Leseprobe
Inhalt
1. Die Entstehung eines neuen Bildungsideals
1.1 Die traditionelle Ausgangssituation
1.2 Die Ideale der Haskala
2. Erziehung in der Haskala
2.1 Reformgedanken
2.2 Die Freischule in Berlin
3. Fazit
Anhang
1. Die Entstehung eines neuen Bildungsideals
1.1 Die traditionelle Ausgangssituation
„Für die Juden war bis ins 18. Jahrhundert die religiöse, soziale und kulturelle Welt identisch“, schreibt Ingrid Belke in ihrem Aufsatz Die soziale Lage der deutschen Juden im 18. und 19. Jahrhundert[1]. An diesem Zitat allein erkennt man die Gewichtung des religiösen Gesetzes, das alle Aspekte des Lebens bestimmte, sei es Arbeit oder Freizeit.
In ganz Europa basierten die Schulen auf religiösen Grundsätzen[2], die streng voneinander abgegrenzt wurden und sich so in ihrem pädagogischen Maßnahmen stark unterschieden. Für jüdische Kinder bestand die Ausbildung grundsätzlich aus der religiösen Schul [3], die zwar grundlegende Bildungsinhalte vermittelte, jedoch nur jene, die für das tägliche Überleben zwingend notwendig waren. Für Jungen war außerdem die Jeschiwa -Ausbildung vorgesehen, während die Ausbildung der Mädchen häuslich blieb, da sie in der patriarchlichen Gesellschaft kaum Schulbildung erhielten, obwohl die Lesefähigkeit allein aus ökonomischer Sicht sinnvoll für Frauen war. Das Judentum beinhaltet traditionellerweise lebenslanges Lernen und Studieren, so hatte das Lernen der Kinder keinen eigenen besonderen Platz in der Welt der Erwachsenen[4] - in der Tat kam die „Kindheit“ im Sinne des heutigen Konzepts erst durch die Aufklärung in Westeuropa auf. Kinder, zumindest Jungen, wurden schon im Alter von drei Jahren selbstverständlich in die traditionelle Gelehrsamkeit integriert.
Trotz der Kritik an weltlichem Unterricht seitens der Rabbiner, ließen wohlhabende „Hofjuden“[5] ihre Kinder häufig neben der Jeschiwa von jüdischen und nicht-jüdischen Privatlehrern in Fremdsprachen und weiteren geschäftlich und gesellschaftlich nützlichen Fächern unterweisen, die für den gesellschaftlichen Aufstieg der Hofjuden maßgeblich war. Rotraud Ries benennt den Konflikt dieser Entscheidung, da dieser Lebensstil dazu führte, dass die Hofjuden nicht mehr als „richtige“ Juden empfunden wurden[6], besonders von Seiten der traditionellen Rabbiner. Dennoch war dieser Unterricht abhängig von der Bildung des Lehrers, die nicht zwangsläufig ausreichend war. Scharfer Kritik ausgesetzt waren die polnischen Lehrer, deren Verhalten, Kleidung und Bildung in den Augen der Maskilim unzureichend war, da die Haskala die osteuropäischen Juden nicht erreichte[7]. Besonders der Umstand, dass die Unterrichtssprache im Cheder Jiddisch war, erschien den Vertretern der Aufklärung als Problem, da dies für sie das größte Hindernis darstellte, sich der deutschen Kultur anzunähern und sich damit zu emanzipieren.[8] Der Reichtum der Hofjuden ermöglichte es den Kindern also sich der nicht-jüdischen Gesellschaft zu nähern, was den Idealen der Haskala-Befürwortern entsprach.
1.2 Die Ideale der Haskala
Die Haskala blickte als relativ späte Aufklärungsbewegung laut Schulte[9] zu den Zielen der anderen europäischen Aufklärungsbewegungen empor, die ihr in vieler Hinsicht, nicht zuletzt zeitlich, voraus war. Des weiteren beschreibt Schulte, dass es keine geistigen Vorbilder gab, auf deren Ideale man sich hätte berufen können, sodass die jüdische Aufklärungstradition zwischen mittelalterlichen Philosophen wie Maimonides und nicht-jüdischen Aufklärern stand. Aus diesem Umstand heraus lässt sich auch das Hauptziel der jüdischen Aufklärung erkennen: Bildung zwecks der Emanzipation des frei denkenden Individuums. Juden wie Christen sollten idealerweise zu selbstständig denkenden Menschen erzogen werden und endlich zur Erkenntnis gelangen, dass alle Religionen gleichberechtigt seien.
Dass die traditionelle jüdische Erziehung mit diesem Ideal im Konflikt stand, ist offensichtlich. Das Ideal des jüdischen Mannes war bis dato das eines tief Religiösen, der sich strikt an die religiösen Gesetze hielt und sich ganz dem Talmudstudium opferte. Doch nun verlangte die Gesellschaft nach einem neuen Typen, nämlich dem des wissenschaftlich gebildeten Mannes, der Hochdeutsch sprach und damit den Weg aus der unterdrückten Randgruppe zur den Christen gleichberechtigten Gemeinde bahnen sollte.
Dem jüdischen Aufgeklärten war die Religion zwar immer noch ein wichtiger Anker, jedoch befürwortete er die Trennung von Religion und Staat. Der Glaube eines Menschen sollte nunmehr aus freien Stücken entstehen: „[…] religious faith acquired through free choice, a religion that the believer adheres to of his own free choice, is preferable to religious conduct resulting from coercion and habit.“[10] In diesem Sinne sollte auch das strikte religiöse Gesetz, das das alltägliche Leben maßregelte, nicht als Hindernis des nützlichen Staatsbürgers fungieren.
[...]
[1] Pleticha, Heinrich, [Hrsgb]: Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Königshausen & Neumann, 1985, S. 13
[2] Behm, Britta [Hrsgb]: Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Waxmann, 2002, S. 14
[3] Schulte, Christoph: Die jüdische Aufklärung. C.H. Beck oHG, 2002, S. 24
[4] Herzig, Arno, Horch, Hans Otto, Jütte, Robert [Hrsgb]: Judentum und Aufklärung. Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 53
[5] Behm, S. 72
[6] Herzig, Horch & Jütte, S. 30
[7] Allerhand, Jacob: Das Judentum in der Aufklärung. Fromman-Holzboog, 1980, S. 47
[8] Eliav, Mordechai: Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation. Waxmann, 2001, S. 185
[9] Schulte, S. 18 - 19
[10] Feiner, Shmuel: The Jewish Enlightenment. University of Pennsylvania Press, 2002, S. 59