Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Erzähltechniken von „Berlin Alexanderplatz“
2.1 Das Montageverfahren
2.2 Der Erzähler
2.3 Die konkurrierenden Wahrnehmungsperspektiven der Großstadt
3. Die Schauplätze von „Berlin Alexanderplatz“
3.1 Das Milieu der Handlung
3.2 Die Risse im Stadtbild: Der Schlachthof und die Baustelle Alexanderplatz
4. Schluss
5. Verwendete Literatur
1. Die Großstadt in der Literatur
Die Großstadt als Thema wurde vor allem im 19. und 20. Jahrhundert zu einem wichtigen Teilbereich der literarischen Produktion.
Im Zentrum der Großstadtliteratur stehen die unterschiedlichen Erfahrungen des Individuums in der modernen Großstadt. Aufgabe der Großstadtliteratur ist es, diese Erfahrungen literarisch umzusetzen.
Dabei ist die Großstadt nicht mehr bloß eine austauschbare Kulisse, sie steht vielmehr im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Das Thema Großstadt wurde bereits in literarischen Texten thematisiert, darunter in der Reiseliteratur, Lyrik und Essayistik. Versucht man jedoch der komplexen Thematik in der literarischen Darstellung gerecht zu werden, stößt man, wie Volker Klotz in seinem Werk „Die erzählte Stadt“ zeigt, schnell auf Grenzen: Das epische Theater, wie zum Beispiel Berthold Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1928/29), hat sich dem Thema Stadt angenommen. Weitere Versuche wie Albert Camus „L’etat de siège“ (1847) belegen, dass es nahezu unmöglich ist, die Stadt in einem „Stadt-Drama“ auf die Bühne zu bringen.[1] Diese Probleme sind der Tatsache geschuldet, dass es nötig gewesen wäre, die Regeln des Dramas aufzuheben. Wesentliche Strukturmerkmale des Dramas wie Dialog / Monolog, die Abgeschlossenheit der Handlung sowie Beschränkungen in Zeit und Raum bilden einen vorgegebenen Rahmen, in dem es nur schwer möglich ist, die Vielfältigkeit der Stadt angemessen darzustellen. Der Roman, losgelöst von der normativen Regelpoetik, bildet eine geeignetere Gattung. Seine gestalterische Offenheit ermöglicht es, die Großstadt authentischer darzustellen.
Wie im ersten Kapitel meiner Arbeit zu sehen sein wird, ist der Autor nicht auf bestimmte Darstellungsformen festgelegt. So wird in „Berlin Alexanderplatz“ die Großstadt nicht mehr als Teil eines sinnhaften Ganzen dargestellt. Gerade durch den Gebrauch von unterschiedlichen Erzähltechniken wie der Montage, dem Erzählerbericht oder auch inneren Monologen, werden dem Leser das Disparate und Widersprüchliche der Großstadt, die zahlreichen Verstrickungen im Stadtleben und die Reaktionen der Protagonisten vor Augen geführt.
In der Vermittlung zwischen Leser, der Hauptfigur Franz Biberkopf und der Stadt spielt der Erzähler eine bedeutende Rolle und es zeigt sich, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven der Stadt ein ambivalentes Bild verleihen.
Im zweiten Kapitel wende ich mich den Schauplätzen von „Berlin Alexanderplatz“ zu. Es soll aufgedeckt werden, welchen Teil der Stadt Döblin in seinem Roman beschreibt, wie er dieses Milieu zum Leben erweckt und was es prägt. Ein Charakteristikum von „Berlin Alexanderplatz“ sowie von der Stadterfahrung allgemein, sind die ständigen Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und den Menschen. Diese Konfrontationen spiegeln sich auch in den Rissen im Stadtbild. Besonders deutlich erscheinen sie in der Baustelle auf dem Alexanderplatz sowie im Schlachthof.
Im letzten Kapitel fasse ich meine Überlegungen zur Darstellung der Großstadt in „Berlin Alexanderplatz“ kurz zusammen.
2. Die Erzähltechniken von „Berlin Alexanderplatz“
2.1 Das Montageverfahren
Das Prinzip der Montagetechnik wird vor allem am Anfang des zweiten, vierten, fünften und siebten Buches umgesetzt. Laut Harald Jähner sieht Alfred Döblin die Aufgabe eines epischen Schriftstellers im „Schichten, Häufen, Wälzen, Schieben“[2]. Im Roman erweckt der Erzähler die Großstadt Berlin durch das Zusammensetzen von zahlreichen einzelnen Bruchstücken zum Leben und überträgt somit ein Fertigungsverfahren aus dem industriellen Kontext in den literarischen Bereich. Die unterschiedlichen akustischen, optischen als auch schriftlichen Einzelstücke werden aus ihren ursprünglichen Kontext entnommen und in den Romantext eingesetzt. Dabei wird der besondere Status dieses „Zitats“ aber nicht hervorgehoben. Es wird ohne Hinweise, wie zum Beispiel durch das Setzen von Anführungsstrichen, und ohne Bearbeitung in den Text integriert. Somit entsteht für den Leser ein Durcheinander von Informationen und Eindrücken, die analog zu den Eindrücken in einer modernen Großstadt gesehen werden können. Mit Hilfe dieser Technik kommt der Leser dem Durcheinander auf den Schauplätzen in „Berlin Alexanderplatz“ sehr nah und er ist in der Lage, die Eindrücke und Stimmungen in den Straßen aufzuschnappen und individuell zu verarbeiten. Dies entspricht auch dem Charakteristikum des Kinostils. Durch die kommentarlose Wiedergabe der Umgebung mittels der Montagetechnik ist es dem Leser möglich, das gerade Gelesene wie einen Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen.
Döblin benutzt die Montagetechnik allerdings nicht ausschließlich für die Darstellung Berlins. Im ersten Buch steht zunächst noch ein nahtlos in den Text eingefügter wissenschaftlicher Bericht zur sexuellen Potenz in Bezug auf Biberkopfs Schwierigkeiten bei dem Besuch von zwei Prostituierten.
Das zweite Buch beginnt mit einem Auszug der biblischen Geschichte um Adam und Eva im Paradies. Der Auszug beschreibt den Aufenthalt in einer wunderschönen Umgebung. Da dieser bekanntlich nur von kurzer Dauer ist, kann dieser Ausschnitt als Vorbote für Biberkopfs baldiges Scheitern gesehen werden. Daraufhin folgt ohne Abgrenzung oder Kommentar ein Ausschnitt, der an ein Kinderlied erinnert. Anschließend wird die Stadt durch die Montage unterschiedlicher Fragmente von ihrer institutionellen Seite dargestellt: Es folgen Piktogramme großer Berliner Einrichtungen wie zum Beispiel von Handel und Gewerbe, Tiefbau, Verkehr, Finanz und Steuerwesen. Die Piktogramme stellen den optischen Versuch einer übersichtlichen Ordnung dar, denn diese Institutionen verdeutlichen, aus welchen unterschiedlichen Bereichen sich die Großstadt zusammensetzt. Nahtlos werden unter anderem drei behördliche Aushänge, Wettermeldungen, die Straßenbahnhaltestellen der Linie 68, Informationen zu Verkehrsunternehmen, Fahrscheinpreise, Informationen zum Beförderungsmittel und ein Auszug aus dem Telefonbuch von 1928 zum Stichwort AEG. ohne weitere erklärende Beschreibungen zusammenhangslos einmontiert. Dabei bedient sich der Erzähler unmittelbar am Material der Stadt:
„Eine Vielzahl der Bauelemente sind dokumentarischen Ursprungs; sie sind im Stadtbild, in Zeitungen, Gebrauchsanweisungen, Akten, Briefpost etc. aufgefunden worden und werden nun ‚mit Kleister und Schere‘ (65) montiert-[…].“[3]
Anschließend werden in der Invalidenstraße kurze Gesprächsfetzen beschrieben, auf weitere Erläuterungen wird auch hier verzichtet. Es geht nur darum, den akustischen Eindruck der Szene zu vermitteln. Sprachliche Fragmente tauchen plötzlichen auf nur um sofort wieder von einem Neuen ersetzt zu werden:
„-Guten Tag, auf Wiedersehn.- Hat der Herr was zu tragen, 50 Pfennig.- Sie haben sich aber gut erholt. – Ach die braune Farbe vergeht bald. – Woher die Leute bloß das viele Geld zum verreisen haben.“[4]
Die drei Aushänge, die unterschiedlichste Bereiche des Großstadtlebens erfassen, sind geprägt durch ihre Behördensprache einzelne Beispiele dafür, dass das Leben in der modernen Großstadt in fast allen Bereichen von der Bürokratie beherrscht wird.[5] Fast alle Einschübe im zweiten Kapitel tragen zur Beschreibung der Stadt Berlin bei, Biberkopf bleibt außen vor:
„Denn es umfasst möglichst alle Einrichtungen dieser Großgemeinde, ungeachtet dessen, ob vorher oder nachher Biberkopf in seiner Geschichte davon betroffen ist oder nicht. Unabhängig also von seiner Relevanz für den personalen Partner, macht sich der kollektive als ein selbstständiges Gefüge geltend.“[6]
Sehr treffend fasst Volker Klotz zusammen, dass diese Beschreibungen einem Informationsblatt entnommen sein könnten, das dem Ortsfremden die Orientierung in der Stadt erleichtern soll. Sie liefern einen Eindruck der Vielschichtigkeit des städtischen Lebens und zeigen, wie eng das Leben in der Stadt vernetzt ist:
„Die Großstadt als >>Korallenstock für das Kollektivwesen Mensch<<. In ihrer kompliziert geräumigen Apparatur ist auf offenen wie verdeckten Bahnen vieles durch vieles andere bedingt; sind die Menschen von den technisch-sozialen Einrichtungen, sind die Einrichtungen von den Menschen abhängig, wechselweis einander bedienend, um überhaupt nach den hier gestellten Anforderungen bestehen zu können.“[7]
Deutlich wird, dass diese Vernetzungen erst das Leben in der Großstadt im Vergleich zu kleineren ländlichen Lebensräumen möglich machen.
Die Stadtaufrisse bleiben immer nur ein zufälliger Ausschnitt, sie erheben nicht den Anspruch, die Stadt als Ganzes fassen zu wollen. Auch der Anfang des vierten Buches ist mit zahlreichen einmontierten Textteilen versehen: Der Leser wird durch die Straßen um den Alexanderplatz geschickt. Die Eindrücke erinnern auch hier wieder an ein filmisches Darstellungsverfahren. In hoher Geschwindigkeit wechseln sich Erwähnungen der Geschäfte, der unterschiedlichsten Schildertafeln sowie Werbeslogans ab und vermitteln so gleichzeitig das Tempo des Stadtlebens. Diese Aneinanderreihung nimmt im Kapitel „Eine Handvoll Menschen um den Alex“ mehr als eine Seite in Anspruch. Ebenso spielt die Montage der Zeitungsschlagzeilen in den Romantext eine wichtige Rolle in der Beschreibung Berlins. Die Schlagzeilen der Lokalblätter zeigen mit welchen Einflüssen des Weltgeschehens die Menschen sich in der Großstadt Berlin konfrontiert sehen, wie es um das politische Klima in der der Stadt bestellt ist und verdeutlichen so einen weiteren Aspekt der Komplexität der modernen Welt.
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[1] Vgl.: Klotz, Volker: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von
Lesage bis Döblin. Reinbek. 1987. S.14
[2] Jähner, Harald: Erzählter, montierter, soufflierter Text. Zur Konstruktion des Romans
„Berlin Alexanderplatz“. Frankfurt/ M. u.a. 1984. S.115
[3] Jähner, Erzählter, montierter, soufflierter Text, S. 36
[4] Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München:
dtv 2001. S. 53
[5] Vgl. Stühler, Friedbert: Totale Welten: der moderne deutsche Großstadtroman.
Regensburg. 1989. S. 46
[6] Klotz, Die erzählte Stadt, S. 375
[7] Ebd., S. 378