Das Verhältnis von Arbeit und Liebe in Irmgard Keuns „Gilgi – eine von uns“ und Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“


Bachelorarbeit, 2011

38 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Lektürehinweise

1 Einleitung

2 Wie die Frau zur Neuen Frau wurde – Leben zwischen Medienmythos und Weimarer Wirklichkeit

3 Irmgard Keuns „Gilgi – eine von uns“
3.1 Konzeption des Romans
3.2 Die Entwicklung der Protagonistin
3.2.1 1. Phase: Die „Stenotypistin Gilgi“
3.2.2 2. Phase: Die „kleine Dame Gilgi“ in der Identitätskrise
3.2.3 3. Phase: „Läuterung“ und Rückbesinnung
3.3 Zwischenfazit I

4 Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“
4.1 Konzeption des Romans
4.2 Arbeit und Liebe im „Käsebier“
4.3 Die Protagonistinnen
4.3.1 Fräulein Doktor Kohler – ein Leben in der falschen Zeit?.
4.3.2 Käte Herzfeld – das „körperbetonte Prinzip“
4.4 Zwischenfazit II

5 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Lektürehinweise

Über folgende Punkte möchte ich kurz eine Erklärung abgeben, um Missverständnisse bei der Lektüre dieser Arbeit zu vermeiden:

- Die Nachnamen der Verfasser der Sekundärliteratur sind in Kapitälchen wiedergegeben, um sie optisch vom Text abzuheben. Davon nicht eingeschlossen sind dementsprechend die Namen der Autorinnen Keun und Tergit.
- Im Text wird stets die Rede von der bzw. die Leser in in Bezug auf die zeitgenössischen oder heutigen Rezipient(inn)en der untersuchten Romane sein, da – vor allem für die Zeit der Ersterscheinungen in den frühen 1930er Jahren – von einer größeren Anzahl weiblicher Leser auszugehen ist. Diese Formulierung schließt jedoch in den meisten Fällen alle Leser der Romane ein.
- Während die Quellen zur Forschungsliteratur durch Fußnoten angegeben werden, stehen Textbelege zu Auszügen der Primärliteratur jeweils direkt hinter den Zitaten. Dabei stehen die Abkürzungen „G“ und „K“ für die Romantitel. So ist etwa das Zitat mit dem Verweis „(G: 20)“ auf Seite 20 des Romans „Gilgi – eine von uns“ zu finden, „(K: 35)“ steht für ein Zitat auf der Seite 35 aus „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“.

Die Verfasserin

1 Einleitung

Die Endphase der Weimarer Republik – die Goldenen Zwanziger sind längst vergangen, das Deutsche Reich ist gebeutelt durch Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit, die politische Landschaft geprägt von zunehmenden Erfolgen der Nationalsozialisten am Vorabend ihrer Machtübernahme. Bald schon wird unter der Leitung Adolf Hitlers die Rückkehr zu „deutschem Gedankengut“, „traditionellen“ Wertemodellen und „altbewährten“ Familienkonzepten propagiert werden und die emanzipierte Neue Frau Geschichte sein. Doch noch ist es allgegenwärtig: das Bild der unabhängigen, selbstbewussten und modernen Frau, die in Gestalt der jungen Angestellten, Akademikerin und befreiten Liebhaberin das Großstadtleben prägt. Entstanden in einem Wechselspiel von Massenmedien und Wirklichkeit, mischt dieser weibliche Idealtyp die Gesellschaft auf und wird zum Vorbild für Tausende junger Frauen in Berlin, Köln, Hamburg und München.

Die scharfsinnigen Beobachterinnen Gabriele Tergit und Irmgard Keun verstanden es, die Weiblichkeitsentwürfe aus Romanen, Filmen, Werbung und Illustrierten mit denen der (ihrer Wahrnehmung nach) reellen Verhältnisse literarisch zum Bild einer Neuen Frau zusammenzusetzen, deren eine oder andere Wunschvorstellung für das Leben als utopisch entlarvt werden muss. Ihre Werke stehen in dieser Arbeit repräsentativ für die neusachlichen Texte weiblicher Autoren der Weimarer Republik, zu denen neben Keun und Tergit beispielsweise auch Vicki Baum und Marieluise Fleißer gehören. Ihre Re­präsentantinnen zeitgenössischer Weiblichkeit sind geprägt durch einen Zusammenprall von gefestigten, bisher bewährten Lebenskonzepten mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft oder dem Widerstand ihrer konservativen männlichen Zeitgenossen: Gilgi, die als „eine von uns“ für die Angestellte schlechthin steht und mit sich den Konflikt zwischen Arbeitswut und Liebestaumel auszutragen hat, Fräulein Doktor Kohler, als unglücklich verliebte Akademikerin gefangen zwischen traditionellen Wertvorstellungen und der eiskalten Realität der Moderne, und schließlich die emanzipierte Käte Herzfeld, die mit allen Mitteln ihre „Prinzipien“ gegen die Zeitumstände zu verteidigen versucht und dabei nicht ohne faule Kompromisse auskommen kann. Diese Konflikte lösen in den Figuren eine innere Zerrissenheit aus, die starken Einfluss hat auf das Verhältnis von privatem und gesellschaftlichem Leben, von sachlichem und unsachlichem Denken, von Arbeitsmoral und Leidenschaft – oder, kompakt erfasst, von Arbeit und Liebe.[1] Die Kernfragen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, lauten demzufolge: Schließen sich (echte) Liebe und die Erfüllung der Ansprüche, die die Arbeitswelt in der späten Weimarer Zeit an ihre Mitarbeiter stellt, in den untersuchten Romanen kategorisch aus? Bedeutet sachliches und aufstiegsorientiertes Denken Anfang der dreißiger Jahre zwangsläufig eine Absage an die Liebe? Wenn das der Fall ist: Kann es eine Lösung für dieses Dilemma geben? Welche alternativen Liebes- und Lebenskonzepte legen die Texte Keuns und Tergits der Leserin (ironisch) nahe, wenn sie das medienvermittelte Idealbild der Neuen Frau und ihres perfekten Lebensentwurfs zum Scheitern verurteilen?

Beiden Romanbearbeitungen wird eine kurze Einführung in Form einer Konzeptionsbeschreibung zugrunde gelegt, die eine reflektierte Aufnahme und Verarbeitung der darauf folgenden Figurendarstellungen ermöglichen soll. Im Falle des Keunschen Textes „Gilgi – eine von uns“ werden anhand der starken Entwicklung, die die Protagonistin durchlebt, zwei Haupterklärungen dafür geliefert, warum Arbeit und Liebe in ihrem Falle unvereinbar sind. Die Figuren Kohler und Herzfeld aus Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ werden, da ihre Charaktere völlig unterschiedlich angelegt sind, getrennt voneinander untersucht. Hierbei wird vor allem auf die individuellen Persönlichkeitsmerkmale und Lebensumstände der Figuren eingegangen, um ihre Fälle des Scheiterns der (wahren) Liebe unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen zu erklären. Die Schlussdarstellung bietet eine Zusammenfassung und Auswertung der gesammelten Ergebnisse aus beiden Romanbearbeitungen, um so möglichst umfassende Antworten auf die eingangs gestellten Fragen geben zu können.

Um einen besseren Einstieg in die Thematik zu ermöglichen, liefert das nun folgende Kapitel einen Überblick zu den realen Lebensbedingungen der Frau in der späten Weimarer Republik und der literarischen Herangehensweise der neusachlichen Romane. Vor diesem Hintergrund wird es möglich sein, die Lebensumstände der Figuren Keuns und Tergits an der Wirklichkeit zu messen.

2 Wie die Frau zur Neuen Frau wurde – Leben zwischen Medienmythos und Weimarer Wirklichkeit

Die Idee des „neuen Weibes“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch klar an die politischen Visionen der proletarischen bzw. radikalen Frauenbewegung geknüpft.[2] Erst nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Frauen zunehmend Männertätigkeiten ausüben mussten und dies auch zu leisten wussten, zeigten sich soziale und politische Erfolge für die „breite Masse“.[3] Dazu zählen das Wahlrecht, der Versuch der Geburtenkontrolle und, als zentraler Punkt, die Erwerbstätigkeit, der vor allem innerhalb der Großstädte in den zwanziger Jahren immer mehr Frauen nachgingen. Signifikant stieg mit dem technologischen Fortschritt in der Büroarbeit insbesondere der Anteil weiblicher Angestellter, die als „rationalisierte Arbeitskraft par excellence“[4] (da die jungen, kaum qualifizierten Frauen bei sehr hoher Produktivität wenig verdienten) von den Unternehmen bevorzugt eingestellt – und in Krisenzeiten entlassen – wurden. Mitte der zwanziger Jahre gab es in der Republik fast 1,5 Millionen weibliche Angestellte – dreimal mehr als noch 1907 – und 1930 betrug der Frauenanteil in diesem Berufszweig 37 Prozent.[5] Trotzdem darf, wie Grossmann betont, nicht von einer Invasion von Frauen in männliche Arbeitsdomänen ausgegangen werden; vielmehr institutionalisierte sich eine moderne, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.[6]

Zwar waren die weiblichen Angestellten finanziell schlechter gestellt als ihre männlichen Kollegen und mussten mit weiteren Formen der Hierarchisierung am Arbeitsplatz kämpfen. Gleichwohl gewann die berufstätige Frau in den zwanziger und dreißiger Jahren eine völlig neue Form von Selbstbewusstsein, allein durch die Tatsache, dass sie eigenständig einen Beruf ausüben konnte, Zugang zu höherer Bildung hatte und in zuvor nie dagewesener Weise ihr Leben in die eigenen Hände nehmen konnte.[7]

Zumindest für Töchter aus besseren, vor allem bildungsbürgerlichen Kreisen bestand seit 1909 in allen deutschen Staaten endlich auch die Möglichkeit, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Allerdings mussten sie sich auch hier Vorurteilen, Diskriminierungen und Konflikten stellen, in die sie mit einem bisher als männlich betrachteten Lebensentwurf gerieten.[8] Zudem war die Arbeitsmarktsituation für Akademikerinnen seit Ende der zwanziger Jahre alles andere als rosig. Trotzdem stiegen die Zahlen der Studentinnen seit Öffnung der Universitäten für Frauen kontinuierlich an. Bis zum Wintersemester 1924/25 betrug der Anteil der weiblichen Immatrikulierten an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin immerhin 15 Prozent, im Jahr 1932 waren es bereits 23,3 Prozent (diese Werte lagen etwa 5 Prozent über dem Reichsdurchschnitt).[9] Erste, wichtige Grenzüberschreitungen waren somit getan.

In dieser Phase entwickelte sich auch der soziale Typus der selbstbewussten Neuen Frau, den die Medien und die Konsumwelt der neuen Republik aufnahmen und zu einem Massenphänomen und „vieldiskutierten Prototyp der Modernisierung“[10] gestalteten. Diese Frauen machten zum Teil glänzende Karrieren und zeichneten sich durch Selbstständigkeit, Arbeitseifer, körperliche Fitness und Begeisterung für die urbane Freizeitwelt aus. Wie Grossmann verdeutlicht, handelt es sich bei der Neuen Frau jedoch nicht nur um einen Medienmythos, sondern eine gesellschaftliche Realität, die erforscht und – anhand der neuen Einflussmöglichkeiten von Frauen in Politik und Gesellschaft – auch dokumentiert werden konnte.[11] Zwar verfügten aus finanziellen Gründen oft nur großbürgerliche und adelige Frauen über die Möglichkeit, einen Lebensstil abseits der Norm zu führen und am uneingeschränkten Konsum der neuesten Mode sowie an Kultur, Unterhaltung und Freizeit teilzunehmen. Doch das in der Öffentlichkeit durch Filme, Werbung, Schlagertexte und Romane propagierte Bild der „modernen Frau“ veranlasste auch viele Frauen aus der Arbeiterklasse zur Nachahmung. Hängekleid, Zigarette und der Bubikopf wurden bald zu obligatorischen Modeerscheinungen einer ganzen Generation.

Vor allem der in den Medien präsentierte Typ der Neuen Frau war ausdrücklich nicht nur Konsument der Massenkultur, sondern auch Produzent der eigenen Identität.[12] Zum neuen Selbstbewusstsein gehörte auch eine gewisse Absage an alte Werte wie etwa den Familiensinn: Nicht oder noch nicht verheiratet zu sein, wird von Grossmann als ein „großer Vorteil für das eigene Freizeitbudget“[13] der jungen Frauen beschrieben. In diesem Zusammenhang kommt auch die Diskussion um die weibliche „Gefühlskälte“ in den neusachlichen Romanen auf, deren Protagonistinnen oft mütterliche Fürsorge vermissen ließen. Die Haltung realer Frauen gegenüber der Familie beschreibt Grossmann als „ambivalent“.[14] In einer Studie von 1932 lehnten zwei Drittel der befragten jungen Frauen die Heirat ab.[15] Ein Leben als Hausfrau und Mutter wurde nicht mehr als Erfüllung der weiblichen Identität angesehen, sondern in der Tat als Einschränkung von Freiheit und Selbstständigkeit. Statistiken zeigen jedoch, dass der Großteil dieser jungen Frauen letztlich trotzdem heiratete und wenigstens ein Kind bekam.[16]

Abgesehen von der Verfolgung des Trends, dem althergebrachten Ehekonzept eine Absage zu erteilen, blieb vielen Frauen in der an „Männermangel“ leidenden Weimarer Zeit auch kaum etwas anderes übrig, als eigene Lebensideale für sich zu entwickeln und so dem Bild der emanzipierten, selbstständigen Frau zu folgen:

Sie wollen und müssen für sich allein verantwortlich sein. Die meisten sind vater- oder elternlose Mädchen und Frauen ohne Männer, denen wie den Kriegerwitwen oder dem verarmten Mittelstand direkt oder im übertragenden Sinn der Versorger fehlte. […] Aber das ist für die Frauen kein Problem: sie selbst möchten die Rolle des Versorgers für sich und die Kinder übernehmen.[17]

Zu Beginn der dreißiger Jahre befand sich die Weimarer Republik in einem krisenhaft zugespitzten Endstadium. Nicht nur im politisch-sozialen, sondern auch im kulturellen Bereich verschärften sich die Spannungen; die latenten antidemokratischen und reaktionären Tendenzen erhielten Auftrieb, konservative Positionen schoben sich in den Vordergrund und verdrängten die auf eine westlich-moderne Gesellschaft ausgerichteten Erwartungen.[18]

In der Literatur der Neuen Sachlichkeit werden die von der Zeit geforderten „Anpassungsmaßnahmen“ aufgegriffen; ihre Autoren kreieren Figuren und Verhaltenslehren, die von neuen demokratischen Freiheiten, Kapitalkonzentration, Arbeitslosigkeit und Inflation ebenso geprägt sind wie von politischer Polarisierung und Gewalt.[19] Die Literatur erhielt in dieser Phase einen Platz als „Gebrauchskunst ohne kulturaristokratischen Nimbus“.[20] Sie sollte akute Zeitfragen und aktuelle Gegenstände behandeln, unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit in die Gesellschaft hineinwirken, aufklären und dadurch Anstöße zu Veränderungen geben.[21]

Auch weibliche Autorinnen wie Keun und Tergit verfolgen in ihren Romanen in etwa dieses Konzept, treten dabei jedoch deutlich der bisher männlich dominierten Sachlichkeit, wie sie sich in den bis dahin auftretenden Frauenfiguren, den „Girls“ der Ange­stelltenromane zeigt, entgegen. „Sie geben zu bedenken, ob der neusachliche Männlichkeitskult nicht letzten Endes dazu dient, die Frau zu verurteilen, die Sachlichkeitsideale, an denen die männlichen Helden scheiterten, ihrerseits realisieren zu müssen.“[22] In den Texten der weiblichen Autorinnen kamen Frauen als Produzentinnen und nicht nur als passive Empfängerinnen zeitgenössischer Weiblichkeitsimagines in den Blick[23] – und das offenbar auf eine sehr glaubwürdige Art und Weise: Allzu oft wurden diese Romane, wie sich z. B. in Rezensionen zu Keuns Werken zeigt, im buchstäblichen Sinn für Gegenwartsliteratur gehalten, deren fiktionale Aussagen direkt an der faktischen Wirklichkeit messbar sind. Gerade diese (vermeintliche) Publikumsnähe der Autorinnen und ihrer Protagonistinnen war es wohl auch, die den enormen kommerziellen Erfolg der Texte bei den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern ausmachte.[24]

3 Irmgard Keuns „Gilgi – eine von uns“

3.1 Konzeption des Romans

In einem Punkt sind sich Barndt, Lickhardt und Rosenstein einig: Irmgard Keun verfügte über außerordentliche Qualitäten des Beobachtens. Sie stellte fest, dass das Leben nach einem bestimmten Stereotyp für die Frauen ihrer Zeit zu einem Muss geworden war und sich die Neue Frau zu einem Klischee ihrer selbst entwickelte, das jede Originalität ausschloss. Dieses öffentliche Klima ist Schreibvoraussetzung für ihren Roman „Gilgi – eine von uns“.[25] Wie aus Briefen bekannt ist, fand Keun in populären Illustrierten unmittelbar Stoffe und Anregungen für ihre Arbeit; zudem ist davon auszugehen, dass sie einige vorangegangene Romane mit ähnlicher Thematik rezipiert hatte. Aus diesem Grund ist ihrem Text eine übergeordnete Perspektive zuzusprechen, die einen gleichrangigen Vergleich der Figuren in „Gilgi“ mit denen älterer Romane nicht zulässt. 1931 war Keun zeitlich zu deren Reflexion befähigt, zumal Frauenbilder in der Weimarer Republik nicht nebenbei oder implizit konstruiert wurden und von der Autorin nicht erst abstrahiert werden mussten, sondern allgegenwärtig waren. Deshalb stand ihr bei der Figurenkonstruktion ein „universales Archiv“ von Frauentypen zur Verfügung.[26]

Keuns Hauptfigur ist als eine spielerische Reproduktion von Bildern, Stereotypen und Klischees angelegt. Indem der Erzähler die Protagonistin als „das Mädchen Gilgi“, „die Stenotypistin Gilgi“ und schließlich als „die kleine Dame Gilgi“ vorgestellt, bewegt er sich demonstrativ in öffentlich vorgezeichneten Grenzen der Weiblichkeitsimagination.

Der Roman insistiert auf Wiederholung und Bekanntheit und macht dadurch auf die grundsätzlichen Limitationen der realen, vor allem aber der medialen und literarischen Weiblichkeitsentfaltung aufmerksam.[27] Er birgt also keine kulturpessimistischen Tendenzen, wie Lickhardt betont – Gilgi wird nicht als Opfer ihrer Arbeit dargestellt, sondern als Konstrukt der um Frauen gesponnenen massenmedialen Leitbilder.[28]

Die bewährte Mixtur aus Erotischem und Sozialem greift Keun auf; auch werden die jeweiligen Wunschbilder nach „großer Liebe“ und „Karriere“ zunächst durchaus ernst genommen. Sie begnügt sich jedoch nicht mit der problemlos-gefälligen Kombination dieser Elemente, sondern nutzt sie als Ausgangsbasis für ihre Wirklichkeitsbilder. Darin, dass sich die Wunschträume der Figur Gilgis an der Realität reiben und das Happy End ausgespart bleibt, vollzieht sich schließlich der Bruch mit den Vorlagen aus Illustrierten-Romanen und Filmen.[29] Trotz oder gerade wegen dieser entscheidenden Abweichungen wurde Keuns Roman einer der meistgelesenen und -diskutierten der Weimarer Republik. Barndt führt das auf die gekonnt eingesetzten Strategien der Authentisierung zurück, die den zeitgenössischen Leserinnen die Möglichkeit zur Identifikation mit den Figuren ermöglichten. Die Autorin nimmt sich der Gestalt der „kleinen Büroangestellten“ an und setzt sie anhand von teils alltagsrealistischen, teils dramatisch zugespitzten Handlungselementen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem sachlich-nüchternen Lebenskonzept aus. Über die Sprach- und Lebenswelten der zahlreichen Nebenfiguren schafft sie einen Mikrokosmos an gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der Protagonisten des Klein- und Großbürgertums ebenso präsent sind wie Bohemiens und Angestellte, Schriftsteller und Prostituierte. Indem sie Realitätspartikel wie Namen von Politikern und Stars, Schlagertexte und Operettenmelodien, Filmtitel der Jahre 1931/32 und Werbesprüche einstreut, stellt sie für Zeitgenossen einen nachvollziehbaren Bezug zur faktischen Wirklichkeit her, sodass die fiktionale Beschaffenheit der Handlungen und Figuren aus dem Blick gerät. Barndt setzt diese Strategien bewusst ab von einem unreflektierten Wahrheitsdiskurs, der sich auf der Suche nach der „echten“ Wirklichkeit des Romans als historischer Quelle bedient. Denn die Suche nach der historischen „Wahrheit“ weiblicher Lebenswelten am Ende der Weimarer Republik dominiert bis heute das Interesse an Keuns frühen Romanen.[30]

3.2 Die Entwicklung der Protagonistin

3.2.1 1. Phase: Die „Stenotypistin Gilgi“

Die 21-jährige Gisela „Gilgi“ Kron wird der Leserin als „das personifizierte neusachliche Lebensgefühl“, als „durch und durch synthetische Figur“, vorgestellt.[31] Sie verkörpert ganz bewusst eine Alltagsheldin, die in ihrer Mädchenhaftigkeit weniger die Extreme als vielmehr den Idealtyp der Neuen Frau zu spiegeln scheint.[32] Gerade aus ihrer ausdrücklichen Durchschnittlichkeit macht sie ein Programm und „torpediert damit jene konventionelle Projektion, die der außergewöhnlichen Gestalt, dem Helden mit den besonderen Merkmalen und den besonderen Fähigkeiten die Lösung aller Probleme überträgt, die sich dem durchschnittlichen Protagonisten stellen“:[33]

‚Ich hab’ keine Talente […], ich bin allgemeiner Durchschnitt und bring’s nicht fertig, deswegen zu verzweifeln. Aber was ich aus mir machen kann, will ich machen. Ich werd’ immer arbeiten und immer was Neues lernen, und gesund und hübsch will ich bleiben, solange es eben geht […].‘ (G: 48)

Sowohl in Gilgis Äußerem als auch in ihrer Lebenseinstellung bündeln sich populäre Bilder moderner Weiblichkeit, die für die Weimarer Generation junger Frauen von Bedeutung waren.[34] So pflegt sie ihre knabenhaft schlanke Figur mit täglichem Frühsport, trägt den obligatorischen Bubikopf, ist modebewusst und als Stenotypistin „schnell, sauber und fehlerfrei“ (G: 12) – wie auch ihr ganzes Leben „wie eine sauber gelöste Rechenaufgabe“ (G: 48) sein soll. Abends besucht sie Sprachkurse in Englisch, Französisch und Spanisch, denn sie ist – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – sehr auf ihr Fortkommen bedacht und hat klare Vorstellungen für die Zukunft. Ihre Sehnsüchte formuliert sie praktisch und sachlich: „Ich will arbeiten, will weiter, will selbständig und unabhängig sein.“ (G: 47) – dafür braucht sie niemanden und glaubt an das, was sie mit ihrem „bißchen Verstand“ (G: 40) selbst schafft.[35] Ebenso gut weiß sie, was sie nicht will: „[A]ch, sie ist noch jung, und außer Ehe, Filmschauspielerin und Schönheitskönigin zieht sie jede Existenzmöglichkeit in Betracht.“ (G: 16). Jede Hürde, die sich Gilgi in den Weg stellt, will sie im Laufschritt nehmen und sich von gesellschaftlichen Vorurteilen oder Missständen nicht aufhalten lassen. „Jeder für sich, Gott für uns und alle“ – das ist ihr Wahlspruch, der wenig Platz für Mitleid mit anderen lässt: „Man sollte auf niemanden etwas geben. Vielleicht ist sie lieblos. Sie will es auch sein.“ (G: 58). Sie ist „keine sentimentale Gans, sie braucht niemanden, kommt allein durch. Sie weiß, was sie will, und kann, was sie will.“ (G: 62).

Auch die Liebe ist für sie zu Beginn des Romans kein Anlass, sich stärker auf jemanden einzulassen oder gar in eine Abhängigkeit zu begeben, sondern vielmehr ein Zeitvertreib, in den kein unnötiges Gefühlskapital investiert wird:[36]

Netter Junge. Wie war noch sein Vorname? Weiß sie nicht. Geküßt hat er sie gestern Abend im Auto. Heute reist er wieder ab. Schade? Ach wo. Aber nett war es gestern mit ihm. Lange hatte er sie nicht mehr geküßt […]. Der Junge war nett. Der Kuß war nett. Nicht mehr. Er brennt nicht nach. Gut so. (G: 6)

Begegnungen wie diese dienen ihrem Wohlergehen, denn anscheinend gehört es zum Leben dazu, auch einmal zu küssen. Gefühle hingegen betrachtet sie als potenzielle Störungen ihres Gleichgewichts und werden – falls vorhanden – keinesfalls gezeigt. Jede Form der Selbstreflexion ist Gilgi unangenehm, sie verweigert sich dem Nachdenken über ihre eigene Situation, denkt lieber in Schlagertexten, in vorgeformten Schablonen.[37] Jeder Situation begegnet sie kühl und sachlich, auch die Männer bleiben für sie stets berechenbar. So wird auch das beliebte Motiv der „Chef-Sekretärin-Liaison“ (die populärste Verbindung zwischen Arbeit und Liebe in Romanen der Weimarer Zeit) in Keuns Text nur aufgegriffen, um Gilgis Fähigkeit zur Entlarvung und nüchternen Ein­ordnung männlicher Interessen darzustellen: Als ihr verheirateter Chef, Herr Reuter, ihr plötzlich offensichtlich Avancen macht, ist sie sich gleich sicher: „Der ist nicht speziell in mich, der ist an und für sich verliebt in der letzten Zeit – ganz allgemein. Ich bin Zufallsobjekt, eine Einbildung…“ (G: 17). Gilgi möchte sein Interesse schnellstens von sich abwenden – doch nicht etwa, weil sie in Reuters Wunsch nach vornehmlich sexueller Abwechslung und seiner Art, diesen hinter romantischem Gehabe zu verstecken, etwas moralisch Verwerfliches sieht. Vielmehr besteht die Problematik darin, dass er Gilgis berufliche Karriere damit stört, da sie weiß, dass sie bei Offenbarung ihres Desinteresses (und der damit einhergehenden Verletzung männlicher Eitelkeit) in Schwierigkeiten geraten würde. Doch wie sie bereits erwartet hat, geht ihr Plan, Herrn Reuter beim gemeinsamen Restaurantbesuch kurzerhand auf ihre „zufällig“ auftauchende Freundin Olga abzulenken, sofort auf. In dieser, wie Reinhardt-Becker schreibt, „vor Ironie strotzenden Szene“[38] wird verdeutlicht, wie austauschbar die beiden jungen Frauen dank ihrer körperlichen „Schlüsselreize“ für ihn sind. Hier lässt Irmgard Keun „die Liebessemantik der Romantik zu einer Schablone, einer Karikatur werden, die den Liebhaber als ein Produkt längst vergangener Zeiten ausweist.“[39] Am souveränen Umgang Gilgis mit der Situation ist, wie Schüller feststellt, besonders bedeutsam, dass sie sich tatsächlich die Strukturen der Verhältnisse bewusst macht und sich aktiv für eine bestimmte Handlungsweise entscheidet, ohne hilflos der heiklen Verstrickung einer Affäre mit ihrem Chef ausgeliefert zu sein.[40] Sie befindet sich stets an der Schnittstelle zwischen „Nicht-Belästigt-Werden-Wollen“ auf der einen und „Attraktiv-Sein- und dafür auch Bewundert-Werden-Wollen“ und auf der anderen Seite.“[41] Denn Gilgi ist sich auch über ihre Reize im Klaren und setzt diese bewusst ein, da sie weiß, dass dies Teil ihres Berufsalltags ist. Sie versteht es glänzend, ihr gutes Aussehen (das sie nicht etwa für etwas Schicksalhaftes hält, sondern für „eignes Verdienst“ (G: 6) aufgrund von guter Pflege und Disziplin) den jeweiligen unmissverständlichen Qualitätsanforderungen der Arbeitswelt anzupassen und ihr Verhalten – etwa bei Bewerbungsgesprächen – darauf abzustimmen. So trägt zur Entscheidung eines Herrn, sie für seine Schreibarbeiten einzustellen,

[v]ielleicht auch [bei], daß sie so ein bißchen verheißungsvoll mit den Augen gekullert hat. So niedliche Von-unten-nach-oben-Blicke wirken bei Männern über fünfzig fast immer. Ferner ist’s gut, an Beschützerinstinkte zu appellieren, im richtigen Augenblick solides Selbstbewußtsein durch kleidsame Hilflosigkeit zu ersetzen. Man muß das alles verstehen. Gilgi versteht es. (G: 55f.)

[...]


[1] An dieser Stelle sei bereits darauf hingewiesen, dass der Titel dieser Arbeit aufgrund der unterschiedlichen Lebensentwürfe der untersuchten Frauenfiguren mit einer gewissen Flexibilität zu betrachten ist, vgl. hierzu auch Kap. 4.2.

[2] Barndt, Kerstin: Sentiment und Sachlichkeit. Böhlau 2003, S. 16.

[3] Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne: 1890–1933. Stuttgart 2010, S. 239.

[4] Barndt (2003), S. 15.

[5] Koch, Annette: Die weiblichen Angestellten der Weimarer Republik. In: Helmut Gold und Annette Koch [Hrsg.]: Fräulein vom Amt. München 1993, S. 163.

[6] Grossmann, Atina: Eine „neue Frau“ im Deutschland der Weimarer Republik? In: Helmut Gold und Annette Koch [Hrsg.]: Fräulein vom Amt. München 1993, S. 139.

[7] Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Angestelltenberuf für die meisten Frauen nach wie vor lediglich ein Durchgangsstadium zur Ehe war – was an der sprunghaft sinkenden Anzahl der Beschäftigten über 25 Jahren, dem damaligen durchschnittlichen Heiratsalter, deutlich wird – vgl. Koch (1993), S. 166.

[8] Benker, Gitta und Senta Störmer: Grenzüberschreitungen. Pfaffenweiler 1991, S. 1.

[9] Benker/Störmer (1991), S. 41.

[10] Fähnders (2010), S. 239.

[11] Grossmann (1993), S. 136.

[12] ebd.

[13] Barndt (2003), S. 15.

[14] Grossmann (1993), S. 136.

[15] ebd., S. 143.

[16] ebd., S. 144.

[17] Fähnders (2010), S. 240.

[18] Rosenstein, Doris: „Mit der Wirklichkeit auf du und du?“. In: Sabina Becker und Christoph Weiß [Hrsg.]: Neue Sachlichkeit im Roman. Stuttgart [u.a.] 1995, S. 273.

[19] Barndt (2003), S. 2.

[20] Rosenstein (1995), S. 274.

[21] ebd.

[22] Fähnders (2010), S. 240.

[23] Barndt (2003), S. 16.

[24] Barndt (2003), S. 21.

[25] Lickhardt, Maren: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane. Heidelberg 2009, S. 58.

[26] ebd., S. 57f.

[27] ebd., S. 60.

[28] ebd.

[29] Rosenstein, S. 277.

[30] Barndt (2003), S. 146.

[31] Delabar, Walter: Was tun? Berlin 2004, S. 107.

[32] Barndt (2003), S. 27.

[33] Delabar (2004), S. 108.

[34] Barndt (2003), S. 21.

[35] Die Betonung von Gilgis Eifer und Strebsamkeit zeigen, so Schüller, ein „Arbeitsethos und Aufstiegsstreben, das den realen Möglichkeiten, vor allem weiblicher Angestellter, widerspricht“ (Schüller, Liane:Vom Ernst der Zerstreuung. Bielefel 005, S. 112) – die unter Angestellten tatsächlich lange verbreitete Ideologie, welche die individuelle Anstrengung als Schlüssel für den eigenen Erfolg im Leben sieht, wird, so Bescansa Leirós, „in der Rezessionsphase als bodenlose Utopie entlarvt“ (Bescansa Leirós, Carme:Gender- und Machttransgression im Romanwerk Irmgard Keuns. St. Ingber 007, S. 85).

[36] Delabar (2004), S. 107.

[37] Reinhardt-Becker, Elke: Liebeslehren der Kälte. In: Petra Josting und Walter Fähnders [Hrsg.]: „Laboratorium Vielseitigkeit“. Bielefeld 2005, S. 296f.

[38] ebd., S. 298.

[39] ebd.

[40] Schüller (2005), S. 124f.

[41] ebd., S. 124.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Das Verhältnis von Arbeit und Liebe in Irmgard Keuns „Gilgi – eine von uns“ und Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
Abschlussarbeit
Note
1,1
Autor
Jahr
2011
Seiten
38
Katalognummer
V205730
ISBN (eBook)
9783656331919
ISBN (Buch)
9783656332268
Dateigröße
667 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neue Sachlichkeit, Weimarer Republik, Neue Frau, Arbeit, Liebe
Arbeit zitieren
Wiebke Hugen (Autor:in), 2011, Das Verhältnis von Arbeit und Liebe in Irmgard Keuns „Gilgi – eine von uns“ und Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205730

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