinge, also unter dem Gesichtspunkt der Vorhandenheit, betrachten. Sie sind damit zwar in der Lage auf die Frage ÄWas gibt es?“ zu antworten; eine solche ontische Methode - die nur Aufzählungen macht - kann aber nicht genügen, wenn es um das Sein als solches bzw. um den Tod als solchen gehen soll. Eine passende Erklärung dafür liefert der Philosoph Marc Rölli in seinem Aufsatz Metaphysik der Endlichkeit:
In [diesen] Fällen wird das Phänomen des [Seins und] Sterbens übergangen und auf ein bloßes (biologisch-physikalisch definiertes) Verenden oder Able- ben Bezug genommen, das die Seinsweise verkennt, Äin der das Dasein zu seinem Tode ist“ […].16
Ontische Todes- und Seinsanalysen gibt es zuhauf - ontologische Bestimmungen sind rar. Die ontologische Methode setzt sozusagen am Fundament der ontischen Wissenschaften an, in- dem sie die verschleierten Grundbegriffe der Einzeldisziplinen untersucht. Ihr geht es im Be- zug auf Sein und Tod um deren ÄWesenheiten“. Dies lässt sich schwerer fassen als zuvor. Möglich wäre vielleicht zu fragen: ÄWas bedeutet es, x zu sein?“, oder (etwas kantisch): ÄWas
sind die Bedingungen der Möglichkeit von x?“17 Heidegger räumt der ontologischen Perspektive eine Vorrangstellung für die Daseins-Analyse ein. Das Dasein kann eben nur unabhängig von den ontischen Wissenschaften erschlossen werden. Anderenfalls wäre es nichts anderes als ein Tisch oder Stuhl - also ein Ding, ein Vorhandenes.
Dass das Dasein Ämehr“ ist - und von grundlegend anderer Art - als ein Ding, wird einem bewusst, wenn man mit dem Tod konfrontiert wird: ÄDas Dasein kann […] eine Erfahrung vom Tode gewinnen.“18 Heidegger gibt diesem Gedanken besonders ab §47 eine konkretere Form. Dafür wird der Tod zunächst in zwei verschiedene Tode aufgesplittet: 1) Der Tod der anderen und 2) der eigene Tod. Die Untersuchung beginnt mit dem Tod der anderen.
Diese Stelle19 möchte ich etwas pragmatisch umschreiben: Fast täglich nehmen wir den Tod von Menschen wahr, z.B. in den Medien oder auf der Straße. Wir haben uns daran gewöhnt, dass ‚man‘ stirbt; wenn uns die Personen nicht sehr nahe standen, wirft es uns in der Regel auch nicht aus der Bahn. Das ehemals Seiende, was tot ist, wird hier nur unter dem Aspekt der Nicht-mehr-vorhandenheit gesehen. Manchmal gibt es aber Situationen, bei denen wir genau- er Ähinsehen“, z.B. wenn ein Familienmitglied im Sterben liegt oder ein Freund stirbt oder wenn wir einen toten Körper betrachten. Dann regt sich etwas in uns und wir sehen die Welt plötzlich mit anderen Augen:
Der ÄVerstorbene“ […] ist Gegenstand des ÄBesorgens“ in der Weise der Totenfeier, des Begräbnisses, des Gräberkultes. […] Im trauernd-gedenkenen Verweilen bei ihm sind die Hinterbliebenen mit ihm […].20
In dem Moment, wo uns der Tod des anderen Äbewusst“ wird, nehmen wir diesen Verlust nicht mehr nur als ‚Nicht-mehr-vorhandenes‘ wahr, sondern auch als ein ‚Nicht-mehr-in-der- Welt-seiendes‘. Wir erkennen im anderen ein ‚Mitdasein‘ (daseinsmäßiges Seiendes), welches es im Tod nicht gibt, aber welches vom Tod her irgendwie begriffen werden kann. Dabei werden wir mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert. Ich erinnere hier an die §§29-34, wo Heidegger von ‚Stimmung‘, ‚Verstehen‘ und ‚Rede‘ sprach, die das Potenzial haben, das Da- sein zur ‚Eigentlichkeit‘ zu führen. Dass ich mich nach dem Tod eines nahestehenden Menschen in einer besonderen Stimmung befinde21, die Trauer verarbeite (verstehe) und diesen Tod artikuliere, trägt zu einem besseren Verständnis meiner selbst bei, lässt mich mein Dasein als solches besser verstehen. Wie im Zitat 20 steht, Äsind die Hinterbliebenen im trauernd- gedenkenen Verweilen“, und dieses ‚sind‘ ist die Konsequenz und der Betrag des Todes der anderen an mein persönliches Dasein: Ich bin da (in-der-Welt) - der Tote nicht! Aber Hei- degger relativiert diese Position auch: ÄDer Tod enthüllt sich zwar als Verlust, aber mehr als solcher, den die Verbleibenden erfahren.“22 Stimmungen, Gefühle und Verstehensweisen können sich schnell wandeln, bis man letztlich wieder in der Alltäglichkeit verharrt, wo das Sein keinen ontologischen Status mehr hat. Der ganze Charakter des Daseins bleibt mir des- halb beim Tod des anderen unerschlossen; es sind höchstens kurze, verschwommene Momen- te der ÄDaseins-Erleuchtung“ möglich - mehr aber nicht. Wir sprechen dann letztlich doch von einem reinen ÄTodesfall“, der uns als einzelnes Dasein zunächst nicht beanspruchen wird. ÄSo ist der Versuch, das Ganzsein des Daseins phänomenal angemessen zugänglich zu ma- chen, erneut gescheitert.“23
Da der Tod, so Heideggers Feststellung am Anfang des von §49, ein Phänomen des Lebens ist24, und das Leben (begriffen als Dasein) ein persönliches ‚In-der-Welt-sein‘ ist, kann die Bedeutung des Todes nur aus dem Dasein selbst heraus entwickelt werden. Das heißt implizit auch, dass jede Todesanalyse vom Diesseits ausgehen muss und nicht, wie in der (ontischen) Theologie üblich, ein Jenseits veranschlagen darf. Die Projektion des Todes in ein Jenseits verfehlt das eigentliche Phänomen ‚Tod‘, das ja immer einen einzelnen, realen und lebenden Menschen im Hier und Jetzt betrifft. Nur ein Dasein kann sich mit dem Tod beschäftigen und nur einem Dasein kann der Tod auch Äwiderfahren“. Man muss also den am Anfang zitierten Ausspruch von Epikur quasi Äumkehren“: Der Tod geht nur uns etwas an! - Wem sonst?
Was bedeutet aber nun dieser ‚Tod des Daseins‘ für das Dasein selbst? In §53 wird diese Fra- ge beantwortet: Der eigene Tod hat grundlegend andere Implikationen als der Tod der ande- ren. Stellen wir uns dafür vielleicht ein drastisches Beispiel vor: Ein Mensch, der mitten im Leben steht, erfährt von einer bösartigen Krebserkrankung, die ihm nicht mehr viel Zeit zum Leben lassen wird. In einer solchen Extremsituation wird die todgeweihte Person nicht mehr die Ägleiche“ sein wie früher. Das Wissen um das Sterben-Müssen zwingt uns zu einer Ausei- nandersetzung mit dem Thema ‚Tod‘ in einer Art und Weise, die wir nie zuvor so erlebt ha- ben. Es wird einem nach und nach immer mehr bewusst, dass hier nicht irgendwer stirbt, son- dern dass ich es nun bin, der sterben wird. Heideggers berühmter Satz ÄKeiner kann dem An- deren sein Sterben abnehmen“25 ist zwar aus der Perspektive der Alltäglichkeit eine Triviali- tät; in ihm liegt aber für den Sterbenden eine bittere ÄWahrheit“, die nun nicht mehr nur rein ‚faktisch‘ zutrifft, sondern ‚tatsächlich‘ ist. Die Gewissheit der eigenen Endlichkeit wird sich umso mehr aufdrängen, je näher der Sterbende an sein Lebensende heranrückt.26 Die Krank- heit überwältigt ihn zunehmend und er erkennt, dass er nun Äanders“ ist als die ÄLebenden“. Die Palliativmedizin beschreibt diesen Abstand zwischen Sterbenden und Angehörigen als Diversitätserfahrung:
Es fehlt ein sonst stillschweigend vorausgesetztes Grundelement der Gemeinsamkeit […] Auf beiden Seiten wird viel Heuchelei verlangt. Darum auch die gequälten Gespräche an den Spitalbetten. Der Weiterlebende ist froh, wenn er wieder draußen ist, und der Sterbende versucht zu schlafen.27
Es stellen sich nach und nach Depressionen und körperliche Gebrechen ein. Wie erlebt dieser Mensch das? Das Dasein baut eine besondere ‚Stimmung‘ auf und erfährt Ä[da]durch ein befindliches Verstehen.“28 Was versteht es dabei? Sich selbst!
Eine große Bedeutung bezüglich des Daseinsverständnisses wird der Angst beigemessen: sie trifft das Dasein in seiner Mitte29. Weil das Dasein nun mit sich selbst konfrontiert wird30 (ÄJetzt geht es nur und ganz um mich!“), erkennt es sich als das, was es ‚eigentlich‘ auch ist: ein In-der-Welt-sein, und dieses ist immer auch ein sterbendes Sein - ein ÄSein-zum-Tode“31. Der Tod ist eine Möglichkeit des Seins, Ädie je das Dasein selbst zu übernehmen hat.“32 Damit wird das Dasein völlig individualisiert (‚vereinzelt‘), denn der Mensch ist auf sich selbst ‚zu- rückgeworfen‘. Der Tod ist nichts anderes als die Möglichkeit des ÄNicht-mehr-daseinkönnen“33. Aber eine Möglichkeit ist keine Wirklichkeit im Hier und Jetzt. Es gibt keine Al- ternative zum Dasein! Das ‚eigentliche Dasein in seiner Ganzheit‘ hat diese Quintessenz er- kannt.
Interessanterweise konnte die Pionierin der modernen Sterbeforschung, Elisabeth Kübler- Ross (1926-2004), durch ihre dokumentierten Gespräche mit Sterbenden zeigen, dass sich Heideggers Philosophie Äempirisch“ nachvollziehen lässt. Sie erkannte fünf verschiedene Phasen (Five Stages Of Grief), die ein Mensch durchläuft, wenn er eine Erkrankung mit in- fauster Prognose hat:
1) Nicht-wahr-haben-wollen
2) Zorn und Ärger
3) Verhandeln
4) Depression
5) Zustimmung und Akzeptanz
Hervorzuheben ist hierbei, dass auch Kübler-Ross nicht im Äphilosophischen Pessimismus“ verharrt, sondern dass sie dem Tod eine gewisse schöpferische Kraft zuspricht: wer Tod und Sterben akzeptiert, bejaht das Leben als Ganzes. Der Mensch ist dann in der Lage aus sich selbst heraus Sinn und Würde zu bewahren. Oft ist es dann sogar so, dass - wenn die Stufe der Zustimmung und Akzeptanz erreicht wurde - todkranke Menschen am Lebensabend eine besondere Art Zufriedenheit und Weisheit entwickeln. Man hat manchmal den Eindruck, dass diese Menschen ihr Leben am intensivsten leben.
Wir, da wir uns im ganz normalen Alltag befinden, können uns dies nur schwer vorstellen - vielleicht auch unmöglich vorstellen. Dafür müssten wir uns in einer ähnlichen Extremsituati- on befinden wie die Person des obigen Beispiels. Auch wenn wir die Gedankenstruktur nach- vollziehen, bleibt uns das ‚Dasein in seiner Ganzheit‘ merkwürdigerweise doch verschlossen. Oder etwas polemisch gesagt: Unser methodisches ÄProblem“ ist, dass wir nicht todsterbens- krank sind. Erst im Angesicht des eigenen Todes wird sich zeigen, ob Heidegger richtig lag.
Literaturverzeichnis
GRONEMYER, Reimer (1985): Orthothanasie. Vorschläge für einen therapeutisch gesicherten Abgang aus dem Leben. In: Eisenberg, Götz/Gronemeyer, Marianne (Hrsg.): Der Tod im Leben. Ein Lesebuch zu einem verbotenen Thema. Giessen.
HEIDEGGER, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen.
LUCKNER, Andreas (1997): Martin Heidegger: ÄSein und Zeit“. Ein einführender Kommentar. Paderborn u.a.
NOLL, Peter (1984): Diktate über Sterben und Tod. München/Zürich.
RÖLLI, Marc (2007): Metaphysik der Endlichkeit. Heideggers Philosophieren im Schatten des Todes. In: Gehring, Petra/Rölli, Marc/Saborowski, Maxine (Hrsg.): Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute. Darmstadt, S. 171-191.
SAFRANSKI, Rüdiger (2001): Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit [2 Au- dio-CDs, 150 Minuten]. Heidelberg.
[...]
1 Epikur: Brief an Menoikeus 125.
2 Gronemeyer 1985, S. 104.
3 Safranski 2001 [Audio-CD].
4 So interpretiert zumindest Rüdiger Safranski in seinem Hörbuch ÄEin Meister aus Deutschland“ Hei- deggers philosophisches Denken.
5 Heidegger macht diese Unterscheidung nur am Anfang von „Sein und Zeit“ und verwirft diese Trennung dann.
6 Vgl. Heidegger 2006: Sein und Zeit [im Folgenden nur noch als ‚SuZ‘ abgekürzt]: §9, S. 45: „Das ihnen entsprechende Seiende fordert eine je verschiedene Weise des primären Befragens: Seiendes ist ein Wer (Existenz) oder ein Was (Vorhandenheit im weitesten Sinne).“
7 Die mögliche Übersetzung als „Dasein, dem es um sein Sein geht“ greift schon den Gedanken von der ‚eigentlichen Existenz‘ auf, die durch eine besondere Weise des Besorgens/der Sorge „hervorgebracht“ wird. Vgl. hierzu auch Luckner 1997, S. 55: „Wenn ‚Dasein‘ einen größeren Begriffsumfang hat als ‚Selbstbewusstsein‘ (insofern Selbstbewusstsein im Dasein fundiert ist), dann bedeutet dies, daß Dasein auch nicht-bewusst sein kann.“
8 Vgl. ebd., §27 und §§35-38.
9 Vgl. ebd., speziell §27.
10 Ebd., §27, S. 127.
11 Nur der Vollständigkeit halber: Das ‚Man‘ ist auch ein Existenzial, also eine grundlegende Seinsweise des Daseins. In dieser Art ist es ein fundamentales Phänomen, d.h. es macht den Menschen erst zum Menschen.
12 Vgl. ebd., §§29-34: Heidegger meint hier zunächst, dass die ‚Stimmung‘, das ‚Verstehen‘ und die ‚Rede‘ einen wesentlichen Betrag für die ‚Eigentlichkeit‘ leisten.
13 Heidegger nennt es ‚Da-sein‘.
14 Ebd., §27, S. 129: „Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.“
15 Man könnte vorher noch viele weitere Begriffe aus „Sein und Zeit“ herausstellen, wie z.B. ‚In-derWelt-sein‘, ‚Welt‘, ‚zuhandenes Zeug‘, ‚vorhandenes Ding‘, ‚In-Sein‘, ‚Fürsorge‘ und ‚Sorge‘. Aus Platzgründen will ich es aber bei den (wenigen) oben genannten „Vokabeln“ belassen. Diese erscheinen mir auch als die „wichtigeren“ Begriffe bezüglich meines Vorhabens, das Verhältnis von Tod und Sein aufzuzeigen.
16 Rölli 2007, S. 175. Anmerkungen in Klammern von mir.
17 Etwas zugespitzt: Heidegger hätte die ontologische Methode auch ganz einfach „Philosophie“ nennen können.
18 SuZ, §47, S. 237.
19 Vgl . ebd., §47.
20 Vgl. ebd., S. 238.
21 Z.B. Depressionen mit Gedanken von Sinnlosigkeit und Machtlosigkeit.
22 SuZ §47, S. 239.
23 Ebd., S. 240.
24 Oder besser gesagt: „ein Phänomen im Leben ist“.
25 Ebd.
26 Vgl. ebd., §53, S. 265: „Im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode öffnet sich das Dasein für einaus dem Da selbst entspringende, ständige Bedrohung.“
27 Noll 1984, S. 10.
28 SuZ, §53, S. 260.
29 Vgl. ebd., §50, S. 251.
30 Heidegger spricht von der ‚Geworfenheit‘.
31 Vgl. ebd., §53, S. 260.
32 Ebd., §50, S. 250.
33 Ebd.
- Arbeit zitieren
- Sebastian Wendt (Autor:in), 2012, Sein durch den Tod?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204697
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