Immanuel Kants Nova Dilucidatio, Propositionen I–IX: Die Freiheitsproblematik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

19 Seiten


Leseprobe


Gliederung:

A. Einleitung

В. Hauptteil
I. Propositionen I-X der ND
1. Einführung und Überblick
2. Abschnitt 1 - Proposition
3. Abschnitt 2 - Propositionen
a. Der Satz des bestimmenden Grundes
b. Gott
c. Der Beweis des Satzes des bestimmenden Grundes
d. Die Folgen des Satzes des bestimmenden Grundes - die Freiheitsproblematik
e. Das Scheitern
II. Freiheit in der KrV
1. Übergang und Einführung
2. Kontinuität

C. Fazit

Anhang: Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Einer der wenigen Philosophen, dessen Name heutzutage nicht nur einem kleinen Kreis von eingeweihten Intellektuellen, sondern einem großen Teil der Gesellschaft zumindest dem Namen nach bekannt ist, ist Immanuel Kant. Quelle diesen „Weltruhmfs]“1 waren seine sogenannten kritischen Schriften, in denen er, beginnend mit der Kritik der reinen Vernunft 2 (1781, 21787) (ab jetzt: KrV), die Grenzen für ein neues System der Philosophie festsetzt.

Als Folge dieses von Kant proklamierten und seinen Zeitgenossen auch so empfundenen Neuanfangs3 der Philosophie, mussten alle vorherigen philosophischen Schriften, einschließlich derer Kants, als diesem neuen System noch nicht angemessen, und darum als zu verwerfende betrachtet werden. Kein Wunder also, dass Kants Urteil über seine eigenen Werke vor 1770 ablehnend ausfiel, und ihre Relevanz für die Untersuchungen vieler Kantforscher, da sie sich an Kants Selbsteinschätzung hielten, von marginaler Bedeutung blieb4.

Diese Missachtung der vorkritischen Werke wird aber weder deren Inhalt gerecht, noch ist sie klug, wenn man das Ziel hat, Kants spätere Gedanken vollständig, und vor allem unter Beachtung ihrer Entstehung zu verstehen. Die Selbsteinschätzung Kants, dass sein Schaffen in zwei völlig unterschiedliche Phasen eingeteilt werden müsste, ist darum zu Gunsten einer plausibleren Sicht aufzugeben, die eine gewisse, kontinuierliche Entwicklung5 seiner Gedanken akzeptiert, auch über die beiden Phasen hinweg, ohne zu leugnen, dass mit dem Scheitern des vorkritischen Projekts6, und dem Neuanfang in der Inauguraldissertation, ein inhaltlicher Bruch in Kants Denken vorliegt. Denn entgegen der Meinung mancher Rezensenten, die Kants Schriften vor 1760 für eine bloße ungeordnete Ansammlung hielten, gekennzeichnet durch Inkohärenz und die Wahl obsoleter Themen7, gab es in der Tat ein System in diesen Schriften, das die Bezeichnung als vorkritisches Projekt rechtfertigt.

Ausgangspunkt dieses Projekts war die Tatsache, dass zujener Zeit das Newtonsche Modell der physikalischen Wechselwirkungen sich immer mehr auf dem Vormarsch befand, und dass es durch seinen Erfolg in der Erklärung der empirischen Vorgänge zwischen physischen Körpern auch die implizit im Modell angelegten, metaphysischen Annahmen zu bestätigen schien. Jene aber - zu denen beispielsweise die Unmöglichkeit absoluter, spontaner Freiheit im Sinne von Ursächlichkeit gehört, da laut dem Newtonschen Modelljede Veränderung eine Ursache benötigt, die die Zustandsveränderung bewirkt - standen, häufig in Widerspruch zu den klassischen, metaphysischen Grundüberzeugungen, die Kant selbst auch teilte.

Kant vertrat die Position, dass diese immer größer werdende Kluft zwischen Physik und Metaphysik weder durch die Behauptung der Vorherrschaft einer der beiden Perspektiven auf die Welt, wie sie z.B. durch Leibniz mittels seiner metaphysischen Theorie von der vorherbestimmten Harmonie entworfen worden war, noch durch eine Teilung der Welt in zwei Dimensionen, deren eine den physikalischen Erklärungen gehorchte, die andere der Metaphysik Platz bot, überbrückt werden könne8. Vielmehr war er überzeugt von dem wahrhaften Vorhandensein „ofboth lawful physical processes and free activity“, und, was das entscheidende ist, „he perceived them as occuring in the same world“9. Seine eigene Aufgabe während der vorkritischen Zeit, und damit auch das Ziel des vorkritischen Projekts bestand deshalb darin, diese scheinbar widerstreitenden Positionen zu versöhnen10.

Auch wenn nicht der einzige, so doch einer zentralen Konfliktpunkte zwischen den impliziten, metaphysischen Annahmen des Newtonschen Modells und den klassischen, metaphysischen Annahmen ist eben der zwischen Determinismus und Freiheit.

Kant behandelt dieses Problem in seiner 1755 verteidigten Habilitationsschrift Principium Primorum Cognitionis Metaphysicae Nova Dilucidatio (ab jetzt: ND). Anhand einer genaueren Untersuchung der Sätze I-IX dieses Werkes möchte ich Kants Lösungsversuch darstellen, und anschließend in einem kurzen Vergleich mit dem Kanon der reinen Vernunft aus der KrV aufweisen, in wie weit sich der Aspekte seiner Haltung bis in die kritische Phase hinein bewahrt hat.

В. Hauptteil

I. Propositionen I-IX der ND

1. Einführung und Überblick

Die 1755 erschienene HabilitationsschriftND nimmt innerhalb des sogenanntenvorkritischen Projekts einen entscheidenden Platz ein, insofern Kant sich in ihr an einen der gewichtigsten Konfliktpunkte heranwagt, der einer Versöhnung von Newtonscher Physik und klassischer, spekulativer Metaphysik, entgegensteht, nämlich der scheinbaren Unvereinbarkeit von „efficient causation represented by physical influx“ und „spontaneous causation of freedom“11.

Weiß man um diesen metaphysischen Kern des Werks, so mag einen der Titel, der eine Erhellung der Grundsätze metaphysischer Erkenntnis ankündigt, verwundern, verspricht er doch dezidiert die Auseinandersetzung mit einem epistemologischen Thema. Diese Ungereimtheit ist aber bloß eine Scheinbare:

Die ND ist in13 Propositionen (Sätze) geordnet, verteilt über drei Abschnitte, von denen in die vorliegende Arbeit allerdings nur die ersten beiden Abschnitte Eingang finden werden, die da sind:

1. „Vom Satz des Widerspruchs“ (Propositionen I-III) und 2. „Vom Satz des bestimmenden, gemeinhin zureichend genannten Grundes“ (Propositionen IV-XI).

Während der erste Abschnitt, streng dem Titel des Werkes gemäß, sich in der Tat mit den ersten Prinzipien der Erkenntnis, d.h. mit Epistemologie beschäftigt, wird im zweiten Abschnitt der Schritt von den Dingen die wir erkennen, zu denen, die sind, gemacht, d.i. zur Ontologie12, dem Ort der Erörterung der Freiheitsproblematik.

Hinter dieser Vermischung dieser allem Anschein nach klar zu trennenden Feldern der Philosophie steht eine Überzeugung Kants, die für das Verständnis dieses Werks wichtig ist, aber niemals ausdrücklich expliziert wird, sondern nur als implizite Bedingung einiger Gedankengänge angenommen werden muss:

Dass die Welt real so ist, wie wir sie uns als rationale Wesen mittels unserer metaphysische Erkenntnis denken. Deshalb wird eine Untersuchung der Prinzipien metaphysischer Erkenntnis auch die ontologischen Strukturen der Wirklichkeit erhellen.13

So simpel dieser Gedanke zu sein scheint, reicht er doch aus, um das Konzept, das der ND zugrunde liegt und dem schon ihr Aufbau gehorcht, zu verstehen, nämlich, dass für unser Denken der Dinge und für das Sein der Dinge dieselben Prinzipien gelten.

Selbstverständlich genügte Kant die Beweiskraft der intuitiven Plausibilität nicht, um diesen Gedanken zu begründen, sondern es findet sich in Proposition VII eine Erörterung, die die Verknüpfung von Erkenntnis und Sein, von Epistemologie und Ontologie theoretisch untermauert. An gegebener Stelle wird darauf eingegangen werden.

Die Betrachtung der ersten Propositionen der ND muss also mit Blick auf ihr Ziel, d.h. die Frage nach der Möglichkeit von freien Handlungen in einer naturgesetzlichen Welt, unternommen werden. Denn gerade weil die in ihnen enthaltenen Prinzipien, die in der metaphysischen Tradition der Zeit zu stehen scheinen14, auf so unspektakuläre Weise dargelegt werden, bilden sie umso festere Fundamente für die darauf aufbauende Einführung des Satzes des bestimmenden Grundes, der die Vorhersagbarkeit aller Entwicklungen, solange nur die bestimmenden Gründe bekannt sind, d.h. den Newtonschen Determinismus bedeutet. Und erst wenn dies dargelegt ist, wird Kant sich damit auseinandersetzen, was das für die Freiheit bedeutet.

2. Abschnitt 1 - Proposition T-TTT

Ein wahrer Satz in der einfachst zu denkenden Form besagt entweder bejahend, X ist wahr, oder verneinend, Xist nicht wahr, d.i.falsch. Von diesen beiden Formen ist diejeweils andere in keinster Weise, d.h. weder direkt noch indirekt, ableitbar. Denn dass aus bejahenden Sätzen direkt nur weitere bejahende Folgesätze fließen, ist ersichtlich; wenn man aber die indirekte Argumentationsweise gebraucht, d.h. mittels des Gegenteils argumentiert, nach Artvon: „alles, dessen Gegenteil falsch ist, ist wahr“15, so besteht das Problem, dass dieser Satz das, was er herleiten soll, schon in sich voraussetzt, d.h. im Bezug auf das Beispiel, dass er, der einen bejahenden Satz herleiten soll, selbst bereits bejahend ist.

Nun muss aberjenes erste Prinzip der Erkenntnis, dessen Ermittlung die ND dem Titel nach gewidmet ist, zwei Kriterien erfüllen; einerseits das der Einfachheit, denn wäre es in einfachere Sätze teilbar, dann wären diese noch einmal grundlegendere Prinzipien, als es selbst, andererseits das der Allgemeinheit, was besagt, dass es „alle Wahrheiten schlechthin unter sich zusammenfassen kann“16.

Aus dem ersteres Kriterium folgt, dass das erste Prinzip entweder bejahende oder verneinende Form hat. Da aber ein bejahender Satz nur alle bejahenden, ein verneinender nur alle verneinenden Wahrheiten enthalten kann, da außerdem aus der einen Form nicht die andere abgeleitet werden kann, kann ein einziges, einfaches Prinzip nicht auch allgemein sein.

Die Folge dieser Argumentation formuliert Kant in der zweiten Proposition: „Es gibt zwei unbedingt erste Grundsätze für alle Wahrheiten“, von denen einer die bejahenden, der andere die verneinenden Wahrheitenabdeckt. DieseszweigeteiltePrinzipbesagt, „alles, was ist, ist, und alles, was nicht ist, ist nicht“,undnenntsichSatzder Identität17.Jede Artder Erkenntnisgewinnung, d.h.jede Beweisführung, direkter wie indirekter Art, baut auf ihm auf. Ergänzt wird der Satz der Identität durch den Satz des Widerspruchs: „es ist unmöglich, daß dasselbe zugleich ist und nicht ist“18.

Durch ihn wird ein wahrer Satz der Erkenntnis, bestehend aus Subjekt und Prädikat (z.B. „Die Tür ist verschlossen.“), in seiner Wahrheit festgelegt, indem eine gegenteilige Bestimmung des Subjekts („Die Tür ist verschlossen und offen.“) als unmöglich ausgeschlossen wird.

3. Abschnitt 2 - Propositionen IV-IX a. Der Satz des bestimmenden Grundes

Der Satz der Identität und der des Widerspruchs sind Grundlage für das Prinzip, das heranführen wird an die Freiheitsproblematik.

[...]


1 Enzyklopädie (2001), 208

2 Kant selbst benennt als erstes Werk der kritischen Phase seine Inauguraldissertation De Mundi Sensibilis atque Intelligibilis Forma et Principiis [vgl. Rockmore (2001), 8], in welcher er „die für seine spätere Erkenntnistheorie verbindlich bleibende Lehre von Raum und Zeit als den apriorischen Formen der Anschauung [...], wie sie sich auch in der KrV wiederfinden, vorwegnimmt [Enzyklopädie (2001), 207, vgl. auch: Findlay (1981), 69]

3 vgl. Rockmore (2001), 8: „[Kant had the] conviction that prior to the critical philosophy there had never been any philosophy equal to its task, so that in his critical writings he really brought philosophy into being.“

4 z.b. Findlay (1981), 69: „Kant's precritical writings perhaps include nothing ofthe firstphilosophical importance [...].“

5 vgl. Rockmore (2001), 9; Schönfeld (2000), 7

6 Schönfeld (2000), vi: „The Dreams of a Spirit-Seer [.] represents the difficult recognition of the precritical projects failure [...].“

vgl. auch: Rockmore (2001), 10: „In the Dreams of a Spirit-Seer, Kant suggests the impossibility of knowing the intelligible world.“

7 Schönfeld (2000), 6.

8 Schönfeld (2000), 137f.: „That [Kant] developed his synthesis of physics and freedom on the basis of nature's consistency showed his dissatisfaction with the easy escape-routes of dualism and reductivism [...].“

9 Schönfeld (2000), 138

10 vgl. Schönfeld (2000), 10f.: „[...] a reconciliation was needed because both perspectices are indispensable. Natural science supplies us with knowledge of the physical world; metaphysics provides us with answers to our questions about the intellegible framework of the physical world.“

11 Schönfeld (2000), 129

12 Vgl. Schönfeld (2000), 133f: „If Kant in the beginning of the treatise talked about truth, he was in the end concerned with substances, their changes, and their relationship to each other and to God - in other words, with the subject- matter of ontology.“

13 Vgl. Schönfeld (2000), 135: „The underlying assumption [...] was both simple andplausible: metaphysical knowledge is knowledge of reality. Metaphysical propositions involve logical structures, which, in turn, reflect the ontological structures of real states of affairs.“

14 Kant bediente sich bei der Wahl seiner Prinzipien der Erkenntnis aus dem Vorrat von Philosophen wie Leibniz, Wolff, Baumgarten, etc. Aus diesem Grund wird seine Position in der ND gerne als eine Mischung der Überzeugungen seiner Vorgänger beschrieben, vgl. z.B. Denker (2001), 133.

Kants eigener Verdienst war es letztendlich lediglich, sie in ein kohärentes System zu bringen, und kompromisslos zu Ende zu denken.

Vgl. Schönfeld (2000), 132: „[...] Kant's proposal looked like an exercise in conventionality [...].“

15 ND, 411.

16 ND, 410f.

17 vgl.ND, 418.

18 ND, 419.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Immanuel Kants Nova Dilucidatio, Propositionen I–IX: Die Freiheitsproblematik
Autor
Jahr
2012
Seiten
19
Katalognummer
V206311
ISBN (eBook)
9783656333579
ISBN (Buch)
9783656336068
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
immanuel, kants, nova, dilucidatio, propositionen, i–ix, freiheitsproblematik
Arbeit zitieren
Johannes von Rosen (Autor:in), 2012, Immanuel Kants Nova Dilucidatio, Propositionen I–IX: Die Freiheitsproblematik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206311

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