Die Insel des Dr. Moreau - Utopie im klassichen Sinne?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1. Einleitung

Herbert George Wells (1866-1946), welcher von Oscar Wilde als „wissenschaftlicher Jules Verne“[1] betitelt wurde, zeichnet sich durch ein umfangreiches Gesamtwerk sowie durch politisches Engagement und Vordenkertum aus. Seine Bücher dienen dabei als Mittel der Stellungnahme zu gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit. Insbesondere die Beschäftigung mit Wissenschaft und technischem Fortschritt stellen zentrale Anliegen Wells’ dar und lassen sich in zahlreichen Werken ausfindig machen. Diese Themen verknüpft Wells, im Gegensatz zu Jules Verne, in utopisch angelegten Romanen mit zeitkritischen Positionen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Tendenz, dass die zukunftsorientierten, optimistischen Utopien von negativ angelegten dystopischen Werken nahezu verdrängt wurden. Stephan Meyer betont, dass besonders die Erfahrungen der totalitären Systeme in Europa nach dem II. Weltkrieg dazu führten, dass die Dystopie, auch Anti-Utopie genannt, in den Mittelpunkt der Utopieforschung rückte.[2] Richard Saage argumentiert, dass sich das 20. Jahrhundert mit einer Krise des Fortschrittdenkens konfrontiert sah, weshalb sich das Verhältnis von Mensch und Maschine änderte.[3] Hiltrud Gnüg beschreibt die Verlagerung von utopischen zu dystopischen Werken folgendermaßen: „So wie die Utopien vom besten Staatsmodell auch satirisch die eigene Zeit angreifen, sie gegenüber schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen das Ideal ausmalen, so prangern die Negativutopien, Dystopien oder Warnutopien in satirischer Vergröberung die eigene Zeit von ihrem nicht ausgeführten Konzept einer besseren Welt her an.“[4]

Wells’ Kritik wird besonders in den von ihm verfassten Dystopien deutlich, welche nichts von einem technologischen Zukunftsoptimismus spüren lassen. Bereits sein erster Roman aus dem Jahre 1895 „The Time Machine“ zeugt von einem eher pessimistischen Zukunftsbild. Auch der Roman „When the Sleeper Wakes“ huldigt keineswegs einem technologischen Fortschrittsoptimismus. „Er weist zwar auf die prinzipiellen Möglichkeiten einer durch Technologie weiterentwickelten Zivilisation hin, zeigt aber zugleich den Mißbrauch, den ein machtgieriger Staatsapparat aus einer fortgeschrittenen Technologie zu ziehen imstande ist.“[5]

Der 1896 verfasste Roman „Die Insel des Dr. Moreau“ wird in der Literatur ebenfalls häufig als Dystopie, als Falsifikationsmodell utopischer Idealstaaten, bezeichnet.[6] Der junge, schiffbrüchige Engländer Prendick gelangt durch Zufall auf eine abgelegene Pazifikinsel, auf der der Wissenschaftler Moreau gemeinsam mit seinem Assistenten Montgomery ungewöhnliche Experimente durchführt. Mittels Vivisektionen und Gehirnmanipulationen erschafft Moreau groteske menschenähnliche Wesen aus Tieren und erlegt ihnen einen Gebotskatalog auf. Moreau erhebt sich somit zum Herren über seine Geschöpfe, was dazu führt, dass er seiner Hybris verfällt. Prendick, der die Sinnlosigkeit und Grausamkeit der Vorgänge erkennt, stellt sich dem Wissenschaftler entgegen. Die bizarre gesellschaftliche Ordnung auf der Insel wird durch Prendick in solchem Ausmaß gestört, dass ein unaufhaltsamer Prozess des Niedergangs ausgelöst wird, der schließlich in der Ermordung Moreaus und Montgomerys gipfelt.

Das Ziel der nachfolgenden Arbeit ist es, herauszufinden, ob es gerechtfertigt ist, Wells’ Roman „Die Insel des Dr. Moreau“ als Dystopie zu bezeichnen. Die Auseinandersetzung mit der Utopieforschung führte zu der Beobachtung, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen des Utopiebegriffs vorliegt. Daher ist es unerlässlich, zunächst zu klären, auf welchem Verständnis von Utopie diese Arbeit basiert. Ich beziehe mich auf den klassischen Utopiebegriff, der sich an Thomas Morus’ Werk Utopia aus dem Jahre 1516 orientiert, welches als wegweisend für die Begründung der literarischen Gattung der Utopie gilt. Utopia stellt einen Begriff dar, den Morus als Kunstwort einführte. Er setzt sich aus dem griechischen ou (nicht) und tópos (Ort) zusammen und bezeichnet somit ein Nirgendreich.[7] Stephan Meyer weist in seinem Buch „Die anti-utopische Tradition“ darauf hin, dass Morus’ Wortschöpfung eine Doppeldeutigkeit innewohnt. „Schreibweise und Aussprache lassen es offen, ob die etymologische Wurzel das griechische eu - (schön) oder ou - (nicht) sein soll.“[8] Das Metzler Lexikon Literatur definiert die Utopie als „Entwurf eines idealen Gemeinwesens und Staates, in dem Unglück, Gebrechen und gesellschaftliche Ungerechtigkeit durch soziale, politische, ökonomische, kulturelle Reformen oder Revolutionen in das vollkommene Glück aller verwandelt sind.“[9] Es handelt sich demnach um eine alternative, noch nicht existierende Gemeinschaftsordnung. Richard Saage, Politologe und bedeutender Utopieforscher, bezeichnet Utopien als wirklichkeitsangemessen und zielorientiert. Er geht von der Annahme aus, dass die bestehenden Verhältnisse in eine bessere Ordnung transformiert werden können, wenn den vorherrschenden Institutionen eine durchdachte und rationale Alternative gegenübergestellt wird.[10] Dieser Utopiebegriff, der das Gerüst der nachfolgenden Arbeit darstellt, kann somit klar von dem negativen, alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs im Sinne von „wirklichkeitsfremdes Phantasieprodukt, Hirngespinst oder Wahnbild“ abgegrenzt werden.[11]

Basierend auf Stephan Meyers Typologie anti-utopischen Schreibens[12] soll überprüft werden, ob bzw. inwiefern dystopische Merkmale in Wells’ Roman verwirklicht wurden. Zudem soll eine mögliche Intention Wells’ herausgearbeitet werden. Das abschließende Fazit dient einer Urteilsfindung und der Zusammenstellung der Ergebnisse.

2. „Die Insel des Dr. Moreau“ – Dystopie im klassischen Sinne?

Der nachfolgende Teil dieser Arbeit geht nun der Fragestellung nach, ob es sich bei H. G. Wells’ Roman „Die Insel des Dr. Moreau“ tatsächlich, wie etwa in Henning Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“[13] behauptet, um eine Dystopie handelt. Dazu wird überprüft, inwieweit spezifische Merkmale anti-utopischer Literatur in Wells’ Werk verwirklicht wurden. Angelehnt an Stephan Meyers Typologie anti-utopischen Schreibens, welche er in seiner ideen- und problemgeschichtlichen Darstellung veröffentlichte, werden dabei die zentralen Aspekte berücksichtigt. Angemerkt werden muss, dass es sich bei den einzelnen Elementen lediglich um Variablen handelt, die unterschiedliche Gewichtung und Ausprägung erhalten können. Aus Gründen der Vereinfachung wird im Folgenden teilweise nur von Utopien die Rede sein, auch wenn Dystopien die gleichen Merkmale aufweisen. Dystopien weisen immer utopische Elemente auf, da die Gesellschaft gerade aufgrund dieser Elemente scheitert. Es wird ein Schreckensszenario entworfen, in das Probleme der Gegenwart linear übertragen werden. Können also keine utopischen Merkmale aufgefunden werden, ist es nicht gerechtfertigt von einer Dystopie zu sprechen.

2.1 Isolation

Eines der Hauptmerkmale utopischer Literatur stellt die Isolation dar. Dies wird bereits darin ersichtlich, dass Utopien oftmals als Wunschräume oder als geschlossene Gesellschaften bezeichnet werden. Zudem erfolgt die Erschaffung utopischer Staaten häufig auf Inseln, was auch schon bei Thomas Morus der Fall war. Dies wird in der Forschungsliteratur als Inselmotiv bezeichnet. Durch die Abgrenzung der Zivilisation wird gewährleistet, dass störende Elemente ausgeschaltet werden. Der utopische Staat erhält somit absolute Autarkie, da er unabhängig von fremden Einflüssen ist.[14]

Da bereits der Titel „Die Insel des Dr. Moreau“ auf das Inselmotiv hinweist, erscheint es zunächst offensichtlich, dass das Merkmal der Isolation in Wells’ Roman realisiert wurde. Moreaus Machenschaften ereignen sich auf einer Insel, die als Noble´s Isle bezeichnet wird. Die Insel befindet sich abseits jeglicher Zivilisation inmitten der Südsee und ist somit von fremden Einflüssen unabhängig. Allerdings kann man der Noble´s Isle keine absolute Autarkie zusprechen. Dr. Moreau ist in seiner Forschung auf den Außenhandel angewiesen, da er ständig neue tierische Exemplare für weitere Vivisektionen benötigt. Die Ressourcen der Insel reichen nicht aus, um seine Zwecke zu befriedigen. Auch die Nahrungsquellen der Insel sind sehr begrenzt. Deshalb setzt Montgomery Hasen aus, die er auf dem Festland erworben hat, wodurch die Fleischversorgung gesichert werden soll.

Wachst und mehrt euch, meine Freunde [...]. Füllt die Insel. Bislang haben wir hier ein wenig Mangel an Fleisch gehabt.[15]

Darin zeigt sich deutlich, dass die Insulaner von externen Hilfsmitteln abhängig sind. Die völlige Unabhängigkeit zur Außenwelt und deren Störfaktoren gilt als Grundvoraussetzung für die Schaffung des Idealstaates in klassischen utopischen Werken. Doch darin offenbart sich ein grundlegendes Problem in H. G. Wells’ Roman. Moreaus Experimente verfolgen nicht das Ziel, eine perfekte Gesellschaft in einem vollkommenen Staat zu erschaffen. Vielmehr nutzt er die Einsamkeit der Insel, um sich zum Gott seiner Geschöpfe zu erheben. Dies zeugt von übertriebener Hybris. Er strebt keine Perfektionierung der Gesellschaft an, sondern kreiert mittels naturwissenschaftlicher Experimente Wesen, die ihm unterlegen sind und welche ihn als Schöpfer und übergeordneten Herren ansehen. Die Isolation im utopischen Sinne verliert aufgrund Moreaus mangelnder Zielsetzung ihre eigentliche Bedeutung. Moreau verkörpert die Figur des mad scientists, der ohne erkennbares Ziel grausame Forschungen betreibt. Die Isolation, die in utopischen Staaten dazu dient, Störfaktoren auszuschalten und somit ein ideales Gesellschaftssystem zu errichten, verwendet Moreau, um ungestört seinen Forscherdrang und die damit verbundene Machtposition auszuleben. Gerade durch die Tatsache, dass er seine Experimente vor der Außenwelt versteckt, kann geschlossen werden, dass er sich der moralischen Verwerflichkeit bewusst ist und dass er ahnt, dass er als gewissenloser Wissenschaftler tituliert werden würde. Die Abschottung von der Zivilisation erfolgt demnach nicht, um die Sicherung eines utopischen Staatswesens zu gewährleisten, sondern um Moreau vor der Verachtung der Außenwelt zu schützen. Nur wenn er sich und seine Experimente isoliert, ist es ihm möglich, seine Forschung weiterzuführen.

2.2 Statik

Als weiteres Strukturmerkmal ist die Statik zu nennen. Der Mangel an Wandel resultiert aus der bereits erlangten Perfektion, da der Status der Vollkommenheit bereits irreversibel erreicht wurde. Lars Gustafsson bezeichnet die Utopie passend als Standfoto. Der Augenblick wird für alle Ewigkeit festgehalten und in einem isolierten, geschichtsfreien Raum fixiert.[16] Gustafsson verdeutlicht damit, dass mit gesellschaftlicher auch geschichtliche Statik einhergeht. Zudem trägt die Statik dazu bei, dass allen unvorhersehbaren Einflüsse vorgebeugt wird. Als zulässig gilt nur technischer Fortschritt. Hierbei muss allerdings darauf geachtet werden, dass utopische und dystopische Werke verschiedene Haltungen einnehmen. Während utopische Autoren in vielen Fällen einen ewigen unveränderbaren Frieden anstreben, ist das anti-utopische Denken durch die Ablehnung einer solchen Vorstellung gekennzeichnet. Dystopische Literatur verlangt nach „events [...] for unplanned and disruptive change, for something disturbing and hence memorable.”[17]

[...]


[1] Wells, H. G.: Die Insel des Dr. Moreau. München 2009, S. 185.

[2] Meyer, Stephan: Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. Frankfurt 2001, S. 17.

[3] Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 264.

[4] Gnüg, Hiltrud: Utopie und utopischer Roman. Stuttgart 1999, S. 19.

[5] Ebd., S. 166.

[6] Vgl hierzu: Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung. Stuttgart 2010.

[7] Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard: Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 795.

[8] Meyer, Stephan: Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. Frankfurt 2001, S. 17.

[9] Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard: Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 795.

[10] Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 2f.

[11] Schweikle, Günther; Schweikle, Irmgard: Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 795.

[12] Meyer, Stephan: Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. Frankfurt 2001, S. 33-90.

[13] Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung. Stuttgart 2010.

[14] Ebd., S. 39.

[15] Wells, H. G.: Die Insel des Dr. Moreau. München 2009, S. 40.

[16] Gustafsson, Lars: Utopien. In: Utopien. Essays. München 1970, S. 88.

[17] Kateb, Georg: Utopia and its enemies. New York 1976, S. 119.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die Insel des Dr. Moreau - Utopie im klassichen Sinne?
Hochschule
Universität des Saarlandes
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
23
Katalognummer
V205564
ISBN (eBook)
9783656329541
ISBN (Buch)
9783656331667
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wells, Die Insel des Dr. Moreau, wahre Utopie?, Elemente einer Utopie
Arbeit zitieren
Stefanie Quack (Autor:in), 2012, Die Insel des Dr. Moreau - Utopie im klassichen Sinne?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205564

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