Die Frage ist: was geschieht mit dem Epos "Nibelungenlied", wenn man sich mit ihm beschäftigt, ohne seine Rezeptionsgeschichte zu berücksichtigen? Ist es überhaupt möglich, ein solches Verfahren der Textanalyse anzubringen, und zu irgendwelchen befriedigenden Ergebnissen zu kommen?
In dieser Arbeit wird die These getestet, dass es keine Rezeption des
Nibelungenliedes gibt, die nicht direkt oder indirekt beeinflusst ist durch seine eigene, semantisch aufgeladene Rezeptionsgeschichte. Diese ist maßgeblich gekennzeichnet durch die völkisch-nationale Deutung Friedrich Heinrich von der Hagens; diejenige, die im Bewusstsein der Allgemeinheit überlebt hat und auch bis heute noch Echos in der wissenschaftlichen Bearbeitung findet, gewollt oder nicht.
Zu diesem Zweck wird auch darauf eingegangen, wie Zeitgenossen Hagens Arbeit bewertet haben, und welchen direkten und indirekten Einfluss er durch sein Werk auf die Nibelungenforschung, sowie auf die Popularität des Stoffes hatte. Speziell werden auch die Deutungstradition und die Schwierigkeiten einer Deutung dargelegt, denn dies ist wichtig um zu beweisen, dass auch die anti-nationale Rezeption stark von der frühen, ‚völkischen‘ geprägt ist. Zudem werden zwei verschiedene Rezeptionstraditionen unterschieden:
Nibelungen-Stoff und breite Masse (alles, was nicht akademisch ist) versus Nibelungenlied und akademische Rezeption.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Inhalt und methodische Ansätze
1.2. Gedanken über die verwendeten Quellen
2. Die Nibelungen: Von „Sage" über „Epos" zum „Volksbuch"
2.1 Das Umfeld der Entstehung des Heldenepos Nibelungenlied
2.2. Das Nibelungenlied: Heldensage, Stoffkreis, Mythos: Begriffsdefinitionen und -abgrenzungen
2.3 Der germanisch-heroische Stoff und seine Rezeption
17
2.3.1 Das germanische Weltbild reflektiert im Nibelungenlied
2.3.2 Die Begriffe „deutsch" und „germanisch" in der Romantik: Die Suche nach einem positiven deutschen Gründungsmythos und das Nibelungenlied
2.4. Schwierigkeiten der Deutung des Nibelungenliedes
2.5 Die Suche nach nationaler Identität und einer deutschen „Volkspoesie"
2.5.1 Der Mythos vom Volksbuch und das Nibelungenlied
3. Die Möglichkeiten einer kontextfreien Rezeption
3.1. Sinnzuweisungsstrategien im Prozess des Verstehens: Theorien der Bedeutungszuweisungen bei literarischen Texten
3.2. Der Text, seine „Wahrheit" und der Rezipient
3.3. „Bedeutungen" eines Textes als Produkt der Ziele des Rezipienten
3.3.1. Die Psyche des Lesers als Regulierungsinstanz
3.3.2. Soziokulturelle Normierung als Regulierungsinstanz
4. Das Nibelungenlied- Der Werdegang des Mythos „Nationalepos"
4.1. Theorien zur Entstehung des Nibelungenliedes aus seinem „Sagenkreis"
4.1.1. Andreas Heuslers „Ältere Nibelungenöt": Die Suche nach einem Archetypus
4.1.2. Johann Gottfried Herder, Karl Lachmann, die Brüder Grimm und die ,Volkslied'- Theorie
4.2. Die „Wiederentdeckung" des Epos: Ein künstlicher Ursprungsmythos
4.3. Die Nibelungen als „deutsches Nationalepos": Die Verselbständigung der nationalen Deutungstradition vom Achtzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert
4.3.1. Die Zeit von 1755 bis 1871: on von Vaterlandsgefühlen
4.3.2. Die Weimarer Republik: Veränderte politische Voraussetzungen für die Nibelungen-Rezeption
4.3.3. Kulminierung eines Rezeptionsmythos: Das überspitzte Nibelungen-Pathos im Nationalsozialismus
4.3.4. Post-1945: Distanzierungen von der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes
4.4. Friedrich Heinrich von der Hagen und das Nibelungenlied
4.4.1. Von der Hagen und die Anfänge der Germanistik
4.4.2. Die „Erneuung" von der Hagens: Methoden, Absichten und Ziele seiner Nibelungenüberarbeitungen
4.4.3. Das „Nationalepos" als „Buch für das Volk": Das Nibelungenlied als Katalysator vaterländischer Gefühle
4.4.4. Von der Hagens Kritik an Bodmer
4.4.5. Von der Hagens „Erneuung" und die Kritiker
5. Der „Nibelungen-Stoff" und die nicht-wissenschaftliche Rezeption versus Nibelungenlied und akademische Rezeption
5.1 Populäre Kultur und die Nibelungen: Beispiele der Rezeption in Musik, Literatur und Film
5.1.1. Friedrich Hebbels „Nibelungen-Trilogie"
5.1.2. Richard Wagner und der Ring des Nibelungen
5.1.3. Fritz Langs Nibelungen
5.1.4. „Die Nibelungen für unsere Zeit erzählt": Das Nibelungenlied in der Unterhaltungsliteratur nach
5.1.5. „Nibelungentreue"- das Schlagwort in der populären Kultur des einundzwanzigsten Jahrhunderts
5.2. Spuren des Interpretationsmodells von der Hagens in der wissenschaftlichen Rezeption des Nibelungenliedes nach
6. Zusammenfassende Schlussbetrachtung
7.Bibliographie
1. Einleitung
Der Begriff „Nibelungen" ist weitgehend bekannt, und das nicht nur in akademischen oder anderweitig gelehrten Kreisen, sondern auch unter der breiten Bevölkerungsmasse1. Die Vorstellungen, die sich hinter diesem Begriff verbergen, sind oft vage: Nibelungenlied, Nibelungensage, Nibelungenstoff; Termini, die gerne in der allgemeinen Auffassung durcheinander geworfen werden.
Doch wie steht es mit dem mittelhochdeutschen Text, dem Epos, dem eigentlichen Nibelungenlied? Forschungsliteratur zu der nicht-akademischen Rezeption und dem allgemeinen Bekanntheitsgrad des Liedes gibt es reichlich. „Die Sage ist populär wie kaum eine andere aus dem deutschen Mittelalter"2, sagt Jan-Dirk Müller dazu. Zu dem, was an ,Nibelungenstoff' - ein Begriff, der benutzt wird, um beide Sage und Epos zu bezeichnen oder zusammen zu fassen3 - heute noch im kollektiven Gedächtnis der Deutschen präsent ist, gehört unter anderem die Annahme, dass es sich bei dem Text um ein ,Nationalepos' handle, welches in der Zeit des Nationalsozialismus zu niederen propagandistischen Zwecken missbraucht wurde, oder einen ganz und gar nicht national auslegbaren Text, den man während des Dritten Reiches ungerechterweise in solch eine Rolle gedrängt habe. Man denke an das Stichwort ,Nibelungentreue', das bis heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch zu finden ist.4
Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes ist vielseitig, und dementsprechend auch die verschiedenen Deutungsmodelle, die seit seiner ,Wiederentdeckung'5 1755 entstanden sind. Im Zuge des Vaterland-Diskurses des achtzehnten Jahrhunderts wurde das Nibelungenlied erstmals in einen deutsch-patriotisch konnotierten Zusammenhang gebracht; ihm wurden von vielen prominenten Rezipienten Qualitäten zugesprochen6, die sich auf die Deutschen übertragen lassen sollten, ihr sogenannter ,Nationalcharakter':
(...) Gastlichkeit, Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Milde und Großmuth in des Kampfes Noth, Heldensinn, unerschütterlichen Standmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit, und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht; Tugenden, die in der Verschlingung mit den wilden Leidenschaften und düstern Gewalten der Rache, der Zornes, des Grimmes, der Wuth und der grausen Todeslust nur noch glänzender und mannichfaltiger erscheinen, und uns, zwar trauernd und klagend, doch auch getröstet und gestärkt zurücklaßen, uns mit Ergebung in das Unabwendliche, doch zugleich mit Muth zu Wort und That, mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit erfüllen.7
Diese Übertragung vermeintlich deutscher Tugenden auf das Nibelungenlied, und folglich vom Nibelungenlied auf die Deutschen durch diese Nationalisierung des Epos, steht in engem Zusammenhang zu der Tatsache, dass es den Deutschen an einem für diese Zwecke brauchbaren ,Nationalepos' mangelte, was sich vergleichen ließe mit der griechischen Ilias, der römischen Aeneis, oder gar dem französischen Rolandslied. Die Stilisierung des Epos zum ,deutschen Nationalepos' zieht sich gleich einem roten Faden durch seine moderne Rezeptionsgeschichte; eine „Wertung, die direkt mit der Genese der Germanistik als ,deutscher Wissenschaft' verbunden ist (,..)bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs"8, in der literaturwissenschaftlichen Forschung, sowie in der populärwissenschaftlichen Literatur9.
Es ist ein Phänomen der Zeit nach 1945, dass rückblickend alles, was nationalistische Tendenzen aufweist, auf die gleiche Weise gedeutet und extrem negativ konnotiert wird, aus dem „Bedürfnis der modernen Germanistik"10 heraus, „sich von den Deutschtümeleien' der Nibelungeninterpreten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu distanzieren"11. Der Wunsch der akademischen Rezipienten, das Werk von der Wirkungsgeschichte zu trennen, führte zu dem Ergebnis, dass „das mittelalterliche Nibelungenlied als literarisches Original'"12 angesehen wurde, wobei man vernachlässigt hat, „daß es sich bei dem uns überlieferten Epos um eine in einer historischen Tradition stehende Adaption eines älteren Stoffkreises handelt, die in sich schon den Anfang der schriftlichen Nibelungen-Rezeption darstellt"13.
Jegliche Rezeption des Nibelungenliedes, die nationale oder nationalistische Züge trägt, wird seit 1945 pejorativ bewertet. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat die akademische Nibelungenforschung sich bemüht, sich von der einst so populären Deutung zu distanzieren14, die maßgebend geprägt wurde durch Friedrich Heinrich von der Hagen, im frühen 19. Jahrhundert. Dieser hatte im Zuge der napoleonischen Okkupation ein Gefühl der nationalen Union fördern wollen, indem er das mittelhochdeutsche Epos publikumstauglicher machte und gleichzeitig zum ,Nationalepos' aufwertete.
Auch wenn von der Hagens Edition sich in der wissenschaftlichen Welt nicht gegen die Karl Lachmanns behaupten konnte15, so hat sie einen maßgeblichen Einfluss auf die allgemeine Wahrnehmung der Nibelungensage - des Nibelungenstoffes - gehabt. Es war weniger die Textausgabe, sondern mehr politische Aktualisierung, die populär, und integraler Bestandteil der Nibelungen-Rezeption geworden ist. Trotz der Versuche, nach 1945 einen anderen Weg in der Nibelungenforschung anzutreten, als den Nationalen, fällt es der Wissenschaft schwer, dieses Bild eines ,deutschen Nationalepos', sei es auch ein künstlich kreiertes, zu ignorieren. Obwohl seitdem wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass das Nibelungenlied für eine nationale Deutung gänzlich ungeeignet sei, können sich selbst Forscher, die sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzen, nicht vollkommen von der nationalistischen Rezeption distanzieren - und sei es nur, um ihre Nicht-Existenz zu belegen. Klaus von See, z.B., beschreibt den Hof Etzels als „östlichen Barbarenhof"16, was offensichtlich nicht dem Epos selbst entnommen wurde. Es ist allerdings eine Bewertung, die sich in von der Hagens Kommentaren zum Nibelungenlied wiederfindet. Dies zeigt, wie schwierig es ist, die völkisch-nationale Rezeption aus den Köpfen zu bekommen. Zwar war Friedrich Heinrich von der Hagen nicht der Erste, der das Nibelungenlied in neuhochdeutscher Zeit bearbeitet hat, und auch nicht verantwortlich für den späteren politischen Missbrauch des Epos, aber seine Bearbeitung war so maßgebend, dass sie bis heute noch die Rezeption des Liedes und besonders die Wahrnehmung des Stoffes prägt - sei es in Fürsprache, oder im Versuch, jegliche nationale Deutung zu negieren, im populären, wie auch im akademischen Bereich.
Das Nibelungenlied als solches scheint sehr schwer deutbar zu sein: schon im Mittelalter hat man versucht, dem Epos Sinn zu spenden, nämlich in Form der Klage. Seit seiner sogenannten Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert versuchen Akademiker, Hobbyforscher und Interessierte das Lied zu deuten, um ihm eine mehr oder minder tiefgründige Aussage zuzuweisen - oder die These zu beweisen, dass das Lied nicht wirklich zu deuten sei. Es entwickelten sich zwei Strömungen der Rezeption: die Populäre, die bis heute prägend für das „Nibelungenbild" der Allgemeinheit ist, und die Akademische, hauptsächlich geprägt durch die wissenschaftlichen Texteditionen Karl Lachmanns.
Die Auslegung des Textes, die hier als ,populär' bezeichnet wird, basiert hauptsächlich auf derjenigen, die unter anderem durch von der Hagen geprägt wurde. Die dem Nibelungenlied zugeschriebene Rolle des deutschen ,Nationalepos' entsprang dem Wunsch, vaterländische Gefühle hochzuschrauben und zu legitimieren: allein schon die Geschichte seiner sogenannten Wiederentdeckung ist geprägt von dem Wunsch, ein Epos zu finden, das wie eine Ilias für die Deutschen sein würde; einen autochthonen Stoff, der nicht aus dem Ausland adaptiert worden war17. Zu diesem Zweck wurden seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gezielt nach alten Handschriften aus dem Mittelalter gesucht, die für diesen Zweck gebraucht werden könnten; so konstatierte 1786 Johannes von Müller über das Nibelungenlied, welches im Auftrag Johann Jakob Bodmers aufgefunden worden war: „'Der Nibelungen Lied könnte die Teutsche Ilias werden'. Er hat damit ein Stichwort geliefert, das die Rezeption des Nibelungenliedes lange Zeit bestimmen und auch auf fragwürdige Wege führen sollte."18 Dies führte sogar zu dem Versuch durch Heinrich Beta, das Nibelungenlied unter die Reihe der Volksbücher zu stellen19 ; wobei bemerkt werden muss, dass der Begriff Volksbuch in diesem Fall sehr schwer zu definieren ist20.
Die moderne Nibelungen-Rezeption ist, trotz aller Versuche, alle völkischen und nationalen Interpretationen zu widerlegen, nach wie vor geprägt von der Völkischen- Nationalen. Dies hat dazu geführt, dass Akademiker dem Lied eine Bedeutung zugesprochen haben, die eine Negativkopie dessen ist, was von der Hagen hat verbreiten wollen: nicht-national, nicht-völkisch, und vor allem nicht-vorbildlich in irgendeiner Art- und um das zu beweisen, werden Elemente benutzt, die erst durch jene Art der Rezeption zustande gekommen sind.
1.1. Inhalt und methodische Ansätze
Die Frage ist: was geschieht mit dem Epos, wenn man sich mit ihm beschäftigt, ohne seine Rezeptionsgeschichte zu berücksichtigen? Ist es überhaupt möglich, ein solches Verfahren der Textanalyse anzubringen, und zu irgendwelchen befriedigenden Ergebnissen zu kommen?
In dieser Arbeit wird die These getestet, dass es keine Rezeption des Nibelungenliedes gibt, die nicht direkt oder indirekt beeinflusst ist durch seine eigene, semantisch aufgeladene Rezeptionsgeschichte. Diese ist maßgeblich gekennzeichnet durch die völkisch-nationale Deutung Friedrich Heinrich von der Hagens; diejenige, die im Bewusstsein der Allgemeinheit überlebt hat und auch bis heute noch Echos in der wissenschaftlichen Bearbeitung findet, gewollt oder nicht.
Es wird die Frage gestellt, wie Bedeutungen beim Verstehen von Texten überhaupt zugewiesen werden, und was gewisse Deutungsmodelle dazu bringt, sich durchzusetzen. Schließlich hat sich in der Wissenschaft die Bearbeitung Karl Lachmanns behauptet, aber die semantischen Zuordnungen, die durch von der Hagen durchgenommen wurden, lassen sich während der gesamten neueren Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes finden. Inwiefern ist die Wissenschaft überhaupt in der Lage, sich von so viel subjektiver Bedeutungszuweisung loszusagen? Kann eine frühe semantische Prägung so wirksam sein, dass sie in den Köpfen der Rezipienten weiterwirkt, selbst wenn sie sich davon lossagen wollen?
Um zu begreifen, was wir mit dem Text machen, müssen wir verstehen, was der Text mit uns macht - ohne seinen geschichtlichen Kontext ist er undeutbar, da die verschiedenen Strömungen, die in ihm vereint sind, kein kohärentes Bild ergeben. Mit seiner Geschichte ist der Text dermaßen semantisch überladen, dass er sich der Deutung entzieht. Es soll hier nicht bewiesen werden, dass eine nationale Deutung seine Berechtigung hat, oder das Gegenteil. Es soll aber untersucht werden, inwiefern es überhaupt möglich ist, sich als Rezipient von der ,populären' Deutungsgeschichte des Nibelungenliedes zu entfernen, wenn man sich mit demselben beschäftigt, und inwiefern das denn auch tatsächlich geschieht. Kontextfrei ist der Text in seiner Gesamtheit kaum zu begreifen. Innerhalb des Kontextes seiner Rezeptionsgeschichte entzieht sich der Text unserer Deutung, da er semantisch saturiert ist. Erklärt sich das Textverständnis aus seiner Rezeptionsgeschichte heraus?
Diese Fragen sollen in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Zu diesem Zweck werden als erstes gewisse Begriffe definiert und voneinander abgegrenzt, sowie ihr Zusammenhang zur frühen Nibelungen-Rezeption erklärt, u.a. ,Sage', ,Epos' und ,Volksbuch'. In einem nächsten Schritt wird auch auf den germanisch-heroischen Stoff und seine Rezeption eingegangen, sowie auf die Begriffe ,deutsch' und ,germanisch' und ihren Einfluss auf die frühe Rezeption des Nibelungenliedes und -Stoffes, sowie auf die Schwierigkeiten, die eine Deutung des Epos mit sich bringt.
In einem nächsten Abschnitt werden die Theorien vorgestellt, die Textverständnis, Rezeptionstheorien, Rezeptionsästhetik und die Psyche des Lesers erläutern. Ohne diese ist es nicht möglich zu analysieren, inwiefern der Rezipient auf den Text einwirken kann - oder wie er das benutzt, was er über den Text weiß, um ihm Bedeutung zuzuweisen. Anschließend wird ein Abriss der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes geliefert - von der Zeit von der Hagens bis in die Zeit nach dem ideologischen Zusammenbruch von 1945. Es soll dargestellt werden, wie von der Hagen das Epos bearbeitet hat, warum und wozu, und wie sich sein Einfluss in der Rezeption des Textes auswirkt.
Zu diesem Zweck wird auch darauf eingegangen, wie Zeitgenossen seine Arbeit bewertet haben, und welchen direkten und indirekten Einfluss er durch sein Werk auf die Nibelungenforschung, sowie auf die Popularität des Stoffes hatte. Speziell werden auch die Deutungstradition und die Schwierigkeiten einer Deutung dargelegt, denn dies ist wichtig um zu beweisen, dass auch die anti-nationale Rezeption stark von der frühen, ,völkischen' geprägt ist. Zudem werden zwei verschiedene Rezeptionstraditionen unterschieden: Nibelungen-Stoff und breite Masse (alles, was nicht akademisch ist) versus Nibelungenlied und akademische Rezeption.
1.2. Gedanken über die verwendeten Quellen
Bei der Recherche zu diesem Thema wird klar, dass einschlägige Literatur zur Nibelungenforschung und -Rezeption nicht ausreichen würde, um zu eindeutigen Schlüssen zu kommen. Aus diesem Zweck musste auf die Themen des Textverständnisses und der allgemeinen Literaturrezeption eingegangen werden, um die Möglichkeiten einer kontextfreien Rezeption und Interpretation des Nibelungenliedes zu untersuchen, was für die zentrale These dieser Arbeit von großer Bedeutung ist. Deswegen wurde Literatur aus der Linguistik verwendet, vor allem von Antoine Compagnon, Burghard Damerau, und Sven Strasen.
Ein weiterer Aspekt der Arbeit, der sich mit dem Fortleben gewisser durch die frühen Nibelungen-Rezipienten geprägter Begriffe in der Allgemeinheit beschäftigt, machte es notwendig, auf eine Reihe von Internetquellen zurückzugreifen, die ein breites Spektrum mehrerer Bevölkerungs- und Bildungsschichten der modernen Gesellschaft darstellten. Dazu gehören sowohl Artikel aus wissenschaftlichen Zeitschriften, online Ausgaben von Tageszeitungen, und populäre Sport-Foren.
Für das Thema des Nibelungenliedes in seiner ihm zugewiesenen Funktion als ,Nationalepos', sprich einer bestimmten Funktion, die es zu erfüllen hatte, und welche seine spätere Rezeption maßgeblich prägte, werden abgesehen von Forschungsliteratur aus dem späten zwanzigsten, frühen einundzwanzigsten Jahrhundert (darunter prominent Joachim Heinzle, Jan-Dirk Müller, Klaus von See, Lerke von Saalfeld, Otfrid Ehrismann und Volker Gallé als prominenteste Vertreter) eine Mehrzahl an Werken aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sich mit dem Thema befassen, verwendet. Die wichtigsten unter ihnen wurden verfasst von Friedrich Heinrich von der Hagen, Johann Gustav Büsching, Jacob Grimm, Andreas Heusler und Karl Lachmann. Dies sind vor allem die Werke, die als Grundlage dieser Arbeit dienen, und auf die hier präsentierten Thesen sich stützen.
2 Die Nibelungen: Von „Sage" über „Epos" zum „Volksbuch"
2.1. Das Umfeld der Entstehung des Heldenepos Nibelungenlied
Im Literarischen Grundriß Johann Gustav Büschings und Friedrich Heinrich von der Hagens heißt es gleich im Vorwort, dass vor dem Aufkommen des Romans im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, „der bedeutendste Teil der Deutschen Literatur"21 der ,Poesie' angehört habe. Ein Typus dieser Poesie sei das „umfassende Epos22
[D]ieses, wie es die älteste, zuerst ausgebildete Gattung ist, macht daher auch den Anfang; und ursprünglich eins mit der Geschichte, als ihr erster natürlicher Ausdruck bildet sie diese zugleich fortgehend in sich ab. Da von Deutschland die neue Welt ausging, so ist das ursprünglich Deutsche Nazionalepos, die mythische Geschichte des heroischen Zeitalters der Völkerwanderung, das älteste und erste, in der ganzen neuen Poesie: nur das mit ihm in der Wurzel verflochtene Nordische Epos kann ihm den Vorgang streitig machen (...) Obgleich nun die vollendete Ausbildung des Deutschen Nazionalepos auch erst in dieser Hauptperiode hervorgegangen, so fällt sie doch am meisten in den Anfang derselben, und aus der früheren Zeit haben wir Denkmale dieser Art übrig, wie sie kein neues Volk von dem Alter aufzuweisen hat. .23
Die Theorien der Entstehung einer deutschen Literatur, die als ,national' gewertet werden konnte, wurden besonders im neunzehnten Jahrhundert durch die Romantiker populär; es waren Theorien, die sich im Zuge der Suche nach einem positiven Gründungsmythos für das Deutsche Reich gebildet hatten, und die sich gleich einem roten Faden durch die deutsche Literaturwissenschaft zogen, vom späten achtzehnten Jahrhundert bis zum Schicksalsjahr 194524. Für das Verständnis der Tragweite dieses Interpretationsmodells ist es wichtig, einen Blick auf die zeitgeschichtlichen Bedingungen zu werfen, welche die Entstehung des Nibelungenliedes ermöglicht haben. Später soll darauf eingegangen werden, inwiefern Text eine nationale Rezeption überhaupt ermöglicht, und wie es den Forschern des ,nationalen' Modells dennoch gelang, das Werk so zu interpretieren, wie es ihren Zwecken diente.
Für die Ausbreitung volkssprachlicher - d.h. mittelhochdeutscher Literatur im zwölften Jahrhundert gab es eine Reihe wichtiger Faktoren: Veränderungen in der Sprache sowie in den poetischen Formen (der Endreim setzt sich gegen den Stabreim durch) gehören dazu. Der wichtigste Faktor allerdings ist allerdings sicherlich die Tatsache, dass im zwölften Jahrhundert nicht nur religiöse Einrichtungen und der Kaiserhof sich um die Produktion und Pflege literarischer Texte bemühen25. Zu diesem Zeitpunkt beginnt der hohe Adel „in allen Bereichen (Verwaltung, gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisation, Architektur und Kultur) die Repräsentationsformen des Kaisers nachzuahmen. So kommt es, dass die Adelshöfe über ihr Mäzenatentum die Komposition literarischer Werke fördern"26.
Bei der Förderung dieser neuen, volkssprachlichen Literatur allerdings sind die heroischen Stoffe „über Hildebrand, Siegfried, Walther, Wieland, Gunther und Hagen, die in der mündlichen Tradition der Aristokratie gewiss noch präsent waren"27, abwesend. Das Interesse des Adel gilt eher Themen, die sich nach der römischchristlichen Weltordnung richten und ihm vom klerikalen Schrifttum nahegelegt werden, denn das Geschichtsverständnis der hohen Adligen des zwölften Jahrhunderts war ein „imperiales und christliches"28, wonach „die Heldensagen zu Geschichten werden, die in einer Vorzeit angesiedelt sind, nämlich in der Zeit vor der Integration der gentes in das römische Reich und seine Kultur"29.
Das Interesse gilt also zunächst jenen Stoffen, die wohl schon seit Generationen im Umlauf waren, und sich mit diesem christlichen Weltbild vereinbaren lassen, und die auf die ritterlichen Werte des Adels des zwölften Jahrhunderts übertragbar sind30. Dazu gehören „[d]ie griechisch-lateinischen Geschichten von Alexander (...), dem Krieg um Troja, oder Äneas"31, sowie „Erzählungen über Karl den Großen und seine Paladine"32. In dieser Phase waren die Sagen aus der Zeit der Völkerwanderung anscheinend für eine derartige Anpassung ungeeignet. Die Motivationen und Beweggründe der vorchristlichen Helden waren der Mentalität des adeligen Publikums zu diesem Zeitpunkt wohl noch zu fremd, als dass es sich lohnen würde, diese Stoffe zu aktualisieren33.
In diesem Umfeld entsteht aber nun um die Wende vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert das anonyme Nibelungenlied, ein ritterliches Epos, welches von den alten Helden Siegfried, Hagen, Gunther und Dietrich handelt34. Die Ausgestaltung des Epos ist ritterlich, sein Stoff jedoch gehört zur germanischen Heldendichtung „und schließt sich mit einer Reihe zeitlich und örtlich weit auseinanderliegender Literaturwerke zu einer Gruppe zusammen"35. Es ist eins der großen Werke der Stauferzeit, welches aber aufgrund „seiner scheinbaren Isoliertheit im literaturgeschichtlichen Umfeld36 oft als ein erratischer Block bezeichnet"37 wurde. Wie kann man die Entstehung eines solchen Werkes, das stofflich aus dem sogenannten heroic age, der germanisch-heroischen Zeit der Völkerwanderung stammt38, in seiner Zeit erklären? Die Romantiker dachten, es sei eine Form der Heldendichtung, die zu später Zeit den „Sprung in die Schriftlichkeit39 " erreicht habe, jedoch ist diese These nicht haltbar:
Wir stehen nicht vor einem altmodischen Text, der spät auf die Bühne der Schriftlichkeit gelangt, sondern vor einer Dichtung von großer literarischer Qualität, deren Autor mit Geschick und Souveränität alle Möglichkeiten auszuschöpfen wusste, die ihm die Literatur des späten 12. Jahrhunderts bot. Das Nibelungenlied' kann nur als Produkt dieser literarhistorischen Zeit angesehen und muss als solches verstanden werden.40
Die Art und der Grund seiner Entstehung sind auch nicht die einzigen Fragen, welche die Beschäftigung mit dem Nibelungenlied schon seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aufwirft. So wurde besonders im neunzehnten Jahrhundert der Text Objekt erhitzter philologischer Diskussionen und ideologischer Ansprüche41:
[D]as Nibelungenlied' [ist] zweifellos auch diejenige mittelalterliche Dichtung, die am meisten unter ideologischen und politischen Vereinnahmungen und Missbrauchen im 19. Und 20. Jahrhundert gelitten hatte, von seiner Stilisierung zur deutschen Ilias' und seiner Einschätzung als Vermittler einer germanischen Nationalpoesie bis hin zur Schandung seines Namens im Dienste eines militaristischen Patriotismus.42
Doch von der Entstehung des Nibelungenliedes um die Wende des zwölften zum dreizehnten Jahrhundert bis zu seiner Postulierung als „Nationalepos"43, „Ilias des Nordens"44, „Heldenbuch"45 oder gar „Volksbuch"46 im Falle Heinrich Betas' Verleger, welches nicht einem Einzelnen, sondern der gesamten deutschen Nation gehöre47, sind es mehrere Jahrhunderte. Zunächst ist es wichtig, ein paar Begriffsabgrenzungen vorzunehmen: Was genau ist gemeint, wenn in der Forschungsliteratur von ,Nibelungensage', ,Nibelungenmythos', ,Stoffkreis' oder ,Volksbüchern' gesprochen wird? Und wie bezieht sich das auf die Entwicklung der ,national' gerichteten Rezeption des Nibelungenliedes? Auf diese Fragen wird im folgenden Abschnitt eingegangen.
2.2. Das Nibelungenlied: Heldensage, Stoffkreis, Mythos: Begriffsdefinitionen und -abgrenzungen
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wendete sich die Nibelungenforschung weitgehend von der ,völkischen' Rezeption ab und konzentrierte sich stattdessen auf den Text selbst, um ihn aus seiner Entstehungszeit heraus zu begreifen48. „Die stoffgeschichtlichen Grundlagen des Nibelungenliedes, die sich im historischen Dunkel der oral poetry verlieren, mußten auf Grund ihrer Nähe zu völkisch-nationalen Aneignungsmodellen in den Hintergrund treten"49. Werkimmanente Interpretationen allerdings bleiben immer problematisch, denn das Epos weist Brüche in der Kontinuität auf, die den Rezipienten zu keiner einheitlichen Deutung kommen lassen50. Die Begriffe ,Heldenepos', ,Sage' und ,Stoff', die in der Rezeption des Nibelungenlieds immer wieder
auftauchen, lassen ahnen, dass der Inhalt des Textes einen weitaus älteren Hintergrund hat, als die Zeit, in der es geschrieben wurde von dem bis heute anonymen Dichter.
Was genau ist der sogenannte Nibelungenstoff- das, was sich inhaltlich im Nibelungenlied wiederfindet, ganz gleich, ob es in der Herkunft Märchen, Mythos oder Sage war? „Das NL [Nibelungenlied] erzählt eine heroische Vorzeitgeschichte und verpflanzt sie zugleich in eine hochmittelalterliche Lebenswelt (...)."51 Trotzdem „finden sich (...) [im Text] vorhöfische, vorritterliche Züge, und die Fabel selbst ist ,grundheidnisch"'52. Das Resultat ist ein vielschichtiges Werk, welches eine „Vereinbarung des Unvereinbaren"53 kreiert, „eine Konzeption, die noch die Spuren ihres kompilatorischen Ursprungs verrät"54.
Beim Vergleich der „stofflich-motivlich nah Verwandten Trias Mythos- Heldensage- Märchen"55 fällt auf, dass es sich inhaltlich bei der Heldensage um Begebenheiten handelt, die größtenteils Bezug nehmen auf echte, historische Personen. „Der Fall Trojas, (...) der Untergang der Burgunden, der Hunnenkönig Attila, den die Nibelungenüberlieferung als Etzel bzw. Atli kennt, und der Gote Theoderich, der in Dietrich von Bern weiterlebt, sind nur die bekanntesten Beispiele."56 Mehrere Sagen liegen dem Nibelungenlied zugrunde, u.a. die des Burgenuntergangs und jene von Siegfrieds Tod, aber es finden sich ebenfalls „Elemente der Dietrichepik und wohl auch noch andere Episodenlieder zu den Quellen des Nibelungenepos"57.
Woher aber kommen diese Sagen, die im mittelalterlichen Epos zu einem großen Ganzen vereint werden? Heldensage ist entstanden nach einer Epoche großer politischer Veränderungen, und aus diesem „heroischen Zeitalter"58 werden „Stoff und Protagonisten"59 entnommen. Die „Hauptzeit der germanischen Sagenbildung"60 war die Zeit der Völkerwanderung. Diese Sagen aus dem sogenannten heroic age, die ,Heldensagen', haben wenigstens einen Kern von historischer Wahrheit61. Dabei ist auffällig, dass historische Personen in diesen Geschichten oft zu Zeitgenossen gemacht werden, oder zu Verwandten, auch wenn ihre Lebzeiten lange auseinander liegen62. Zu diesen gesellen sich noch andere Ursprünge des stofflichen Inhaltes, den der Autor des Nibelungenliedes in seinem Werk vereint hat:
Aber neben diesen historisch bedingten Heldensagen gibt es auch solche, die sich nicht (...) auf geschichtliche Vorgänge zurückführen lassen. Neben der Geschichte werden vielmehr auch Mythos und Märchen als mögliche Keimzellen heroischer Sagenentwicklung angenommen. Daß das NL gleichzeitig an diesen drei Schichten heroischer Sage teilhat, daß es also im Burgunderuntergang auf geschichtlicher Heldensage fußt, im Bereich der Siegfriedfabel jedoch märchenhafte Motive (...) aufweist und endlich an entscheidenden Stellen auch Mythisches aufscheinen läßt, bestimmt nicht zuletzt den gestalterischen Reiz und künstlerischen Rang dieser Dichtung. Zugleich bedingt es aber die interpretatorische Schwierigkeit, in solcher Vielfalt die intendierte Einheit noch wahrzunehmen, und erhöht die Gefahr, die Sonderung der Schichten in gewaltsame Zerstückelung ausarten zu lassen.63
Sagen- und märchenhafte Stoffe wurden verbunden und übertragen auf die höfisch-ritterliche Realität des Staufischen Zeitalters64. Das Nibelungenlied beinhaltet Heldensage, lässt aber die Figuren ritterlich handeln65, das heißt der germanische, ursprünglich heidnische66 Mythos wird adaptiert, vom Autor für seine eigene Zeit nützlich gemacht67. Bei dieser Transformation wird ein eventueller historischer Kern irrelevant, und alles wird zum Stoff, der den Inhalt des Epos darstellt:
[R]eale Ereignisse werden nach einem gewissen Zeitraum im kollektiven Gedächtnis der menschlichen Überlieferung ihres historischen Kontexts beraubt und vor dem Hintergrund des geltenden Weltbildes (Grundmythos) zu Archetypen umgeformt, die dann dazu dienen, dieses Weltbild zu stützen.68
Die germanische Heldendichtung gibt keine historische Realität akkurat wieder, sondern macht Gebrauch von „großen Gestalten und formt sie zu Idealbildern einer adlig-kriegerischen Schicht, die bereit sind, ein verpflichtendes Sittengesetz in ausweglosen Situationen bis zum Tode zu erfüllen."69 Es sind die grundlegend menschlichen Erfahrungen von „Daseinslust und Tod, Glanz und Zusammenbruch in raschem Wechsel ist die Wirklichkeit, aus der die Helden des NLes leben."70 Durch die Erhöhung der großen Persönlichkeiten eines Volkes „entstehen Lebensbilder, die als typisch, vielleicht als vorbildlich empfunden werden"71 ; ein Spiegel der Vorzeit dieses Volkes. Dieser Vorgang der „Mythisierung des Stoffes"72 lässt sich im Falle der indogermanischen Epen nachweisen. Es ist „der Prozeß der Überführung eines Ereignisses aus einem Kontext in den anderen"73. Was aber genau wird hier als Mythos verstanden, und wie verhält dieser sich zur Heldensage?
Andreas Heusler sagt zu diesem Zusammenhang:
Soviel ist klar: die germanischen Heldensagen enthalten unzweifelhaft mythische Teile, das Wort „mythisch" im gewöhnlichen, landläufigen Sinn genommen: es treten Alben und Zwerge auf, Wassertrolle und Drachen, also Wesen des Dämonenmythus; wir finden die Motive der Seelenschlacht, des wiederkehrenden Toten, des Gestaltentausches, des Werwolfzaubers, also Stoff aus dem Seelenglauben, usw.74
Der Begriff Mythos bedeutet mehr als nur das bereits genannte, „von der ,urmenschlichen Gottesoffenbarung' bis zum geschichtlich ,Nichtgeschehenen', d.h. Märchenhaften in den Heldensagen"75. Dazu gehört der Versuch des Menschen, sich Begebenheiten, die er nicht versteht, erklären zu wollen, die Welt, den „Ursprung, Sosein und Ziel"76 zu begreifen, wenn er sie auch nicht beherrschen kann:
Der ehemals geschichtliche Kern einer Erzählung ist durch den Assimilationsvorgang mit dem geltenden Grundmythos fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, scheinbar Bestandteil eines vorzeitlichen Mythos geworden und dient als solcher zur Untermauerung des geltenden Weltbildes. Diese Arbeit des Mythos wird allerdings dann behindert oder sogar unmöglich, wenn es zu einem Mythenwechsel kommt, d.h. wenn der Grundmythos, vor dem die (S. 35) einzelne Mythe (...) ihren Geltungsanspruch besaß, seine Gültigkeit verliert und durch einen anderen Grundmythos ersetzt wird. An dieser Stelle versucht die Rezeption, die Arbeit am Mythos, den alten Stoff den neuen Gegebenheiten anzupassen und damit seine Wirksamkeit weiterhin zu garantieren.77
Diese Art von Bruchstelle lässt sich im Nibelungenlied häufig vorfinden, wo der Autor versucht hat, sich vom heidnisch-germanischen Grundmythos freizumachen und den Stoff umzugestalten, damit er „für das neue, christlich-höfische Weltbild brauchbar"78 werden konnte. Dabei hat es sich offensichtlich als unmöglich erwiesen, das Epos komplett von seinem heidnischen Ursprung zu befreien und in den neuen Kontext einzuführen: „Das mythische Urgestein blieb sichtbar, mußte auch sichtbar bleiben, um die Leser/Zuhörer, die den Stoff in seiner alten Form kannten, nicht zu sehr zu enttäuschen"79.
2.3 Der germanisch-heroische Stoff und seine Rezeption
Während der modernen Geschichte der Rezeption des Nibelungenliedes ist es schon oft versucht worden, seinen germanisch-heroischen Stoff, d.h. übertragen seinen vermeintlich historischen Kern80 zu ermitteln. Friedrich Heinrich von der Hagen, der von „Ur-Geschichte"81 der Nibelungen spricht, vermutet in den Hauptfiguren des Epos im Ursprung mythische Gestalten, aber auch historische Personen:
[E]s läßt sich darthun, daß auch bei uns Siegfrieds Leben und Tod, die Klage, und der Nibelungen Noth, (...) nichts anders ist, als das Leben und der Tod Baldurs des Guten, der Untergang aller Götter in der Götterdämmerung: die der Götter- und Menschen-Krieg von Troja Erneuung der Giganten- und Titanen-Schlacht, welche hier bedeutsam am Anfange der Mythologie steht, dagegen im Norden am Ende - also, jener unter mancherlei Namen und Gestalten überall vorkommende Ur-Mythus von Leben, Tod und Wiedergeburt, von Schöpfung, Untergang und WiederkehrderZeiten und Dinge überhaupt.82
Von zu direkten Vergleichen zwischen den Figuren des Epos und historischen Personen sieht von der Hagen ab, abgesehen von Parallelen, die er zwischen dem Kampf Attilas des Hunnen gegen die Christen und dem der Ungarn gegen die Deutschen zu sehen glaubt83. Allerdings zieht er eine Linie von der Zeit, in der das Nibelungenlied geschrieben wurde, zu der Epoche der Völkerwanderung:
Das ist der Mythus, zugleich die Ur-Geschichte, in den Nibelungen. Nicht minder finden wir aber darin auch die wirkliche, davon sich trennende Geschichte unseres Volkes in ihren bedeutendsten Zügen, von der ältesten Zeit her: die Völkerwanderung (...), dann die jüngere Heldenzeit unter den Heinrichen und Ottonen, in Rüdiger und Pelegrin, die Darstellung und Belebung all dieser uralten Namen, Gestalten und Sagen durch die aus demselben Boden am herrlichsten aufgeblühte Zeit des letzten großen Dichters: die freilich wol schon vorbereitete Umbildung und Milderung des alten grauenvollen Mythus, wie er noch im Norden dämmert (...); die Verwandlung der urmythischen in menschliche und herzliche Verhältnisse, kurz, der ganzen großen Geschichte in eine fast durchaus wahrscheinlich und gleichsam gleichzeitige, Christlich-Deutsche Rittergeschichte, an welcher der Dichter selber herzlich Theil nimmt, auch wohl Befreundetes darin verherrlichte, und als der reinste und tiefste Spiegel seiner ganzen Zeit vor uns steht.84
In den Heldenliedern der Edda finden sich die „ältesten überlieferten Vorstufen des Nibelungenstoffs"85, deren Entstehungszeit sich irgendwann in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ansiedeln lässt, und die in einer Handschrift aus der Zeit der Wende zum vierzehnten Jahrhundert überliefert sind86. Von den Liedern der Edda, die den Nibelungenstoff behandeln, ist u.a. auch von Andreas Heusler versucht worden, geschichtliche Grundlagen zu ermitteln und entschlüsseln. Seiner Theorie zufolge lassen sich durchaus historische Entsprechungen der Figuren aus dem Nibelungenstoffkreis finden: „Gunnar (Gunther) und Giselher (nord. Guttorm) = die Burgunden Gundiharius und Gislaharius ( + 437); Atli/Etzel = Affila (+ 453); sein Bruder Blœdel = Bleda (+ 444/445) und Dietrich von Bern/ Thiärek = der Ostgote Theoderich (+ 526)"87.
Auch über Sigurd/Siegfrieds mögliche geschichtliche Vorlage gibt es viele Theorien, „von Arminius bis zu einem Frankenkönig"88, von denen allerdings keine auch nur im entferntesten belegbar ist89 und deswegen nicht überzeugen kann. Es war Otto Höfler, der 1961 die These aufstellte, bei Siegfried handele es sich um den Cheruskerfürsten Arminius, wobei dann der Drachenkampf des Epos als eine mythisierte Version der Varusschlacht im Teutoburger Wald zu verstehen wäre; die Römer so wie der Drache wurden besiegt90. Die Argumente Höflers klingen teilweise relativ überzeugend, wenn man den Drachenkampf begreift als ein mythisches Modell, dessen Grundlage ein historisches Ereignis bildet91. Dazu kommen noch die Theorien um den Namen Siegfried:
Der Name Arminius ist nicht originär, da die Sippe der Cheruskerfürsten soweit die Quellen dies bezeugen - sämtlich mit der gleichen Silbe „Segi" beginnen, sein Vater z.B. hieß Segimerus. Arminius ist wohl nur eine lateinische Angleichung. Der Stammesname „Cherusker" lässt sich übersetzen mit „Hirschvolk" und verrät uns dadurch auch eine starke Hirschsympathie. Diese Verbundenheit zum Hirsch ist bei dem Siegfried der Nibelungensage Legion (...).92
Die Drachensymbolik kann Höfler auch erklären, indem er mutmaßt, dass der Drache zu Zeiten des Augustus - sprich des Arminius - ein Heeressymbol der Römer gewesen sein könnte, was sich vielleicht für jene Zeit nicht sicher nachweisen ließe, aber für nicht viel später93. So würde der Sieg in der Schlacht gegen den römischen Feind auch gleichzeitig ein Sieg über den Drachen. Höfler sieht auch weitere biografische Parallelen zwischen Arminius und Siegfried - z.B. dass beide frühzeitig durch einen hinterhältigen Anschlag ums Leben gekommen sind, durch die Hand von Verwandten. Heutzutage gilt Höflers These als ziemlich fragwürdig, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen lassen sich die Parallelen, die er (und viele seiner Zeitgenossen mit ihm94 ) zwischen Siegfried und Arminius sieht, in keinem Fall beweisen. Außerdem verlegt er die Varusschlacht, um seiner Theorie gerecht zu werden, an einen anderen Platz, als dem, an dem sie Archäologen zufolge tatsächlich stattgefunden hat95.
Dem Unvermögen, direkte historische Bezüge für Geschehnisse und Figuren des Nibelungenstoffkreises zu finden, zum Trotz, wurden lange Theorien eines geschichtlichen Hintergrundes aufgestellt; in einigen Fällen selbst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (wobei allerdings festgehalten werden sollte, dass Höfler starke Verbindungen zu den Nationalsozialisten hatte96 ). Auch hier spielen sie eine große Rolle in der Suche nach einem positiven Gründungsmythos für das Deutsche Reich, und die Parallelen, die man zwischen Siegfried und Arminius zu sehen glaubte, machten ihn zu einem Musterknaben verschiedenartig auslegbarer, diffuser deutscher Tugenden97.
2.3.1 Das germanische Weltbild reflektiert im Nibelungenlied
Der germanisch-heroische Stoff wurde „vor dem Hintergrund des Mythenwechsels vom germanisch zum christlichen Grundmythos den neuen mythischen Rahmenbedingungen angeglichen (...)"98, als es um das Jahr 1200 herum schriftlich konzipiert wurde. Der Nibelungenstoff war dem mittelalterlichen Publikum bis dato allerdings als mündliche Stofftradition bekannt, was heißt, dass eine vollkommene Adaption des alten Stoffes an die „neuen Strukturen"99 nicht möglich war: Das Epos musste zwar die Mentalität der höfischen Gesellschaft widerspiegeln, jedoch gleichzeitig erkennbar bleiben, d.h. die wichtigen Elemente aus seiner mündlichen Erzähltradition beibehalten100. Diese Verbindung von Altem und Aktuellem sind das, was das Nibelungenlied brüchig wirken lassen. Dazu lässt sich die Eingangsstrophe des Nibelungenliedes zitieren:
Uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grözer arebeit,
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.101
Hier wird das Problem, mit dem sich der Dichter konfrontiert sieht, beim Namen genannt: zum einen handelt der Text von Dingen, die in ferner Vergangenheit stattfinden, womit ihm ein „fiktive[r] Wahrheitsanspruch"102 verliehen wird. Zum anderen zeigt seine Formulierung, dass der Text ein bekannter ist:
Im „uns bewegt der Epiker sein Publikum zur kollektiven Erinnerung, es ist kein plural majestatis, der ihn über seine Hörer erheben würde." Der Verfasser selbst bleibt anonym, ein weiteres Zeichen dafür, daß er dem Publikum keine neue Erzählung vorstellte, sondern sich im Bereich der volkstümlichen Überlieferung bewegte.103
Mehrere der vorchristlichen Elemente, die Teil des germanischen Weltbildes sind, lassen sich im Nibelungenlied finden, angefangen mit dem germanischen Schicksalsbegriff. Dieser hängt eng zusammen mit der germanischen Vorstellung vom
Ende der Welt. Diese war geprägt von extremem Fatalismus104, denn nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter müssen einst ihrem Schicksal unterliegen. Die Götter kennen zwar ihre eigene Zukunft und versuchen auch, das schlimme Schicksal abzuwenden, scheitern jedoch zuletzt. Das Einzige, was sie tun können, ist ihr Schicksal zu akzeptieren und sich dem Kampf, der unweigerlich kommen wird, zu stellen. An diesem müssen sie zwar scheitern, können aber dadurch der Welt einen Neuanfang ermöglichen105. 1898 schrieb Paul Herrmann:
Derselbe Fatalismus, der die germanischen Krieger jauchzend in das Wetter der Speere trieb, der den Losorakeln im häuslichen Leben wie im öffentlichen Kult eine solche Bedeutung beimaß, dehnte mit unheimlicher Konsequenz seine Anschauungen auch auf die Götter aus und faßte scharf und deutlich auch das letzte Schicksal der Welt und der Götter und die letzte Zukunft ins Auge. Wie der deutsche Mann kämpft und ringt und sich der Feinde erwehrt, so sind auch seine Götter im endlosen Streite gegen die finstern Mächte begriffen. (...) [D]er Germane dachte sich den letzten Kampf seiner Götter in der Zukunft, und nicht die Götter behaupten die Walstatt, sondern ihre Gegner.106
Ähnliches findet sich zunächst in den Eddaliedern: Sigurd und die Burgunden ignorieren die Warnungen, als ihnen ihr Schicksal mehrmals prophezeit wird, und nehmen es einfach an. Diese Annahme des Schicksals bestimmt auch die Einstellung zum Tod, nicht nur in den weniger christlich geprägten Eddaliedern, sondern auch im Nibelungenlied selbst: Die Burgunden kennen ihr Schicksal und versuchen nicht, es abzuwenden, oder ihm gar zu entfliehen. Was wichtig ist, ist die Art des Todes- ein Heldentod bringt ewiges Leben dadurch, dass man sich des Helden erinnert. Zwar wird im Nibelungenlied der Untergang der Burgunden durch menschliches Handeln begründet - es ist Kriemhilds Wunsch nach Rache, der die Ereignisse in Gang setzt107 - aber das Prinzip bleibt gleich: Die Burgunden nehmen ihr Schicksal an. Jacob Grimm schreibt in seiner Deutschen Mythologie:
Unsere vorfahren scheinen, gleich andern Heiden, einen unterschied gekannt zu haben zwischen schicksal und glück. ihre götter verleihen heil und seeligkeit, vor allen ist Wuotan geber und verleiher jegliches gutes, schöpfer und urheber des lebens und sieges (...). Aber auch er, samt den übrigen gottheiten, vermag nichts gegen eine höhere weltordnung, die ihn selbst nicht von dem allgemeinen untergang ausnimmt (...) einzelnes entscheidet sich wider seinen willen (...). Das schicksal hat es hauptsächlich mit dem beginn und dem Schluss des menschlichen lebens zu thun. die geburtsstunde entscheidet über seinen verlauf und ausgang.108
Diese Art von ewigem Leben durch Ruhm bei den Lebenden, welches der christlichen Version von Leben und Rettung nach dem Tod so abgeht, wird in der taciteischen Germania lof genannt109. Ein heroischer Krieger, der mit diesen Werten großgezogen wurde, würde wenig davon haben, einfach zu überleben, wenn der mutige Weg der Kampf bedeutete. Mut konnte einem Mann lof bringen, während der Feigling trotzdem vor seiner Zeit sterben könnte110. Diese Art der Mentalität erklärt eine Stelle aus dem Nibelungenlied, die beim unvorbereiteten Leser normalerweise Irritation verursacht, und zwar die Szene, in der Kriemhild Hagen tötet, und dann selber vom wütenden Hildebrand hingerichtet wird
„Wäfen", sprach der fürste, „wie ist nu tôt gelegen" von eines wîbes handen der aller beste degen, der íe kóm zu sturme oder ie schilt getruoc! swie vînt ich im wære, ez ist mir léidé genuoc."; (2374).
Dô sprach der alte Hildebrant „ja geniuzet sie es niht, daz sie in slahen torste. swaz mir davon geschiht, swie er mich selben bræhte in angestlîche nôt, idoch sô will ich rechen des küenen Tronegæres tôt."; (2375).
Durch praktisch das ganze Epos hindurch wird Kriemhild als das Opfer mörderischer Intrigen dargestellt, wobei Hagen einen nicht unbeachtlichen Teil der Schuld trägt; schließlich missbraucht er ihr Vertrauen in ihn, um ihren Ehemann hinterrücks zu ermorden. Wenn man aber in diesem letzten Abschnitt des Nibelungenliedes sich die heidnisch-germanische Einstellung von Mut, Tapferkeit im Angesicht des Todes und Akzeptieren seines Schicksals bewusst macht, dann wird es auf einmal verständlich, weswegen Hildebrand so entsetzt ist, als Kriemhild Hagen hinrichtet. Offenbar hat das Einfließen dieser alten Tradition auch das mittelalterliche Publikum irritiert, was die Komposition der Klage erklärt, in der Hagen als Bösewicht abgestempelt, und Kriemhild von aller Schuld befreit wird.
Ein weiterer Aspekt des germanischen Weltbildes, der sowohl die Lieder der Edda als auch das Nibelungenlied prägt, ist der vielzitierte Aspekt der Treue. Dieser stellt einen wichtigen Motivbereich dar: In den Eddaliedern, sowie in Wagners Götterdämmerung, ist es das Hintergehen von Treue und das Nicht-Einhalten von Verträgen, das am Ende zum Untergang der Götter und auch zum Burgundenuntergang führt: „Der von Brünhild vorgegebene, scheinbare Treuebruch Sigurds wird durch seine Ermordung, einen Bruch der Schwurbrüderschaft, vergolten und führt zum Untergang aller Beteiligten"111. Auch Gudrun wird in den Eddaliedern von Treue zu ihrer Familie motiviert und rächt am Ende ihre Brüder, obwohl diese Mitschuld tragen am Tode Sigurds112. Der Verfasser des Nibelungenliedes musste nun einen Stoff aus einem obsoleten Wertesystem so umfunktionieren, dass er in die aktuelle, christlich-höfische Ordnung passte, ohne der Geschichte ihrer Identität zu berauben. Ein Beispiel dafür ist die Veränderte Rolle Kriemhilds im mittelhochdeutschen Epos:
Die (...) Umwertung Kriemhilds, von der Warnerin oder Helferin ihrer Brüder zur Rächerin ihres Mannes an ihren Brüdern, ist die zentrale Umwertung, mit der der Verfasser des Nibelungenliedes nicht nur die beiden Teile des Epos verband, sondern ihm auch neue, für ein mittelalterliches Publikum akzeptable Bedeutungsinhalte zuordnete (...).113
Die „unerbittliche Heroik"114 der germanischen Überlieferung passte nicht mehr in das Weltbild der Zeitgenossen des Verfassers des Nibelungenliedes, aber die Spuren einer viel älteren Stofftradition bleiben - und mussten, nach seiner ,Wiederentdeckung' im achtzehnten Jahrhundert, für viele ideologische und politische Verirrungen in Deutschland Pate stehen. Wenn auch nach 1945 versucht wurde, alle Referenzen zu Germanen und deutscher Mythologie (insofern es solche denn gibt) fallen zu lassen, so ist eine gründliche Beschäftigung mit dem Nibelungenlied schwierig, ohne einen Blick auf seine Stofftradition. Eine textimmanente Interpretation konfrontiert den Rezipienten mit zu vielen Widersprüchen, und eine Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte des Epos bringt gleichzeitig eine Beschäftigung mit seiner Wirkungsgeschichte mit sich, da es keine klaren Antworten auf die Frage der Ursprünge der Nibelungensage gibt.
[...]
1 Bernhard R. Martin, Nibelungen-Metamorphosen: Die Geschichte eines Mythos, München 1992, S. 1.
2 Jan-Dirk Müller, Spielregelnfür den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 6.
3 Vgl. „Nibelungen-Rezeption.de: Ein Projekt der Universität Duisburg-Essen zur Rezeption des Nibelungenstoffes". Online: http://www.Nibelungen-Rezeption.de/ (Zugriff 01.07.2011). Vgl. ebenfalls: Mareike Müller, „Interview zu Pergamentfund: ,Die Namen weisen auf den Nibelungenstoff hin'", in: Spiegel Online Wissenschaft. Online: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,242874,00.html (01.04.2003, Zugriff: 11.07.2011).
4 Vgl. ARD Sportmoderator Tom Bartels am 07.09.2010 über das Arbeitsverhältnis zwischen Fußball Nationalspieler Lukas Podolski und Trainer Joachim Löw: „Einige sagen [es handele sich um] Nibelungentreue." Vgl. ebenfalls Beiträge im Sport-Forum der Bild Online über Joachim Löws vermeintlicher Nibelungentreue zum Nationalspieler Miroslav Klose: „Dein Sport, Dein Forum: Meinung Live", in: Bild Online (13.06.2010). Online: http://www.bild.de/community/bild/forums/Nationalmannschaft/1573994/ (Zugriff: 15.04.2011).
5 Ein Terminus, der noch im Laufe der Arbeit angezweifelt wird, da das Nibelungenlied nicht wirklich verschwunden ist, sondern nur über lange Zeit nicht mehr rezipiert wurde.
6 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 7.
7 Friedrich Heinrich von der Hagen, Der Nibelungen Lied, Berlin 1807, S. 467.
8 Martin, S. 1.
9 Vgl. ebd.
10 Ebd., S. 2.
11 Ebd., S. 3.
12 Martin, S. 3.
13 Ebd.
14 Vgl. Joachim Heinzle/ Anneliese Waldschmidt (Hrsg.), Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studium und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. Und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991, S. 8.
15 Volker Gallé, „Die Geburtsstunde der Germanistik. Das Nibelungenlied und Friedrich Heinrich von der Hagen", in: Die Nibelungenlied-Gesellschaft. Online: http://www.nibelungenlied- gesellschaft.de/03_beitrag/galle/fs08_galle.html (Zugriff: 20.01.2011).
16 Lothar Van Laak, „,lhr kennt die deutsche Seele nicht': Geschichtskonzeptionen und filmischer Mythos in Fritz Langs Nibelungen", in: Meier, Mischa/ Slanička, Simona (Hrsg.), Antike und Mittelalter im Film: Konstruktion - Dokumentation - Projektion, Köln 2007, S. 267-283, S. 267.
17 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich, Deutsche Mythologie. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion, Berlin 2000, S. 163. Vgl. ebenfalls Müller, Spielregeln, S. 8.
18 Gerold Bönnen/ Volker Gallé [Hrsg.], Der Mord und die Klage. Das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt. Dokumentation des 4. Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. vom 11. bis 13. Oktober 2002, Worms 2003, S. 107.
19 Vgl. Heinrich Beta, Das Nibelungenlied als Volksbuch. In neuer Verdeutschung. Mit einem Vorwort von Friedrich Heinrich von der Hagen, Berlin 1840.
20 Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch: Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik, Stuttgart 1977, S. 2 ff.
21 Johann Gustav Büsching/ Friedrich Heinrich von der Hagen, Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert, Berlin 1812, S. iii.
22 Ebd.
23 Ebd., S. 8/9.
24 Vgl. Martin, S. 136 ff.
25 Vgl. Victor Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter: Eine Einführung, Berlin 2008, S.175
26 Millet, S. 176.
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd., 178.
31 Millet, S. 177.
32 Ebd, S. 178.
33 Vgl. Millet, S. 178.
34 Vgl. Ebd.
35 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch- neuhochdeutsch. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hrsg. Von Helmut de Boor, 22. revidierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage, Wiesbaden 1996 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), S. vii.
36 Volker Gallé, „Das Nibelungenlied und Europa", in: Die Nibelungenlied-Gesellschaft. Online: http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/03_beitrag/galle/galle_fs2.html (Zugriff02.02.2011).
37 Millet, S. 178.
38 Martin, S. 45.
39 Millet., S. 179.
40 Ebd.
41 Vgl. Gunter E. Grimm, „Die Literarische Rezeption des Nibelungenstoffes", in: Nibelungen- Rezeption.de (18.02.2008). Online: http://www.Nibelungen- Rezeption.de/literatur/quellen/Texte%20chronologisch.pdf (Zugriff: 03.05.2011).
42 Millet, S. 179.
43 Otfrid Ehrismann: „Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte und Psychologie eines nationalen Identifikationsmusters", in: Damals. Zeitschrift fürgeschichtliches Wissen, Gießen 1980, S. 942-960, S. 953.
44 Ebd., S. 950.
45 Heinrich Beta, Das Nibelungenlied als Volksbuch. In neuer Verdeutschung. Mit einem Vorwort von Friedrich Heinrich von der Hagen, Berlin 1840, S. v.
46 Vgl. ebd., S. 342.
47 Friedrich Heinrich von der Hagen, Der Nibelungen Lied, Berlin 1807, S. 496.
48 Martin, S. 31.
49 Ebd.,S. 31.
50 Vgl. Bert Nagel, Das Nibelungenlied. Stoff- Form- Ethos, Frankfurt a.M. 1970 (1965), S. 7 ff.
51 Ebd., 12.
52 Ebd.
53 Ebd.
54 Ebd.
55 Matthias Teichert, Von der Heldensage zum Heroenmythos: vergleichende Studien zur Mythisierung der nordischen Nibelungensage im 13. und 19./20. Jahrhundert, Heidelberg 2008, S. 22.
56 Ebd.
57 Nagel., S. 13.
58 Vgl. Teichert, S. 22.
59 Ebd.
60 Nagel., S. 13.
61 Vgl. Das Nibelungenlied, S. ix.
62 Vgl. Teichert, S. 23.
63 Nagel, S. 13.
64 Vgl. Ebd., S. 7 ff.
65 Lutz Mackensen, Die Nibelungen. Sage, Geschichte, ihr Lied und sein Dichter, Stuttgart 1984, S. 17.
66 Martin, S. 37.
67 Martin., S. 36.
68 Martin., S. 34.
69 Das Nibelungenlied, S. ix.
70 Ebd.
71 Mackensen, S. 14.
72 Martin., S. 36
73 Ebd.
74 Ebd.,S. 41.
75 Ebd., S. 42.
76 Ebd., S. 43.
77 Martin., S. 36.
78 Ebd.
79 Ebd.
80 Vgl., Joachim Heinzle, „Die Nibelungensage als europäische Heldensage", in :Heinzle, Joachim/ Klein, Klaus/ Obhof, Ute (Hrsg.), Die Nibelungen: Sage - Epos - Mythos, Wiesbaden 2003, S. 3.
81 Friedrich Heinrich von der Hagen, Die Nibelungen: Ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer, Breslau 1819, S. 38.
82 Hagen, Die Nibelungen, S. 37/38.
83 Vgl. ebd., S. 40.
84 Ebd., S. 38/39.
85 Martin, S. 45.
86 Vgl. ebd.
87 Martin, S. 60.
88 Ebd.
89 Vgl. ebd.
90 Eichfelder, „Der Drachenkampf in der Nibelungensage", in: Die Nibelungenlied-Gesellschaft. Online: http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/03_beitrag/eichfelder/eichf_fs1.html (Zugriff: 12.06.2011).
91 Vgl. ebd.
92 Ebd.
93 Sabine B. Sattel, Das Nibelungenlied in der wissenschaftlichen Literatur zwischen 1945 und 1985: ein Beitrag zur Geschichte der Nibelungenforschung, Frankfurt a.M. 2000 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1739), S. 37.
94 Vgl. Susanne Frembs, Nibelungen und Nationalgedanke nach Neunzehnhundert. Über den Umgang der Deutschen mit ihrem 'Nationalepos', Stuttgart 2001, S. 101.
95 Vgl. Eichfelder.
96 Vgl. Volker Gallé, „Otto Höfler und Bernhard Kummer: Nibelungenforscher im NS-System", in: Die Nibelungenlied-Gesellschaft. Online: http://www.nibelungenlied- gesellschaft.de/03_beitrag/galle/fs06_galle.html (Zugriff: 03.08.2011).
97 Vgl. Frembs, S. 102.
98 Martin, S. 214.
99 Ebd.
100 Vgl. Martin, S. 115.
101 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch- Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor, ins Neuhochdeutsche übersetzt von Siegfried Grosse, Stuttgart 2003 (1997), S. 6, V. 1.
102 Martin, S. 74.
103 Ebd.
104 Vgl. Paul Herrmann, Deutsche Mythologie, Berlin 2007 ( Leipzig 1898), S. 366.
105 Vgl. Martin, S. 62.
106 Herrmann, S. 366/367.
107 Vgl. Martin, S. 76.
108 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Göttingen 1835, S. 500/501.
109 Vgl. Bruce Mitchell/ Fred Robinson, A Guide to Old English, Oxford 2001 (1964), S. 135 ff.
110 Vgl. ebd.
111 Martin, S. 64.
112 Vgl. Martin, S. 64.
113 Ebd.,S. 79.
114 Ebd.,S. 115.
- Arbeit zitieren
- Cristina Nissen (Autor:in), 2011, Das Nibelungenlied als Volksbuch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205978