Ethische und gesellschaftskritische Motive in Arthur Schnitzlers "Traumnovelle"


Bachelorarbeit, 2009

18 Seiten, Note: 1


Leseprobe


1. Einführung

Vielen Interpretationen haben schon die erotischen Elemente in Arthur Schnitzlers Traumnovelle dargelegt. In dieser Analyse wird aber näher auf Elemente eingegangen, die als nicht-erotisch bezeichnet werden können. Es soll vorgeschlagen werden, dass man die Novelle eher im Licht von Ethik und Humanismus als im Licht von Eros und Trieb sehen kann. Am ersten Blick mag ein solcher Vorschlag merkwürdig vorkommen: Albertines Traum ist unverhohlen erotisch, Albertine und Fridolin erzählen einander erotische Fantasien, und in der Villa wird Fridolin orgiastischen Geschlechtsverkehr mit sadomasochistischen Untertönen ausgesetzt. Aber sonst? Inwiefern sind Fridolins übrige Erlebnisse in der ersten Nacht erotisch? Und wie ist es mit dem zweiten Tag/der zweiten Nacht? Wie hängen eigentlich Fridolins Erlebnisse am zweiten Tag mit Albertines Traum zusammen? Und schlieβlich: Beinhaltet das angeblich glückliche Ende erotische Versprechen, oder zielt Schnitzler auf etwas anderes? In der vorliegenden Arbeit wird versucht, auf diese Fragen näher einzugehen.

Keineswegs soll hier bestritten werden, dass “Unterdrückung der weiblichen Sexualität” und “Verborgene Lüste in der bürgerlichen Ehe” wichtige Motive in Traumnovelle sind[1]. Nur soll hier darauf hingewiesen werden, dass die Novelle zusätzlich eine Reihe von nicht-erotischen Motiven beinhaltet, die wenigstens so wichtig sind wie die erotischen Motive. In dieser Hinsicht ist diese Arbeit besonders von zwei Literaturwissenschaftlern beeinflusst, und zwar William Rey, der die Novelle in einem humanistisch/ethischen Licht liest, und Jill Scott, die die Novelle als Kommentar zur Ersten Republik Österreich versteht. Mit diesen Betrachtungen übereinstimmend, wird hier Fridolins Handlungen eher auf Ethik und Humanismus als auf Eifersucht und Rache basiert gesehen, seine Erlebnisse vor dem Traum werden als Kommentare zur dekadenten Donaumonarchie verstanden, und seine Erlebnisse nach dem Traum werden als Kommentar zur Neuen Österreichischen Republik verstanden.

Vor der eigentlichen Textanalyse werden kurz einige Bemerkungen zum Titel und zur Erzähltechnik gemacht, weil diese für die gesamte Analyse bedeutsam sind.

2.1 Der Titel ‚Traumnovelle‘

Der Titel Traumnovelle gibt unmittelbare Assoziationen zu Sigmund Freuds Traumdeutung und dessen Fokussierung auf einen erotischen Inhalt der Träume. Die Geschichte beinhaltet aber nur einen Traum, und die Frage liegt nahe, warum Schnitzler in dieser Weise den einzigen vorkommenden Traum hervorhebt. Weiter weist die Geschichte unmittelbar die Merkmale einer Novelle auf, und auch hier könnte man sich fragen, warum es Schnitzler so wichtig war, die Gattung im Titel zu erwähnen. Schnitzlers Tagesbuchaufzeichnungen zufolge ist er spätestens 1907 mit dieser erst 1925/26 erschienenen Novelle angefangen. Zunächst war der Arbeitstitel „Doppelgeschichte“, dann „Doppelnovelle“ und erst 1924 bekam die Novelle den Titel „Traumnovelle“[2]. Schnitzler hat also erst “Doppel” durch “Traum” ersetzt, nachdem er 1922 seine Gespräche mit Sigmund Freud angefangen hat[3]. Warum hat Schnitzler den Arbeitstitel so spät geändert?

Um den Titel zu erklären, schlägt Krotkoff vor, dass Schnitzler, der eine gewisse Skepsis der Psychoanalyse gegenüber hegte, vielleicht durch die im Titel explizit erwähnte Novellengattung davor warnen wollte, den Text als einen freudianischen Fall zu lesen[4]. Es gehe in der Novelle um keine Wiedergabe eines realen Traums, sondern um einen literarisch konstruierten Traum, und er müsse als solcher analysiert werden. Man muss sich also bewusst machen, ob man Albertines Traum als literarisches Produkt oder als wirklichen Traum analysiert. Als literarischen Traum kann man ihn natürlich mit gewöhnlichen literarischen Methoden analysieren, darunter nach Symbolen und Bedeutungen suchen. Verwendet man aber die freudschen Traumdeutungsmethoden und –Symbole auf dem literarischen Traum, dann wird übersehen, dass der Traum konstruiert und nicht real ist, und dass der Autor den Traum an den gesamten Text angepasst hat.

Falls Schnitzler tatsächlich durch die Erwähnung der Gattung im Titel vor einem psychoanalytischen Lesen warnen würde, ist es ihm teilweise misslungen, weil eine Reihe von Interpretationen nicht nur den Traum, sondern auch Fridolins Erlebnisse durch Freuds Brille lesen[5]. Weiter hat die Titelhervorhebung vom einzigen vorkommenden Traum den Effekt gehabt, dass die Forschungsliteratur viel Gewicht auf die erotischen Aspekte der Novelle gelegt hat. Wie oben erwähnt, können die meisten Erlebnisse Fridolins kaum als erotisch betrachtet werden, weswegen es hier vorgeschlagen werden soll, mehr Gewicht auf die nicht-erotischen Aspekte der Novelle zu legen.

2.2 Erzähltechnik

“Niemals in die Zukunft fragen” (TN, S.121)[6] – so lautet Albertines letzte Bemerkung, und tatsächlich fällt es auf, dass die Zukunft in der Novelle fast nie besprochen wird. Zum Beispiel sind Fridolins Gedanken fast ausschlieβlich mit der Vergangenheit oder unmittelbaren Gegenwart beschäftigt. Erzähltechnisch wird dieser Effekt durch verschiedene sprachliche Wirkmittel und Erzählerrollen erreicht.

In der Novelle werden häufig erlebte Rede, erlebter Gedanke und innerer Monolog benutzt. Das Wirkmittel “innerer Monolog” war zu Schnitzlers Zeit recht neu[7]. In Traumnovelle kommen aber erlebte Rede und erlebter Gedanke viel häufiger vor als innerer Monolog.[8] Innerer Monolog gibt Zugang zum Vorbewussten, zu den Finsternissen der Seele, bevor diese Elemente in bewusste und wohl überlegte Gedanken umgesetzt werden[9]. Erlebter Gedanke ist bewusster als innerer Monolog, vermittelt aber auch Zugang zum Inneren einer Person. Erlebte Rede tendiert vor allem dazu, die Sprache zu variieren und lebendiger zu machen.[10] Für Traumnovelle ist der Gesamteffekt dieser Wirkmittel, dem Leser Zugang zum bewussten Inneren Fridolins und nur ein paar Male auch zu dessen Vorbewussten zu geben. Die Verwendung von erlebtem Gedanken und innerem Monolog und die Abwesenheit eines allwissenden Erzählers bedeuten, dass der Leser manchmal im Zweifel gerät, was Fridolin “eigentlich” fühlt und denkt, und der Leser wird deswegen gefordert, die Äuβerungen Fridolins zu bewerten und “zwischen den Zeilen” zu lesen[11]. Zum Beispiel sollte man wahrscheinlich Fridolin nicht unbedingt glauben, wenn er seine Handlungen als „Rachewerk“ beschreibt und begründet.

3. Albertines Traum und Fridolins Erlebnisse

Der Traumdeutungstheorie zufolge sind Tagesreste das wichtigste “Nahrungsmittel” eines Traums[12]. In Albertines Traum, der ja literarisch und nicht real ist, tauchen aber nicht nur Tagesreste auf (vor allem Elemente aus dem ersten Kapitel), sondern auch Erlebnisse, von denen Albertine realistisch gesehen nichts wissen kann (vor allem Fridolins Erlebnisse bei der Orgie).

Weiter tauchen im Traum Elemente der “Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad” aus Tausendundeiner Nacht auf. Das Märchen, das das Kind am Anfang der Novelle vorliest, beinhaltet die Worte “Prinzen Amgiad” (TN, S.9), und dem Leser werden damit Assoziationen zur oben erwähnten Geschichte gegeben. Die Erzählungen der Tausendundeiner Nacht waren um der Jahrhundertwende sehr beliebt, weswegen ein damaliger Leser wahrscheinlich diese Intertextuelle Referenz mitbekommen hat.[13] Die Geschichte berührt Motive wie “Verbotene Liebe”, “Doppelexistenz”, “Getrenntheit” und “Sich wieder finden” – Motive, die auch in Traumnovelle vorkommen[14].

[...]


[1] Siehe z.B. die wichtigen Beiträge von Perlmann: Schnitzler, 1987a; Perlmann: Traum, 1987b; Scheffel: Formen.

[2] Spiel: Abgrund, S.167; Scheffel: Formen, S.180

[3] Perlmann:Schnitzler, 1987a, S.159

[4] Krotkoff: Themen

[5] Siehe z.B. Scheible: Aufklärung; Kluge: Wunsch; Santner: Masters; Scott: Fantasies

[6] Seitenangaben im Text mit Abkürzung ‚TN‘ beziehen sich auf Schnitzler: Traumnovelle.

[7] Es wurde mit Edouard Dujardins Roman Les lauriers sont coupés (1888) zum ersten Mal verwendet (Leiβ und Stadler: Literaturgeschichte, S.198). Schnitzler hat vor allem inneren Monolog in Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) verwendet (Sprengel: Geschichte, S.236).

[8] Beispiele sind:

Erlebte Rede: “Also wirklich erst vierundfünfzig Jahre war er alt gewesen? [… ] Der Bruder hätte es schon weiterbringen können unter günstigern Umständen” (TN, S.23). “Was für Anlaβ denn vorgelegen habe, sich schon um die Mittagsstunde um eine Dame zu kümmern […] Man hatte sofort Rettungsgesellschaft und Polizei verständigt” (TN, S.108).

Erlebter Gedanke: “Wozu immer er sich entschlösse, das Leben konnte es nicht kosten […] gewiβ nicht unter Buben oder Verbrechern” (TN, S.63). “Schwere Vergiftung … Aber sie lebte […] Sie hatten kein sonderlich reines Gewissen, diese Herren” (TN, S.107).

Innerer Monolog: “Kontrahage! Zeugen! Duell! […] Feig -?” (TN, S.31). “Aber welchen Anlaβ hatte sie, sich für ihn zu opfern? Zu opfern -? […] sie zu verwandeln? ” (TN, S.68f).

[9] Leiβ und Stadler: Literaturgeschichte, S.198f

[10] Scott unterscheidet kaum erlebte Rede von innerem Monolog (Scott: Fantasies, S.50f). Der Unterschied ist aber wichtig, weil erlebte Rede im Unterschied zu innerem Monolog keinen direkten Zugang zum Inneren des Protagonisten gibt.

[11] Leiβ und Stadler: Literaturgeschichte, S.199

[12] Perlmann: Traum, 1987b, S.52

[13] Beispiele der Elemente aus Tausendundeiner Nacht sind: Traum: Fridolin geht in eine Stadt um Kleider zu beschaffen (TN, S.78ff). vs. 241. Nacht in Tausendundeiner Nacht: Prinz Assad geht in eine Stadt um Lebensmittel zu beschaffen. Traum: Der Däne steht vor einer Felswand und überlegt sich, wie er sie bezwingen kann (TN S.79f). vs. 240. Nacht: Prinz Assad und Prinz Amgiad besteigen einen furchtbaren Berg. Traum: Fridolin wird gefesselt und in einen unterirdischen Kellerraum eingesperrt und gepeitscht (TN, S.82) vs. 242. Nacht: Prinz Assad wird in ein Loch/ einen Kellerraum eingesperrt, gefesselt und gepeitscht.

[14] Scheffel ist der Meinung, Schnitzler habe seine Kenntnis der Geschichte aus Hugo von Hofmannsthals Tagebuchsaufzeichnungen erreicht (Scheffel: Formen, S.194). In dieser Hinsicht werden die Themen der Geschichte als Nacht, Einsamkeit, Reise und Abenteuer identifiziert (Scheffel: Formen, S.180f). Ich finde, dass Hofmannsthals Interpretationen nur wenig mit dem Märchen und auch wenig mit den Themen der Traumnovelle und des Traums zu tun haben. Meiner Meinung nach muss Schnitzler das ursprüngliche Märchen und nicht nur Hofmannsthals freie Interpretationen gelesen haben.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Ethische und gesellschaftskritische Motive in Arthur Schnitzlers "Traumnovelle"
Hochschule
Aalborg Universitet  (Institut für Kultur und Globalen Studien)
Note
1
Autor
Jahr
2009
Seiten
18
Katalognummer
V206382
ISBN (eBook)
9783656335481
ISBN (Buch)
9783656335924
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ethische, motive, arthur, schnitzlers, traumnovelle
Arbeit zitieren
Claus Sölvsteen (Autor:in), 2009, Ethische und gesellschaftskritische Motive in Arthur Schnitzlers "Traumnovelle", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206382

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