Wahlkampfkommunikation und Agenda-Setting

Eine Analyse zum Bundestagswahlkampf 2009


Magisterarbeit, 2010

144 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Agenda-Setting: Themensetzung und Wirkung von Massenmedien
2.1 Was ist Agenda-Setting? Zur Entwicklung einer Medienwirkungshypothese
2.2 Zentrale Konstrukte des Agenda-Setting-Modells
2.3 Wirkungsmodelle der Agenda-Setting-Forschung 19
2.4 Weiterentwicklungen in der Agenda-Setting-Forschung
2.5 Zusammenfassung

3 Wahlkampfkommunikation und Agenda Setting: Strategien zur Themenvermittlung im Wahlkampf
3.1 Die Bundestagswahl 2009: Bedingungen und Trends des Wahlkampfs
3.1.1 Die Wahlprogramme der Parteien: Bedeutung und Inhalt
3.2 Politische Kommunikation als Legitimationsgrundlage
3.3 Strategien der Wahlkampfkommunikation
3.4 Studien zur Wahlkampfberichterstattung

4 Fragestellung und Hypothesen der Untersuchung

5 Zur empirischen Untersuchung
5.1 Anlage und Verfahren der Untersuchung
5.1.1 Methodologische Grundentscheidung
5.2 Stichprobenauswahl
5.2.1 Mediensample
5.2.2 Die Agenda der Parteien: Parteiensample und Wahlkampfthemen
5.2.3 Untersuchungszeitraum
5.3 Das Erhebungsinstrument und die Indikatoren zur Untersuchung
5.4 Berechnung der Ergebnisse

6 Empirische Ergebnisse
6.1 Zentrale Ergebnisse
6.1.1 Die Analyseeinheiten in den untersuchten Medien
6.1.2 Die Wahlkampfthemen
6.1.3 Die Sachpositionen der Parteien
6.2 Datenauswertung und Überprüfung der Hypothesen

7 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Anhang
Codebuch zur Analyse
Codierbögen (exemplarisch)

Eidesstattliche Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Einfaches Kommunikationsmodell

Abb. 2: Mediensample

Abb. 3: Untersuchungszeitraum

Abb. 4: Verlauf der Untersuchung

Abb. 5: Versuch Codebogen

Abb. 6: Versuch Codebogen

Abb. 7: Codebogen

Abb. 8: Auszug Codebogen V6 für TV-Nachrichtenbeitrag

Abb. 9: Die Anzahl einzelner Wahlkampfthemen mit Sachpositionen in den verschiedenen Medien

Abb. 10: Berichterstattung über Wahlkampfthemen im zeitlichen Verlauf

Abb. 11: Berichterstattung über einzelne Wahlkampfthemen

Abb. 12: Parteiennennungen zu Wahlkampfthemen

Abb. 13: Verteilung Parteiennennungen insgesamt

Abb. 14: Parteiennennungen zum Wahlkampfthema Außen- und Sicherheitspolitik>

Abb. 15: Parteiennennungen zum Wahlkampfthema Soziale Sicherung

Abb. 16: Parteiennennungen zum Wahlkampfthema Umweltpolitik

Abb. 17: Parteiennennungen zum Wahlkampfthema Arbeitsmarktpolitik

Abb. 18: Parteiennennungen zum Wahlkampfthema Wirtschafts- und Finanzpolitik

Abb. 19: Berichterstattung über Sachpositionen der Parteien im zeitlichen Verlauf

Abb. 20: Die vier wichtigsten Wahlkampfthemen im zeitlichen Verlauf

Abb. 21: Sachpositionen zum Wahlkampfthema „Wirtschafts- und Finanzpolitik“ von CDU/CSU, SPD und FDP im zeitlichen Verlauf

Abb. 22: Die häufigsten Wahlkampfthemen im August

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Insgesamt untersuchte Analyseeinheiten

Tabelle 2: Platzierung von Wahlkampfthemen in der Berichterstattung

Tabelle 3: Sachpositionen der Partei DIE LINKE bei Wahlkampfthemen

Tabelle 4: Sachpositionen der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Wahlkampfthemen

1 Einleitung

„Mehr als jede andere Form politischer Herrschaft ist Demokratie auf Kommunikation angewiesen“, denn „Legitimität und Lebensfähigkeit der Demokratie“ basieren auf Öffentlichkeit (Voltmer 1998/99, S. 13). Politik und Kommunikation sind daher eng miteinander verbunden (Vgl. Jarren/Dongens 2006, S. 21). Zum konstitutiven Merkmal repräsentativer Demokratien gehören allgemeine, gleiche und freie Wahlen. Das Grundgesetz legt fest:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt.“ (GG, Art. 20, Absatz 2)

Wahlen und das Wahlrecht sind für die Bürger in demokratisch verfassten Staaten das wichtigste Mittel zur politischen Partizipation. Wahlen als Kernbestand der demokratischen Ordnung sind das zentrale Legitimierungsinstrument im politischen System. Die Kommunikation zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist deshalb die zwingende Voraussetzung für die auf dem Repräsentationsprinzip basierende unmittelbare Entscheidungsfindung (Vgl. Voltmer 1998/99, S. 13). In Wahlen soll gewährleistet werden, dass „die politische Willensbildung an die Interessen und Prioritäten der Bürger rückgebunden bleibt“ (Schmitt-Beck 2000, S. 17). Für diese Rückkopplung benötigen die Wähler Information über die Politik: über politische Problemlagen, Parteien, Sachpositionen und Entscheidungen, aber auch über Leistungen und Fehlleistungen. Dieser essentielle Kommunikationsprozess „findet nahezu ausschließlich in den Massenmedien statt“ (Voltmer 1998/99, S. 13). Massenmedien ermöglichen daher die Teilhabe der Bürger am demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess. Aufgrund ihrer Kapazität zur Informationssammlung und -verarbeitung und aufgrund ihrer Reichweite zur Verbreitung dieser Informationen, sind sie „Teil des Vermittlungssystems zwischen Bürgern und politischem System“ (Voltmer 1998/99, S. 13).

In normativen Demokratietheorien[1] wird wiederum erwartet, dass sich die mündigen Bürger „über das politische Geschehen auf dem Laufenden halten“ (Maurer 2007, S. 174). Insbesondere im Wahlkampf, dem politischen „Wettbewerb der Parteien und ihrer Kandidaten um das Vertrauen der Wähler“, sollen die Wähler über die Ziele und Maßnahmen der Parteien informiert sein, um die künftigen politischen Konstellationen zu bestimmen (Jacob 2007, S. 11). Das Wahlprogramm der Parteien ist dabei für die Wahlentscheidung der Wähler am wichtigsten – noch vor der Parteienbindung oder den persönlichen Präferenzen zu Kandidaten (Vgl. Maurer 2007, S. 174).[2] Das bedeutet, Wähler informieren sich über die Programmatik der Parteien vorranging in den vor den Wahlkämpfen veröffentlichten Wahlprogrammen? Nein! „Tatsächlich informiert sich […] nur eine Minderheit aus den Wahlprogrammen.“ (Maurer 2007, S. 175) Im Bundestagswahlkampf 2002 traf dies nur auf etwa ein Fünftel der Wähler zu – 88 Prozent haben ihre Informationen aus dem Fernsehen (2005 waren es 85 Prozent) und 68 Prozent aus den Tageszeitungen (2005: 43 Prozent) bezogen. Andere Informationsquellen, wie die Infostände der Parteien, Wahlkampfveranstaltungen und auch die Internetseiten der Parteien werden noch weniger genutzt (Vgl. Ebd.; Vgl. Maurer 2009, S. 151). Die Wähler, die sich informieren möchten, nutzen vor allem die Massenmedien und das offenbar, weil hier der Aufwand zur Informationsbeschaffung eher gering ist. Trotzdem geben die meisten Wähler an, dass sie ihre Wahlentscheidung aufgrund der Wahlprogramme getroffen haben – obwohl sie diese gar nicht gelesen haben. Die Wähler glauben die Wahlprogramme zu kennen, da sie aus den Massenmedien ausreichend Informationen über die Sachpositionen der Parteien erhalten haben. Eine Befragung der Wähler (2005) zeigte aber deutlich, dass die wenigsten mehr als drei einzelne programmatische Forderungen aller Parteien kannten; auch Untersuchungen aus früheren Wahlkämpfen kommen zu ähnlichen Ergebnissen (Vgl. Maurer 2007, S. 175; Vgl. Maurer 2009, S. 152). Dementsprechend wurden die Wähler nicht ausreichend über die Sachpositionen der Parteien informiert.

Es kann angenommen werden, dass die Massenmedien, über die sich die Wähler vorwiegend informieren, die Inhalte der Wahlprogramme nicht vollständig vermitteln. Natürlich darf an dieser Stelle nicht vernachlässigt werden, dass Rezipienten nicht alle Medienbotschaften aufnehmen und verarbeiten, andere sogar vergessen können. Trotzdem oder gerade deshalb ist eine umfassende Medienberichterstattung über die Sachpositionen der Parteien essentiell, da sonst die „Wahlentscheidung im Sinne normativer Demokratietheorien für den größten Teil der Wähler überhaupt nicht möglich“ ist (Maurer 2007, S. 176).

Was erfahren also die Wähler aus den Medien über die Sachpositionen der Parteien? Damit einher geht die Frage, wer über die zu vermittelnden Themen auf der Medienagenda bestimmt. Um diese Fragen zu beantworten, wird in dieser Arbeit die Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2009 empirisch untersucht. Überprüft wird auf Grundlage der Wahlprogramme der Parteien, welche Wahlkampfthemen und Sachpositionen der Parteien in den Medien berücksichtigt werden. Dazu wird die Medienagenda im Zeitraum von zwölf Wochen vor der Bundestagswahl am 27. September 2009 inhaltsanalytisch untersucht.

In diesem Zusammenhang muss zunächst überprüft werden, wie die Medienagenda entsteht und welche Wirkungen die mediale Berichterstattung auf die Wahlentscheidung der Wähler hat. Dazu wird im theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 2) das Agenda-Setting-Modell zur Untersuchung der „Verknüpfung von Medienprodukten, Medieninhalten und Publikumswirkungen“ diskutiert (Schenk 2007, S. 447). Agenda-Setting wird als der „transfer of salience from the mass media´s pictures of the world to those in our heads” bezeichnet (McCombs/Ghanerm 2001, S. 67 zitiert nach: Scheufele 2003, S. 60). Demnach bestimmen die Massenmedien, über welche Themen die Menschen nachdenken. Schlussendlich können die Wähler nur zwischen den Sachpositionen wählen, die in den Medien berücksichtigt werden. Diskutiert wird deshalb, welche Selektionskriterien für die massenmediale Nachrichtenauswahl grundlegend sind. Die Entstehung einer Agenda und die möglichen Einflusswirkungen auf diese Entstehung werden dann im Rahmen des Agenda-Building-Prozesses vorgestellt.

Auch die Parteien wissen, dass die Wähler ihre Informationen vorwiegend aus den Massenmedien beziehen. Politische Akteure wollen deshalb Einfluss auf die Entstehung der Medienagenda nehmen, um die eigenen Vorzüge, Themen und Kompetenzen öffentlichkeitswirksam darzustellen. Zur Platzierung ihrer Themen auf der Medienagenda setzen die Parteien Kommunikationsstrategien ein. Im zweiten Abschnitt des Theorieteils (Kapitel 3) stehen deshalb die politische Kommunikation und die Wahlkampfkommunikation von politischen Akteuren im Vordergrund. In Bezug auf den Bundestagswahlkampf 2009 werden hier zunächst die Bedingungen und Trends zum Wahlkampf besprochen. Die für die Untersuchung wichtigen Themenprofile der Parteien werden den jeweiligen Wahlprogrammen entnommen. Aus diesem Grund werden die Bedeutung und der Inhalt von Wahlprogrammen skizziert. Danach folgt die Eingrenzung und Definition des Begriffs politische Kommunikation. Abschließend werden die Strategien zum Themenmanagement der Parteien im Wahlkampf und ausgewählte Studien zum Einfluss der Parteien auf die Medienagenda vorgestellt.

In Kapitel 4 werden die Fragen und Hypothesen zur Untersuchung vorgestellt.

Im Kapitel 5 wird zunächst die Anlage und das Verfahren (Methodologische Grundentscheidung) der Untersuchung beschrieben. Für die Analyse wurde zur Bestimmung der Wahlkampfthemen und Parteien in der Berichterstattung ein Kategorienschema entwickelt. Dieses, die Indikatorenbildung und das Messinstrument, sowie die Auswahl der Stichprobe (Mediensample, Parteiensample, Wahlkampfthemen und der Untersuchungszeitraum) zur Datenerhebung werden anschließend detailliert betrachtet. Zusätzlich wurde für die Codierung ein Codebuch erstellt, in dem alle Codieranweisungen für die formalen und inhaltlichen Kategorien, aber auch für die Untersuchung relevanten Sachpositionen der Parteien aufgeführt sind (Anhang). Im Kapitel 6 werden anschließend alle zentralen Ergebnisse der Untersuchung dargestellt, um danach anhand der relevanten Daten die Fragen zur Untersuchung zu beantworten und die Hypothesen zu überprüfen.

Das Ziel dieser Untersuchung ist das Medienbild zum Bundestagswahlkampf 2009 darzustellen. Wie präsent sind die Parteien und deren Sachpositionen in der Wahlberichterstattung der Medien? Dabei wird auch der Frage nachgegangen, wer über die Wahlkampfthemenagenda in den Medien bestimmt. Wie groß sind die Einflussmöglichkeiten der Parteien auf die Medienagenda? Untersucht wird also der Agenda-Building-Prozess, dem Kommunikationsprozess der politischen Akteure, mit dem sie versuchen,

„die für sie günstigen oder als wichtig erachteten Themen in der öffentlichen Diskussion – vor allem in der Medienberichterstattung – zu platzieren“ (Brettschneider 1998, S. 635).

Das Medienbild des Wahlkampfs wird außerdem mit Wählerumfragen zu Wahlkampfthemen und Parteien verglichen. Die Frage lautet hier: Inwieweit stimmen Medienagenda, Publikumsagenda und die Agenda der Parteien hinsichtlich der Prioritäten von Wahlkampfthemen überein?

Die Untersuchung ist deskriptiv angelegt und im Hinblick auf die Datenauswertung in mehrfacher Hinsicht begrenzt. In der Schlussbetrachtung (Kapitel 7) werden deshalb nicht nur die wichtigsten Ergebnisse der Analyse ausgewertet. Auch die Methodik wird kritisch betrachtet und Verbesserungsvorschläge für die Untersuchung von Medieninhalten und für den Vergleich von Medienagenda und politischer Agenda vorgestellt.

2 Agenda-Setting: Themensetzung und Wirkung von Massenmedien

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ (Luhmann 2004, S. 9)

Hieran schließt sich die Frage nach dem Grundverhältnis von Wirklichkeit und medialer Wirklichkeit. Nach NIKLAS LUHMANN konstruieren die Massenmedien Realität und sind deshalb ein aktives Element im Definitionsprozess sozialer Wirklichkeit. Ausgeschlossen wird damit die Existenz einer objektiven, wahrnehmbaren Realität und deren getreuer Abbildung. Massenmedien schaffen daher Vorstellungen über Realität. Ähnlich hat dies bereits WALTER LIPPMANN in seinem Buch Public Opinion im Jahr 1922 formuliert: „The World Outside and the Pictures in Our Heads“ (Lippmann 1922, S. 1)

In seinen Darstellungen zur öffentlichen Meinung beschreibt der ehemalige Journalist die Besonderheiten der medialen Nachrichtenauswahl und die dadurch geprägten Vorstellungen der Menschen über die soziale Welt. Weiterentwickelt hat er dabei den Gedanken von GRAHAM WALLS, der bereits im Jahr 1914 die Zeitungen und Bücher für das Bild der Menschen von der Welt „außerhalb der eigenen Sinne“ verantwortlich macht (Walls 1914, S. 282, in: Rössler 1997, S. 23). Die Welt ist indes auch so komplex, dass sie „out of reach, out of sight, out of mind“ und damit außerhalb der menschlichen Wahrnehmung ist; „it has to be explored, reported and imagined“ (Lippmann 1922, S. 15). Um sich in dieser so weit entfernten Welt zu orientieren, benötigen die Menschen eine „imaginäre Landkarte“, denn es ist nicht möglich, alle relevanten Ereignisse selbst zu erleben (Rössler 1997, S. 23). Aus den Bildern von der Realität, die über die Presse – also aus zweiter Hand – vermittelt werden, bauen sich die Menschen ein vereinfachtes Modell von der Wirklichkeit (Vgl. Schenk 2007, S. 433). Die wesentlichen, aber unvollständigen Informationen über die Wirklichkeit erhalten die Menschen also aus den Medien und deren Berichterstattung über die Welt. Schon PAUL LAZARSFELD sieht deshalb die besondere Eigenschaft der Medien darin, „bestimmte Teile der sozialen Umwelt hervorzuheben und andere zu verbergen“ (Lazarsfeld 1948, S. 255 zitiert nach: Rössler 1997, S. 23). Die Konsequenz: Die Menschen können nur die Informationen verwenden, die sie auch wirklich erfahren.

Unser Bild über die Welt entsteht natürlich viel komplexer. Es ist mehr als die Summe der Bilder, die wir aus den Medien kennen. Erst das Zusammenspiel der verschiedensten Einflüsse, darunter persönliche Erfahrungen oder Gespräche mit anderen Menschen, gestalten die Bilder in unserem Kopf über die Welt da draußen.

Jedoch hat auch schon LIPPMANN erkannt, dass allein die Tatsache der Berichterstattung in Zeitungen den aktuellen Themen und Persönlichkeiten enorme Bedeutung verleiht (Vgl. Rössler 1997, S. 23). LIPPMANN verwendet zwar noch nicht den Begriff Agenda-Setting, dennoch kann sein Konzept von Medienwirkungen als Vorläufer angesehen werden. Aufbauend auf seinen Beschreibungen des Effekts – der allerdings noch auf der Einstellungsebene und nicht in der Strukturierung der sozialen Realität durch die Vermittlung von Vorstellungen über die Wichtigkeit einzelner Themen vermutet wurde (Vgl. Ebd.) – formulierten MAXWELL McCOMBS und GEORGE ESTRADA die Kapitelüberschrift von LIPPMANN um: „The News Media and the Pictures in Our Heads“ (McCombs/Estrada 1997, S. 237) Im engeren Sinn wird also mit Hilfe des Agenda-Setting-Ansatzes untersucht, welchen Beitrag die Massenmedien zu den Bildern in unseren Köpfen leisten.

Im folgenden Kapitel (2.1) wird das Modell des Agenda-Setting vorgestellt. Zunächst wird die Entwicklung und Etablierung des Begriffs und des Konzepts anhand der einschlägigen Studie von McCOMBS und DONALD L. SHAW diskutiert. Danach folgen die Definitionen der zentralen Konstrukte (Kap. 2.2) und die Beschreibung der Wirkungsmodelle dieses Ansatzes (Kap.2.3). Im Anschluss an die Ausführungen zum Grundmodell werden die Weiterentwicklung des Grundkonzepts und neue Ansätze skizziert (Kap. 2.4). Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der Prozess zur Entstehung der Medienagenda. Im Hinblick auf die Untersuchung der Wahlkampfberichterstattung in den Medien steht hier der Einfluss auf die Gestaltung der Medienagenda im Mittelpunkt.

2.1 Was ist Agenda-Setting? Zur Entwicklung einer Medienwirkungshypothese

Der Agenda-Setting-Ansatz wurde im Kontext der Wahlforschung entwickelt. Ausgehend davon, dass die Massenmedien oft die erste oder sogar einzige und damit wichtigste Informationsquelle über Themen und Sachverhalte sind, wird ein Medieneinfluss auf die Meinungsbildung über diese Themen und Sachverhalte unterstellt (Vgl. Schulz 2008, S. 233). Kennzeichnend für den Agenda-Setting-Ansatz ist daher die Annahme, dass Meinungsbildung und Meinungsbeeinflussung durch Informationsvermittlung als entscheidender Wirkungsfaktor bzw. als Voraussetzung, stattfindet (Vgl. Ebd.).

Die Wahlstudie von PAUL LAZARSFELD, BERNARD BERELSON und HAZEL GAUDET (Eire-County- oder „People´s Choice“-Studie) aus dem Jahr 1940 lieferte die ersten Erkenntnisse über Themensetzung und Wahlverhalten (Vgl. Schenk 2007, S. 350). Die Forscher gingen hier der Frage nach, wie die Medien Einfluss auf die Meinungsbildung der Wähler im Präsidentschaftswahlkampf (USA) nehmen. Die Studie wird bis heute als beispielhaft angesehen und brachte zumindest für zwei Jahrzehnte gesicherte Erkenntnisse über die Wirkung von Massenmedien (Vgl. Schulz 2008, S. 230). Dazu gehört die sogenannte Verstärkerthese (These minimaler Medieneffekte) und die These vom Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation (Vgl. Ebd.). Allerdings konnte mit den Befunden nicht nachgewiesen werden, dass politische Einstellungen durch die Massenmedien nur verstärkt und nicht verändert sondern werden. Und auch der zweistufige Kommunikationsfluss im Wahlkampf über politische Meinungsführer, die wiederum viele Medienkontakte haben, wurde durch Erkenntnisse späterer Studien und kritische Nachanalysen sogar widerlegt (Vgl. Ebd).

Die vermuteten Effekte hinsichtlich der Einstellungsveränderung der Rezipienten durch Massenmedien konnten also nicht belegt werden. Erst mit der Agenda-Setting-Forschung, die davon ausgeht, dass eine bevorzugte Behandlung von bestimmten Themen in den Medien dazu führt, dass auch die Rezipienten diese Themen als wichtig erachten (sogar wichtiger als andere), konnten neue Erkenntnisse zur Medienwirkungsforschung vorgelegt werden. Anstatt der Untersuchung von Einstellungsveränderungen, wird die Informationsleistung von Medien analysiert und in diesem Zusammenhang, ob die Vorstellungen des Publikums beeinflussbar sind.

In der Geschichte der Medienwirkungsforschung hat sich spätestens durch McCOMBS und SHAW der Agenda-Setting-Ansatz etabliert. In der sogenannten Chapel-Hill - Studie untersuchten die Wissenschaftler die Korrelation zwischen den politischen Themen in der Berichterstattung der Medien und den politischen Themen im Bewusstsein der Bevölkerung während des Präsidentschaftswahlkampfs 1968 in den USA. In dem 1972 veröffentlichten Aufsatz „ The Agenda-Setting Function of Mass Media “ wurde dann erstmals der Begriff Agenda-Setting bzw. die Agenda-Setting-Hypothese formuliert:

“While the mass media may have little influence on the direction or intensity of attitudes, it is hypothesized that the mass media set the agenda for each political campaign, influencing the salience of attitudes toward the political issues.” (McCombs/Shaw 1972, S. 177)

Im Vordergrund der Überlegungen steht also nicht mehr der Medieneinfluss auf das Verhalten oder die Einstellungen der Rezipienten, sondern welche Themen die Rezipienten als wichtig erachten. Die Überlegungen von McCOMBS und SHAW knüpfen dabei an die Ausführungen von BERNHARD C. COHEN an, der bereits 1963 darauf hinwies:

„[The press] may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about.” (Cohen, 1963, S. 13 zitiert nach: McCombs/Shaw 1972, S. 177)[3]

Mit dieser Vorstellung über Medienwirkungen entfernt sich Agenda-Setting von der traditionellen Persuasionsforschung[4] und fokussiert kognitive Medienwirkungen (Vgl. Rössler 1997, S. 17). Massenmedien nehmen demnach keinen Einfluss darauf was die Rezipienten denken (what to think), sondern worüber sie nachdenken (what to think about).

Zur Überprüfung ihrer Hypothese befragten McCOMBS und SHAW 100 noch unentschlossene Wähler im Ort Chapel Hill (North Carolina), über was sie sich am meisten sorgen, welche Probleme sie als lösungsbedürftig erachten und auf welche Themen sich die Regierung in Zukunft konzentrieren sollte.[5] Außerdem wird zeitgleich neben der Befragung die Wahlkampfberichterstattung der lokal verfügbaren Medien mit einer Inhaltsanalyse untersucht. Die Kombination beider Methoden (in einer Querschnittstudie) ermöglichte dann einen Vergleich der wichtigsten Themen aus beiden Erhebungen. Die Rangordnung von Themen wurde nach dem Umfang bzw. der Häufigkeit der Nennung dieser Themen konstruiert und mittels einer Rangkorrelation überprüft. „Diese Untersuchungsanlage ist seither der Standard von Agenda-Setting-Studien (wenn auch mit einigen Variationen).“ (Eichhorn 1996, S. 12) Als Ergebnis stellten die Forscher eine hohe Korrelation zwischen den Themen-Listen der Befragten und der Rangordnung von Themen in den Medien fest. Beispielsweise war die “Außenpolitik“ das wichtigste Thema für die Wähler; gleichzeitig wurde dieses Thema am häufigsten in den Medien beachtet (Vgl. Dearing/Rogers 1996, S. 7). Die Forscher schlossen deshalb auf einen engen Zusammenhang zwischen der Themenstruktur in den Medien (Medienagenda) und den thematischen Prioritäten der Wähler (Publikumsagenda) (Vgl. Schenk 2007, S. 434). McCOMBS und SHAW formulierten anschließend, dass die Massenmedien die (Themen) Agenda für die Bevölkerung setzen:

„In short, the political world is reproduced imperfectly by individual news media. Yet the evidence in this study that voters tend to share the media´s composite of what is important strongly suggests an agenda-setting function of the mass media.” (McCombs/Shaw 1972, S. 184)

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse erklären McCOMBS und SHAW, dass die Massenmedien die Vorstellung über die Relevanz von politischen Sachverhalten und Themen bestimmen – und somit auch mittelbar die politischen Einstellungen der Wähler. Sie nennen den Effekt die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien. Die Massenmedien setzen also die Agenda für die politische Kampagne und beeinflussen damit die Einstellungen der Wähler über die Wichtigkeit von politischen Themen. Dementsprechend ist Agenda-Setting als Einfluss der Massenmedien auf die Rangordnung von Themen zu verstehen.

Allerdings wurde die methodischen Anlage der Studie erheblich kritisiert: Die zu geringe Stichprobe, der Vergleich von Umfrage- und Inhaltsanalysedaten auf aggregiertem Niveau, der Zeitpunkt der Befragung und auch das Querschnitts-Design der Studie lassen keine „Verallgemeinerungsfähigkeit der Hypothese“ zu (Eichhorn 1996, S. 12f.). Bemängelt wird auch der Untersuchungszeitraum, da das Interesse an politischen Informationen von unentschlossenen Wählern innerhalb der Wahlkampfphase besonders hoch sein dürfte, was wiederum die Aussagen bei der Befragung beeinflusst. Außerdem wurde kritisiert, dass der Zusammenhang zwischen den persönlichen Angaben der Wähler und deren individueller Mediennutzung unberücksichtigt blieb. Selbst McCOMBS und SHAW zweifelten die Prüfung der Kausalvermutung an, da die Messung lediglich zu einem Zeitpunkt durchgeführt wurde (Vgl. Schenk 2007, S. 454). In ihrem Forschungsbericht weisen sie darauf hin:

“Future studies of communication behavior and political agenda-setting must consider both psychological and sociological variables; knowledge of both is crucial to establishment of sound theoretical constructs. Considered at both levels as a communication concept, agenda setting seems useful for study of the process of political consensus.” (McCombs/Shaw 1972, S. 187)

Agenda-Setting wird von den beiden Forschern also als individuelles, psychologisches und auch soziologisches Konzept mit politischem Hintergrund verstanden, obwohl es eigentlich als Modell zur Erforschung massenmedialer Einflüsse entworfen wurde (Vgl. Eichhorn 1996, S. 14). Die aufgezählten Variablen sind aber für die Etablierung des theoretischen Konstrukts grundlegend, um den Prozess des politischen Konsenses in der Gesellschaft zu analysieren.

Trotz der enormen Kritik löste die Studie eine umfangreiche Forschung in diesem Bereich aus. Im Vordergrund vieler Nachfolgestudien stand zunächst, ob Agenda-Setting überhaupt existiert, da sich der Effekt nicht immer und überall nachweisen lässt (Vgl. Brosius 1994, S. 271). Viele Wissenschaftler beklagen auch, dass Agenda-Setting zwar mit mehreren hundert Studien eine breite empirische Basis aufweist, es jedoch an einer expliziten Agenda-Setting-Theorie mangelt (Vgl. Brosius 1994, S. 270; Vgl. Eichhorn 1996, S. 14; Vgl. Rössler 1997, S. 59). Die dargestellten Überlegungen und Erkenntnisse bilden bis heute den Kern der Agenda-Setting Forschung, denn die Konzentration auf politische Themen und Ereignisse war und ist typisch für das Konzept (Vgl. Schenk 2007, S. 437). Allerdings fehlt auch bis heute der solide theoretische Erklärungsrahmen, deshalb schlägt PATRICK RÖSSLER vor, Agenda-Setting als „Hypothese mit empirischen Anspruch“ zu bezeichnen (Rössler 1997, S. 60).[6]

2.2 Zentrale Konstrukte des Agenda-Setting-Modells

Agenda-Setting bedeutet ins Deutsche übersetzt Themensetzung oder Thematisierung. Im Mittelpunkt stehen daher die Themen, die durch eine bevorzugte Behandlung in den Medien von den Rezipienten als wichtig erachtet werden. Agenda-Setting unterstellt damit, dass Rezipienten die Wichtigkeit von Themen in der öffentlichen Diskussion aus den Medien entnehmen und diese Themenprioritäten übernehmen.

JAMES W. DEARING und EVERETT ROGERS bezeichnen Agenda-Setting als Prozess, der geprägt ist durch eine ständige Konkurrenz („ongoing competition“) zwischen verschiedenen Themen um Aufmerksamkeit („among issue proponents to gain the attention“) in den Medien, aber auch um die im Mediensystem agierenden Personen: dem Publikum und der Politik (Dearing/Rogers 1996, S. 6; Vgl. Rauchenzauner 2008, S. 76). Die drei wesentlichen Komponenten des Prozesses sind daher die „media agenda“ (Medienagenda), die „public agenda“ (Publikumsagenda) und die „policy agenda“ (politische Agenda), zwischen denen außerdem Interdependenzbeziehungen („interrelationsships“) bestehen (Dearing/Rogers 1996, S. 5f.; Vgl. Rauchenzauner 2008, S. 78). Dies wird in der jeweiligen Forschungstradition ersichtlich: 1. Media-Agenda-Setting (Entstehung der Medienagenda bzw. der Einfluss der Öffentlichkeit (Publikum) oder des politischen Systems auf die Medienagenda), 2. Public-Agenda-Setting (Entstehung der Publikumsagenda bzw. der Einfluss der Medien oder des politischen Systems auf die Publikumsagenda) und 3. Policy-Agenda-Setting (Entstehung der politischen Agenda bzw. Einfluss der Öffentlichkeit oder der Medien auf die politische Agenda) (Vgl. Dearing/Rogers 1996, S. 5f.; Vgl. Rössler 1997, S. 31f.; Vgl. Schenk 2007, S. 440ff.; Vgl. Rauchenzauer 2008, S. 78).

Was aber ist eine Agenda?

“An agenda is a set of issues that are communicated in a hierarchy of importance at a point in time.” (Dearing/Rogers 1996, S. 2)

Eine Agenda beinhaltet demnach eine Rangordnung (auch Tagesordnung) von Themen. Diese Rangordnung wird nach der Wichtigkeit von einzelnen Themen konstruiert (Vgl. Kap. 3.1). Wie wichtig ein Thema ist, wird beispielsweise durch den Umfang, die Aufmachung oder nach der Häufigkeit der Nennung von Themen festgestellt (Vgl. Eichhorn 1996, S. 19). Die zentralen Konstrukte der Agenda-Setting-Forschung sind daher die Themen und die Wichtigkeit (Vgl. Ebd, S. 15).

“What is an issue? Without a clear definition, the concept of agenda-setting becomes so all-embraced as to be rendered practically meaningless.” (Lang/Lang 1981, S. 450 zitiert nach: Rössler 1997, S. 73)

Um Agenda-Setting-Effekte zu untersuchen, muss der Begriff des Themas explizit definiert werden. Allerdings liegen nicht nur im Rahmen der Agenda-Setting-Forschung unterschiedliche Definitionen vor, auch gibt es im Deutschen keine exakte Übersetzung für den Ausdruck issue, denn ein Thema erlaubt keine eindeutige Klassifikation von Kommunikationsinhalten, ist dehnbar und hinsichtlich der Bedeutungszuweisung offen (Vgl. Rössler 1997, S. 73). Daher muss nicht nur ein issue definiert, sondern auch vom Begriff des Themas abgegrenzt werden.

Mit einem issue wird ein Problembereich gerahmt; zusammengefasst werden Ereignissen und die mit dem jeweiligen Ereignis zusammenhängenden Vorgänge (Vgl. Eichhorn 1996, S. 15). Ereignisse sind räumlich und zeitlich beschränkt, über Themen wird kumulativ berichtet (Vgl. Schenk 2007, S. 477). DEARING und ROGERS definieren ein issue als „social problem, often conflictual, that has received media coverage“ (Dearing/Rogers 1996, S. 22). Issues beziehen sich demnach auf soziale Probleme in der öffentlichen Sphäre. Themen sind wiederum Teil eines issue (Vgl. Eichhorn 1996, S. 16). Deshalb muss ein Thema zunächst definiert und das soziale Problem bestimmt werden. Die Themendefinition ist jedoch von der jeweiligen Agenda abhängig, die betrachtet wird – auch deshalb konnte offenbar in der Agenda-Setting-Forschung keine einheitliche Definition gefunden werden. Es fehlt an einer „systematischen Fundierung der Operationalisierung von Issues.“ (Ebd, S. 17)[7]

In dieser Arbeit werden wie auch in der Agenda-Setting-Forschung vorwiegend politische Themen betrachtet. WOLFGANG EICHHORN schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass die weit verbreitete amerikanische Definition als adäquate Übersetzung für ein Thema verwendet werden sollte. Demnach beschreibt ein issue sowohl politische, als auch soziale Probleme. Gemeint sind damit „ aktuelle Themen und öffentliche Anliegen, die mit dem nationalen Interesse verknüpft sind“ (Eichhorn 1996, S. 15). Synonym kann daher der Begriff öffentliche Streitfrage für den Begriff des Themas verwendet werden. Dadurch wird auch die in der Definition von DEARING und ROGERS geforderte Konfliktträchtigkeit von Themen berücksichtigt (Vgl. Dearing/Rogers 1996, S. 22).

Aus politikwissenschaftlicher Sicht wird ein issue als „Konflikt zwischen zwei oder mehr erkennbaren Gruppen“ bezeichnet (Cobb/Elder 1972, S. 82 zitiert nach: Rössler 1997, S. 77). Der Konflikt bezieht sich auf „materielle oder Verfahrensangelegenheiten, die mit der Verteilung von Standpunkten oder Ressourcen zu tun haben“ (Machtverteilung) (Ebd.). Dieser Konflikt steht vor allem in Wahlkämpfen, in denen sich Parteien durch unterschiedliche Positionen von ihren Kontrahenten abgrenzen wollen im Vordergrund. Auch RÖSSLER bestätigt, dass in dieser Perspektive das Kennzeichen des Konflikts zutrifft.[8] Die Themendefinition bezieht sich daher auf die besonders strittigen, drängenden und lösungsbedürftigen Probleme zu einem bestimmten Zeitpunkt (Vgl. Rössler 1997, S. 77f.).

Welche Themen allerdings als problematisch eingestuft werden, ist nicht naturgegeben, sondern wird in verschiedenen politischen oder historischen Kontexten unterschiedlich bewertet (Vgl. Schulz 2008, S. 144). Problemhaftigkeit entsteht deshalb auch erst durch die soziale Wahrnehmung und Interpretation eines Sachverhalts. Nicht der Charakter eines Themas, sondern erst dessen Präsentation dieses Themas bestimmt, was als Thema oder Problem wahrgenommen wird (Vgl. Rössler 1997, S. 78). Insbesondere hier zeigt sich, warum das Fehlen einer einheitlichen Definition von Themen so stark kritisiert wird. Bei der Operationalisierung erstellt der Forscher die Kategorien für die entsprechende empirische Analyse und bestimmt daher, welche Sachverhalte oder Probleme als Themen[9] untersucht werden.

Neben der Schlüsselrolle des Themenbegriffs hat auch der Termini Wichtigkeit (Salience) eine zentrale Bedeutung für den Agenda-Setting-Ansatz.

„Die “Wichtigkeit“ eines Objekts ist allgemein als kognitives Element aufzufassen, als ein Aspekt der psychischen Beziehung, die eine Person zu einem Objekt aufbauen kann.“ (Eichhorn 1996, S. 91)

Damit erfasst der Begriff Wichtigkeit zumindest zwei Dimensionen: zum einen die eigentliche Verfügbarkeit kognitiver Elemente, zum anderen die subjektive Bedeutsamkeit als rationale Komponente (Vgl. Schenk 2007, S. 462). Demnach muss zwischen der eigentlichen Auffälligkeit (Salienz) eines Attributs und der affektiven Einschätzung (Importanz) dieses Attributs unterschieden werden. Die deutsche Übersetzung von Salience mit Wichtigkeit entspricht daher lediglich der Importanz, nicht der Salienz. Hier liegt allerdings kein Übersetzungsfehler vor, sondern es mangelt, wie bei der Themendefinition, an einer entsprechenden Differenzierung zwischen Salience und Importance in der amerikanischen Literatur; synonym wird daher in der Praxis trotzdem der Begriff Wichtigkeit verwendet (Vgl. Eichhorn 2005, S. 11).

Der Unterschied beider Konzepte wird erneut in der Operationalisierung deutlich: Innerhalb von Befragungen sind zum einen offene Fragen bezüglich der Salienz von Themen verbreitet. Der Rezipient wird hier gefragt, welche Themen er persönlich für wichtig erachtet. Als Antwort erhält der Forscher die Themen, die für den Rezipienten kognitiv verfügbar sind. Zum anderen werden die Rezipienten zur Importanz von vorgegebenen Themen befragt (geschlossenen Fragen). Hier erhält der Forscher die persönlich empfundene Einschätzung der Befragten zur Wichtigkeit dieser Themen (z.B. “nicht wichtig“ bis “sehr wichtig“) (Vgl. Ebd.). Bei der Erhebung der Publikumsagenda muss deshalb entsprechend differenziert werden, was gemessen werden soll. Eingangs wurde die Grundannahme beschrieben, dass die Massenmedien nicht beeinflussen, was die Menschen denken, sondern worüber sie nachdenken (what to think about). Durch die Vorgabe von Themen zur Bestimmung der Wichtigkeit kann nicht wirklich analysiert werden, über was die Menschen nachdenken, sondern nur, wie sie die Wichtigkeit der vorliegenden Themen einschätzen.

In der Forschungspraxis hat sich in Bezug auf die Salience folgende Einteilung zur Erhebung der Publikumsagenda etabliert (nach McLeod/Becker/Byrnes 1974 in: Eichhorn 2005, S. 10; von Gross 2008, S. 284):

(1) Perceived Community Salience
(2) Interpersonal Salience
(3) Intrapersonal Salience
(4) Perceived Media Salience

Die Einteilung beschreibt ähnlich einer Hierarchie zunächst die Wahrnehmung der Wichtigkeit eines Themas in der Öffentlichkeit (1), das Kommunikationsverhalten über dieses Thema (2), also wie oft eine Person mit anderen über ein Thema spricht und die persönliche Wichtigkeit (3), also die individuelle Einstellung zur Bedeutung eines Themas. Die Perceived Media Salience (4) wurde erst später ergänzt und meint die „Wahrnehmung der Bedeutung, die ein Thema in den Medien einnimmt“ (Eichhorn 2005, S. 11 nach: Atwater/Salwen/Anderson 1985).

Zwischen diesen Salience -Typen besteht wiederum eine wechselseitige Beziehung. Die Interdependenzen können folgendermaßen beschrieben werden: Wenn eine Person die Wichtigkeit von einem Thema in der Öffentlichkeit wahrnimmt, kann es sein, dass die Person mit anderen über dieses Thema spricht. Durch diese interpersonale Kommunikation erfährt wiederum der Einzelne, welche Themen Andere für wichtig halten und umgekehrt. Durch besonders häufige themenbezogene Kommunikation kann der Einzelne auch Anderen nahe legen, dass es sich um ein besonders wichtiges Thema handelt. Zudem kann die persönliche Themengewichtung durch eine dementsprechende Berichterstattung in den Medien verstärkt werden. Beobachtet der Rezipient eine verstärkte Berichterstattung zu diesem Thema, schließt er darauf, wie wichtig das Thema wiederum für die Menschen ist, die für den Inhalt der Berichterstattung verantwortlich sind. Außerdem kann es zu einer „Annäherung zwischen der persönlichen Themenwichtigkeit und der wahrgenommenen Wichtigkeit bei der Mehrheit bzw. Allgemeinheit kommen“ (Schenk 2007, S. 462). Möglich wäre dann eine Übernahme der Mehrheitseinschätzung oder die Projektion der eigenen Themenrelevanz auf die Allgemeinheit. Diese verschiedenen Interdependenzen sind bei der Operationalisierung zu beachten. Um die Gesamtheit der Publikumsagenda zu erfassen, wäre daher eine differenzierte Messung, also mehrere Operationalisierungen innerhalb einer Studie ideal (Vgl. Ebd.).

Für die Erhebung der Wichtigkeit auf der Medienagenda wird meist die bereits beschriebene Häufigkeit der Nennung von Themen durch eine inhaltsanalytische Messung vorgenommen. Als Indikatoren bei der Messung der Wichtigkeit gelten der Umfang (bzw. Dauer) der Berichterstattung, die Präsentation, die Platzierung und Aufmachung eines Artikels (bzw. Beitrags) als formale Kriterien. Aber auch inhaltliche Kriterien können als Indikator für Wichtigkeit verwendet werden; beispielsweise das Auftreten von Nachrichtenfaktoren (Vgl. Kap. 2.4; Vgl. Eichhorn 2005, S. 12).

Auf der Grundlage der gewählten Themendefinition erfolgt dann die Analyse der Grundelemente des Agenda-Setting. Das sind zum einen die Informationen aus der Medien-Agenda, die relevanten Themen der Publikumsagenda und die Art der Beziehung zwischen diesen Konstrukten (der Agenda-Setting-Effekt) (Vgl. Rössler 1997, S. 79). Die für diese Analyse grundlegenden Wirkungsmodelle werden im folgenden Kapitel erläutert.

2.3 Wirkungsmodelle der Agenda-Setting-Forschung

Da sich der Aussagegehalt der Agenda-Setting-Hypothese aus dem Verhältnis zwischen Medien- und Publikumsagenda ableitet, zielt der Effekt auf die Beeinflussung der Publikumsagenda durch die Medienagenda. Das Kernstück einer (klassischen) empirischen Agenda-Setting-Studie ist daher die Gegenüberstellung bzw. der Vergleich dieser beiden Agenden, um Zusammenhänge oder Unabhängigkeiten herauszustellen (Vgl. Ebd., S. 93). Zur Beschreibung der Strukturen des Einflusses bzw. der Abhängigkeit der Nutzung von Massenmedien, sind adäquate Wirkungsmodelle grundlegend. Die Frage ist also, wie kann dieser Einfluss oder die Wirkung von Massenmedien gemessen werden? Bei der Beschreibung von denkbaren Wirkungsmodellen wird bis heute die von McCOMBS entwickelte Typologie mit drei Modellannahmen aufgegriffen (Vgl. Ebd.). EICHHORN bezeichnet diese Klassifikation allerdings nur als „einflussreichen Versuch“, da aus Sicht psychologischer Prozesse die Erklärung fehlt, wie diese möglichen Wirkungen zustande kommen (Eichhorn 2005, S. 14).

In Bezug auf den Wirkungsprozess werden drei (Effekt-) Ebenen unterschieden, die als Rangfolge von Medienwirkungen angelegt sind (Vgl. Rössler 1997, S. 93f., Vgl. Eichhorn 2005, S. 14f., Vgl. Schenk 2007, S. 447f. und Vgl. von Gross 2008, S. 284):

(1) Das Awareness -Modell (Aufmerksamkeitsmodell)
(2) Das Salience -Modell (Hervorhebungsmodell)
(3) Das Priorities -Modell (Themenselektionsmodell)

Mit dem Awareness -Modell (1) als einfachste Wirkungsvermutung wird unterstellt, dass die Rezipienten auf ein Thema oder bestimmte Themen aufmerksam gemacht werden, weil diese von den Medien behandelt wird. Hier wird die reine Themenbereitstellungsfunktion der Medien untersucht; die Gewichtung oder Prioritäten von Themen werden vernachlässigt. Der Aussagegehalt dieses Modells wird daher auch als „Binsenweisheit“ beschrieben, da einerseits plausibel ist, dass die Medien als Informationsquelle die Rezipienten auf bestimmte Themen aufmerksam machen können, zum anderen, weil lediglich die bereits formulierte Grundannahme des Agenda-Setting-Konzepts reflektiert wird (Rössler 1997, S. 94; Vgl. Schenk 2005, S. 448). Untersucht werden muss daher, unter welchen Bedingungen die Aufmerksamkeit von Rezipienten auf ein Thema gelenkt werden kann. Dazu gehört die Eigenschaft eines Themas oder die Art und Weise der Präsentation, aber auch, nach welchen Kriterien die Rezipienten im breiten Informationsangebot auf Themen aufmerksam werden (Vgl. Eichhorn 2005, S. 15). In diesem Zusammenhang wird angenommen, dass die Häufigkeit der Präsentation eines Themas die Aufmerksamkeit der Rezipienten steigert. Allerdings interessieren sich nicht alle Rezipienten für die gleichen Themen, noch reagieren sie auf die gleichen Stimuli (Vgl. Kap. 2.1). Auf dieser einfachen Wirkungsebene müssen deshalb „intervenierenden Variablen“ eingeführt werden (Eichhorn 2005, S. 15).

Beim Salience -Modell (2) wird angenommen, dass die unterschiedliche Hervorhebung von Themen in den Medien auch eine unterschiedliche Beachtung und Gewichtung dieser Themen beim Publikum zur Folge hat. Verstärkt beachtete Themen werden daher als wichtig, eher wenig beachtete Themen als unwichtig empfunden. Bei diesem Modell wird der „Grad der Zuschreibung von Wichtigkeit als inhaltlicher Aspekt in die Annahmen integriert“ (Rössler 1997, S. 94). Verglichen wird deshalb die Gewichtung eines Themas in der Medienberichterstattung mit der Relevanz, die dieses Thema für das Publikum hat (Thematisierungsfunktion der Massenmedien) (Vgl. Schenk 2007, S. 448). Nicht berücksichtigt wird wiederum das Verhältnis der Themen untereinander.

Erst im Priorities -Modell (3), dem die Annahme zugrunde liegt, dass sich die Themenrangfolge in der Medienagenda exakt auf die Themenrangfolge der Publikumsagenda überträgt, wird die Relation der Themen zueinander in Betracht gezogen. Die Publikumsagenda übernimmt demzufolge die Rangfolge oder Prioritäten von Themen aus der Medienagenda. Erst diese Hypothese über die Beziehung zwischen den einzelnen Themen wird als adäquate Umsetzung der ursprünglichen Agenda-Setting-Fragestellung betrachtet (Themenstrukturierungsfunktion der Massenmedien). Die Thematisierungs- und Themenstrukturierungsfunktion sind der Kern des Agenda-Setting-Modells: In empirischen Studien stehen deshalb auch das Salience - und das Priorities -Modell im Vordergrund.

2.4 Weiterentwicklungen in der Agenda-Setting-Forschung

Wie bereits vorgestellt, werden in der Forschung drei verschiedene Typen von Agenden unterschieden. Das ist erstens die Publikumsagenda mit den Themen, die in der öffentlichen Sphäre von Bedeutung sind. Zweitens die Medienagenda mit den Themen, die durch die Selektions-, Produktions- und Präsentationsmechanismen der Massenmedien in den Vordergrund gerückt werden. Und drittens die politische Agenda, die alle Themen umfasst, die von politischen Entscheidungsträgern bestimmt werden; beispielsweise welche Ziele verwirklicht, welche Probleme gelöst oder welchen Interessen entsprochen werden sollte (Vgl. Eichhorn 2005, S. 100).

Die einzelnen Agenda-Setting-Prozesse stehen in einem komplexen Wechselwirkunsverhältnis. Zudem nehmen weitere Elemente Einfluss auf die Prozesse, wie die persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen des Publikums, die politische Kommunikation zwischen Vertretern der politischen Elite, aber auch Einflüsse von Meinungsführermedien, gesellschaftliche Entwicklungen und die vorhandene Ereignislage (Vgl. Schenk 2007, S. 439f.).[10] Unter dem Dach der Agenda-Setting Forschung werden daher nicht mehr nur die Prozesse erforscht, durch welche die Massenmedien die Wichtigkeit von Themen an das Publikum kommunizieren, sondern auch die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen den Agenden. Neben Untersuchungen zum Einfluss der Massenmedien auf die Wahlentscheidung der Wähler nach Wahlkämpfen, werden auch „die der Wahlentscheidung vorgelagerten Ein- und Vorstellungen“ erforscht (Holtz-Bacha 2002, S. 26). In dieser erweiterten Perspektive steht die Produktion dessen, was der Wählerschaft im Wahlkampf als Politik präsentiert wird, im Vordergrund. Studien zum Agenda-Building überprüfen daher, wie eine Agenda entsteht. Die Frage lautet dann, inwieweit die Politik die politische Themenagenda der Medien beeinflussen kann (Vgl. Ebd.).

Die einfache Grundannahme von McCOMBS und SHAW wurde durch die Agenda-Setting-Forschung längst weiterentwickelt. Die Erweiterungen werden in vier Forschungsphasen skizziert:

In Anlehnung an die Chapel-Hill-Studie beschäftigten sich viele nachfolgende Studien zunächst mit der grundsätzlichen Überprüfung der Hypothese. Die Themenranglisten und deren Weitergabe im Wirkungsraum von Medien und Publikum standen daher in der ersten Forschungsphase im Vordergrund (Basic Agenda-Setting).

In der zweiten Forschungsphase wurden die Randbedingungen, die einen Agenda-Setting-Effekt begünstigen oder auch begrenzen, untersucht und spezifiziert (Contingent Conditions) (Vgl. Schenk 2007, S. 446). Solche Randbedingungen sind beispielsweise das Orientierungsbedürfnis und Mediennutzungsmotive von Rezipienten oder das Ausmaß der interpersonellen Kommunikation (Vgl. Eichhorn 2005, S. 25; Vgl. Schenk 2007, S. 446). Die Annahme einer starken und unbedingten Medienwirkung wurde hier relativiert, da nicht alle Personen in der gleichen Situation und im gleichen Maß durch die Medien beeinflusst werden.

Die dritte Forschungsphase ist durch die Einführung von intervenierenden Variablen gekennzeichnet. Im Vordergrund stehen nicht mehr nur die eigentlichen Themen, sondern die Eigenschaften und Attribute von Themen, Personen und Ereignissen, über die in den Medien berichtet wird. Das sind beispielsweise die Platzierung und Darstellung von Ereignissen oder deren Charakteristika (aufdringliche oder unaufdringliche Themen) (Vgl. Schenk 2007, S. 479). Auch das Vorwissen und Involvement von Rezipienten als kognitive Faktoren, der Zeitrahmen von Untersuchungen und die Umweltbedingungen zählen zu diesen intervenierenden Variablen.

In der vierten Phase konzentriert sich die Forschung vor allem auf die Entstehung der Medien-Agenda. Im Vordergrund stehen nicht nur die Effekte, sondern auch der Ursprung dieser Agenda und die Konstruktion von Medieninhalten: Wie entstehen Themen und welche formalen und inhaltlichen Charakteristika sind ausschlaggebend?

Die Nachrichtenproduktion unterliegt einerseits den „ Bedingungen der medialen Produktionseinheiten “, also den branchentypischen Arbeitsmethoden und Regeln (Liehr 2007, S. 27 zitiert nach: Schmitt-Beck 1990, S. 652ff.). Andererseits rekonstruieren Journalisten bestimmte Ereignisse, so dass daraus Themen entstehen, die zur Nachricht werden. Journalisten konstruieren demnach aktiv die Realität (Vgl. Schenk 2007, S. 443). Die „Macht der Medien“ liegt daher in der Konstruktion der Agenda und dabei, wie LAZARSFELD schon bemerkte, bestimmte Themen hervorzuheben, andere dagegen nicht (Schenk 2007, S. 443; Vgl. Kap.1). Entsprechend der Ereignislage stehen diese Themen untereinander im Wettbewerb (Vgl. Dearing/Rogers 1996, S. 6). Dies wird als Themenkonkurrenz im „Rahmen eines Nullsummenspiels“ bezeichnet, da die Berücksichtigung eines Themas, die Vernachlässigung eines anderen nach sich ziehen kann (Schenk 2007, S. 443). Bei der Nachrichtenauswahl spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Neben redaktionellen und organisatorischen Bedingungen haben auch die persönlichen Werte, Ziele und Vorstellungen der Journalisten Einfluss. Vor allem aber steuern die sogenannten Nachrichtenfaktoren das Selektionsverhalten hinsichtlich der Nachrichtenauswahl (Vgl. Liehr 2007, S. 28; Vgl. Schulz 2008, S. 89f.)

„Nachrichtenfaktoren sind journalistische Kriterien, mit denen zwischen berichterstattenswerten und nichtberichterstattenswerten Ereignissen unterschieden wird.“ (Jarren/Dongens 2006, S. 224 zitiert nach: Scherer 1998, S. 690)

Nachrichtenfaktoren bestimmen den Nachrichtenwert eines Ereignisses. Bestimmte Eigenschaften von Ereignissen können sich daher begünstigend auf die Berücksichtigung einer Nachricht auswirken (Vgl. Schulz 2008, S. 89). Dieser Einfluss wurde auch schon von LIPPMANN (1922) untersucht. Seine Überlegungen, dass Faktoren wie Überraschung, Konflikt oder Betroffenheit als Stereotype den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen, blieben aber lange Zeit unberücksichtigt (Vgl. Ebd.). Erst durch weitere empirische Untersuchungen wurde der Zusammenhang zwischen Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwert nachgewiesen und bestätigt. Vor allem die Faktoren Nähe (räumliche, politische und kulturelle Nähe und Relevanz), Negativismus (negative Ereignisse wie Krisen und Katastrophen) und Konflikte, sowie Elite-Personen (prominente, einflussreiche und politische Personen, die in ein Ereignis involviert sind; sie gelten als Identifikationsobjekte), Kontinuität (die fortlaufende Beachtung eines Ereignisses), Überraschung (unvorhergesehene und seltene Ereignisse) und Tragweite (Auswirkungen auf den Rezipienten, persönliche Betroffenheit) werden als einflussreich bezeichnet (Vgl. Delhaes 2002, S. 85; Vgl. Luhmann 2004, S. 58f.; Vgl. Schenk 2007, S. 444; Vgl. Schulz 2008, S. 91).

Daher wird angenommen, je mehr Nachrichtenfaktoren in einem Ereignis enthalten sind, desto eher wird es in der Nachrichtenauswahl berücksichtigt. Nachrichtenfaktoren werden in der Forschung[11] allerdings nicht mehr nur als objektive Eigenschaften von Ereignissen, sondern als „journalistische Hypothesen von Realität“ bezeichnet, denn durch Umfang, Platzierung und Präsentation kann der Nachrichtenwert operationalisiert werden (Schulz 1976, S. 29 zitiert nach: Raupp/Vogelgesang 2009, S. 47; Vgl. auch Schulz 2008, S. 92ff.). So gesehen ist ein Nachrichtenfaktor eine Variable, „die die Konstruktion von Realität durch die Massenmedien steuert“ (Eichhorn 2005, S. 134). Nachrichtenfaktoren können zudem nicht nur die Ursache, sondern auch die Folge von Selektionsentscheidungen sein. Hier steuern Eigenschaften von Ereignissen nicht die Selektion der Journalisten, sondern die Journalisten reichern die von ihnen ausgewählten Nachrichten mit den entsprechenden Nachrichtenfaktoren an (Vgl. Ebd.). Diese Annahme impliziert auch die Möglichkeit der Instrumentalisierung von Nachrichtenfaktoren (Vgl. Raupp/Vogelgesang 2009, S. 47). Dementsprechend können auch externe Akteure Einfluss auf die Entstehung der Medienagenda nehmen, indem sie Ereignisse mit Nachrichtenfaktoren verfeinern, so dass diese einen Nachrichtenwert bekommen.

Dazu gehören die sogenannten Ereignisinszenierungen. Bezogen auf den Ereignisbegriff, werden in der Kommunikationswissenschaft drei Ereignistypen unterschieden: Genuine Ereignisse, Pseudo-Ereignisse bzw. inszenierte Ereignisse und mediatisierte Ereignisse, welche je nach Grad der Inszenierung und der Anpassung an die Bedingungen des Mediensystems konstituiert sind (Vgl. Kepplinger 1992, S. 51ff.; Vgl. Strohmeier 2004, S. 115ff.; Vgl. Liehr 2007, S. 30f.).

Genuine Ereignisse sind von der medialen Berichterstattung unabhängige Ereignisse. Das bedeutet, solche Ereignisse können in ihrer Struktur und in ihrem Aufbau nicht von den Medien und deren Berichterstattung bestimmt werden. Auf der anderen Seite gibt es aber Ereignisse, die „eigens für den Zweck der Berichterstattung herbeigeführt“ werden (Liehr 2007, S. 31). Solche inszenierten oder Pseudo-Ereignisse sind also konkret für die Produktionsmechanismen der Massenmedien konstruiert, was wiederum bedeutet, dass solche Ereignisse ohne Massenmedien nicht existieren würden. Grundlegend ist daher, dass diese mediengerecht durchgeplant und aufwendig arrangiert sein müssen, um den gewünschten Effekt herbeizuführen (Vgl. Ebd.).

Ein mediatisiertes Ereignis ist eine Zwischenform beider genannten Extreme. Die Annahme lautet, dass solche Ereignisse ohne Präsenz von Massenmedien stattfinden, aber durch ihre Ereignishaftigkeit von vorn herein für eine mediengerechte Berichterstattung strukturiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass solche Ereignisse auf jeden Fall mediale Beachtung finden. Diese Ereignisse haben trotz ihres genuinen Charakters auch einen „spezifischen, mediengerechten Charakter“ (Liehr 2007, S. 31). Ein mediatisiertes Ereignis ist deshalb kein vollkommen inszeniertes Ereignis; es geschieht in der Öffentlichkeit, bekommt aber von den beteiligten Akteuren eine mediengerechte Struktur für die Berichterstattung in den Massenmedien (Vgl. dazu auch Dayan/Katz 2002, S. 413ff.).

Die Medien bestimmen die Themen also nicht allein; der Selektionsprozess ergibt sich durch die komplexen Wechselwirkungen. Um im Rahmen des Agenda-Building die Entstehung von Agenden zu untersuchen, müssen auch die im Vorfeld ablaufenden gesellschaftlichen und politischen Prozesse berücksichtigt werden (Vgl. Schenk 2007, S. 436).

Andere Agenda-Setting-Studien fokussieren weitere Relationen. Dazu zählt die Untersuchung des Themeneinflusses zwischen verschiedenen Medien (Intermedia-Agenda-Setting). Hier wird angenommen, dass Themen und Meinungen von Meinungsführermedien, von Medien mit ähnlicher (z.B. politischer) Ausrichtung übernommen werden (Vgl. Schenk 2007, S. 447). Auch das Second Level Agenda-Setting gilt als Erweiterung des Ansatzes, da auf einer zweiten Ebene die Wichtigkeit der Eigenschaften von Objekten, Themen und Personen untersucht wird (Vgl. Ebd., S. 517). Die Erweiterung des Ansatzes geht mit der Entdeckung des Image Agenda-Setting einher und wurde genau wie das ursprüngliche Agenda-Setting im Zusammenhang von Wahlkämpfen erforscht. Der Ausgangspunkt ist, dass die Medien eine Hauptrolle beim Setzen von Imagekomponenten bei Parteien und Kandidaten spielen:

„Die Image Agenda-Setting-Funktion der Medien hat wahrscheinlich nachhaltigeren Einfluss auf die frühe Wahrnehmung der Kampagne seitens der Wähler und letztlich ihre Wahlentscheidung als das Themen Agenda-Setting.“ (Weaver 1981, S. 200 zitiert nach: Schenk 2007, S. 517)

Das bedeutet, die Rezipienten greifen im Hinblick auf ihre Wahlentscheidung eher auf Attribute von Personen und Objekten zurück, als auf die vermittelten Sachpositionen (Themen) der Parteien. Diese Erweiterung des Agenda-Setting Ansatz zielt deshalb nicht mehr nur auf die Untersuchung “what to think about“, sondern „how to think about“ (Schenk 2007, S. 518). Die wahrgenommene Wichtigkeit von Themen auf erster Ebene geht daher in eine sekundäre Wirkung hinsichtlich der Beurteilung über.

Abschließend kann festgehalten werden, dass das Agenda-Setting-Modell durch die vielschichtigen Analysen und Erweiterungen hinsichtlich der Verknüpfung von Medienprodukten, Medieninhalten und Publikumswirkungen, als „komplexe Wirkungshypothese“ bezeichnet werden kann (Ebd., S. 447). Eine Festigung als eigenständige Agenda-Setting-Theorie ist aufgrund der zahlreichen Differenzen bei der Definition von zentralen Konstrukten, aber auch wegen der widersprüchlichen Ergebnisse aus empirischen Studien nicht absehbar. BROSIUS bemerkt dazu, dass sich Agenda-Setting als „Wirkungs form “ etablieren „und als solche in allgemeinere Medienwirkungstheorien eingebaut wird“ – eine andere Entwicklung ist auch bis heute auf Grundlage der verwendeten Literatur nicht zu erkennen (Brosius 1994, S. 285).

2.5 Zusammenfassung

Auch wenn der Agenda-Setting-Effekt in der Forschung unterschiedlich bewertet wird und eine theoretischen Fundierung fehlt, wird die Existenz von Agenda-Setting-Effekten nicht mehr bezweifelt, sondern durch neue, methodologisch verbesserte Studien und entsprechende Umfragedaten bestätigt (Vgl. Ebd., S. 270). Deshalb kann angenommen werden, dass die Massenmedien durch ihre Thematisierungs- und Themenstrukturierungsfunktion (Betonung von Themen, Häufigkeit, Platzierung, Aufmachung) zumindest beeinflussen können, über was die Medienrezipienten nachdenken, bzw. welche Themen als besonders wichtig erachtet werden.[12] Bezogen auf die Berichterstattung über politische Themen oder Akteure, liegt die Wirkung der Medienberichterstattung darin, „Politikpräferenzen bei Bürgern wie auch politischen Akuteren zu beeinflussen“ (Jarren/Dongens 2006, S. 367). Allerdings ist herauszustellen, dass durch das beschriebene komplexe Wechselwirkungsverhältnis zwischen Presse, Publikum und politische Akteuren, nicht allein die Journalisten die Tagesordnung der Berichterstattung gestalten. Den Einfluss von Nachrichtenfaktoren eines Ereignisses auf die Nachrichtenauswahl nutzen vor allem die politischen Akteure. „Aktives Themenmanagement“ hat in der politischen Kommunikation der Parteien einen enormen Stellenwert (Schenk 2007, S. 445). Vor allem im Wahlkampf wird daher versucht, die politische Themenagenda der Medien so zu beeinflussen, dass die Partei oder ihr Kandidat davon profitiert. Die für die Untersuchung wichtige Medienagenda unterliegt daher (unter anderem den Einflüssen von politischen Kommunikationsstrategien. Es stellt sich deshalb nicht nur die Frage, inwieweit die Medien über die im Wahlkampf wichtigen Sachpositionen der Parteien berichten, sondern wer die politischen Themen auf der Medienagenda setzt? Im folgenden Kapitel werden dazu die Möglichkeiten der Parteien im Rahmen der Wahlkampfkommunikation vorgestellt.

3 Wahlkampfkommunikation und Agenda Setting: Strategien zur Themenvermittlung im Wahlkampf

Der Wahlkampf der Parteien um Zustimmung in Form von Wählerstimmen ist primär ein „Kommunikationsgeschehen“, an dem die Akteure: Parteien (und ihre Kandidaten), Wähler und Massenmedien beteiligt sind (Dörner/Vogt 2002, S. 16). Neben Wahlwerbung (Spots, Broschüren oder Plakate) nutzen die Parteien im Wahlkampf vor allem die Kommunikationskanäle der Massenmedien als zentrale Vermittlungsinstanz (Vgl. Kamps 2007, S. 165). „Die massenmediale Vermittlung bildet definitiv das wichtigste Sprachrohr im Wahlkampf“ (Strohmeier 2002, S. 126). Allerdings geben die Parteien hier die Kontrolle über die politischen und programmatischen Botschaften weitgehend an die Massenmedien ab, da die Journalisten zwischen Politik und Wähler treten und durch ihre spezifischen Kriterien zur Nachrichtenauswahl über die Berichterstattung der Parteien bestimmen. Dementsprechend sind Trends und Standards des Journalismus für Wahlkampagnen und deren Ausrichtung bedeutend (Vgl. Kamps 2007, S. 165). Neben der eigentlichen „Parteien- und Mobilisierungskampagne“ werden deshalb auch eine „Kampagne in den Massenmedien“ und dementsprechende „Medienstrategien“ entwickelt (Bosch 2006, S. 34). In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass Inszenierung und Theatralisierung in den Vordergrund treten und die Sachlichkeit verloren geht. Als Beispiel wird an dieser Stelle immer wieder gern Gerhard Schröder zitiert, der meinte, dass „Bild, BamS und Glotze“ zum Regieren reichen.[13] Allerdings liegt es

„im Wesen des Wählens, dass das Werben für personelle und inhaltliche Alternativen die Generierung von Aufmerksamkeit voraussetzt“ (Sarcinelli/Geisler 2002, S. 153).

Da der überwiegende Teil der Bevölkerung Politik nur noch in den Massenmedien erlebt, muss als erstes Aufmerksamkeit generiert werden, um im zweiten Schritt diese Aufmerksamkeit für die Vermittlung der politischen Botschaften zu nutzen (Vgl. Brettschneider 2002a, S. 37). Bei dieser Informations- und Kommunikationspraxis sind die politischen Akteure auf die Massenmedien angewiesen (Vgl. Jarren/Dongens 2006, S. 28).

Die damit einhergehende Anpassung an medienbezogene Kommunikationsstrategien wird als „Mediatisierung der politischen Kommunikation“ bezeichnet (Ebd., S. 29). Dementsprechend wird im Verhältnis von Politik und Medien eine Unterordnung oder sogar „Kolonisierung der Politik durch die Medien“ vermutet (Meyer 2001). Welche Themen und Personen aber letztendlich in der Medienberichterstattung berücksichtigt werden, kommt einerseits darauf an, welchen Einfluss die politischen Akteure auf die Gestaltung der Medienagenda haben, andererseits hängt dies von den Journalisten ab. Unerlässlich sind für die Parteien daher die politischen Kommunikationsstrategien, mit denen sie die Nachrichtenproduktion der Massenmedien beeinflussen und für sich nutzen wollen. Kann die Beziehung von Politik und Medien aufgrund dessen nicht auch als Unterordnung der Medien verstanden werden, da die Politik diese zu ihren Zwecken instrumentalisiert?

Wechselwirkungen von Politik und Medien hinsichtlich der Politikvermittlung sind am deutlichsten bei Wahlkämpfen zu beobachten, denn hier bemühen sich die Parteien intensiv um den Wähler und um eine entsprechende Themenvermittlung in den Medien. Die folgenden Darstellungen zur Vermittlung von politischen Informationen beziehen sich daher immer auf die besondere Situation von Wahlkämpfen.

Zunächst werden Bedingungen und Trends zum Wahlkampf zur Bundestagswahl 2009 vorgestellt. Für die Analyse der Wahlberichterstattung in den Medien werden die Wahlprogramme der Parteien untersucht, um die Ziele der einzelnen Parteien aufzuzeigen. Deshalb wird im Anschluss auf die Bedeutung und den Inhalt von Wahlprogrammen eingegangen. Um die Strategien zu beschreiben, welche die Parteien im Wahlkampf zur Vermittlung ihrer Wahlkampfthemen nutzen, wird zunächst überprüft was unter politischer Kommunikation zu verstehen ist und wie politische Botschaften transportiert werden. Aufbauend auf den beschriebenen Mechanismen zur Nachrichtenauswahl in den Medien und deren möglicher Beeinflussung durch die Kommunikationsstrategien der Parteien, wird die Wahlkampfkommunikation von untersucht und verschiedene Strategien aufgezeigt. Im Mittelpunkt stehen die im vorherigen Kapitel beschriebenen Prozesse zum Agenda-Building und Agenda-Setting als Form der „mittelbaren Wahlkampfkommunikation“ (Strohmeier 2002, S. 123).

3.1 Die Bundestagswahl 2009: Bedingungen und Trends des Wahlkampfs

„Ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf?“ (Schoen 2007, S. 34)

Sicherlich nicht! So wie der Bundestagswahlkampf 2005 im Rückblick als „Schlammschlacht“ bezeichnet wird, bei dem sich Politiker und Journalisten gegenseitig der Lüge bezichtigen, wird der wiederum nicht zum Spektakel ausgeartete Bundestagswahlkampf 2009 als „langweilig“, weil „konfliktscheu und leidenschaftslos“, bewertet (Schoen 2007, S. 34; Köcher 2009, S. 1). Wahlkämpfe unterliegen sich stetig wandelnden Rahmenbedingungen; es gibt daher nicht eine Kommunikationsstrategie, sondern die Kommunikationsmittel und Botschaften müssen jeweils neu an die verschiedensten Situationen angepasst werden – auch, weil nicht klar ist, welche „konkreten Maßnahmen wahlentscheidende Effekte“ erzielen (Jackob 2007, S. 12).

Die Ausgangslage vor der Bundestagswahl 2009 im sogenannten „Superwahljahr“ ist durch eine Reihe von Besonderheiten charakterisiert (Woyke 2009, S. 2). Thematisch stehen vor allem die tief greifende Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Folgewirkungen im Vordergrund (Vgl. Schultze 2009, S. 87). Alle Parteien konzentrieren sich deshalb darauf, geeignete Maßnahmen gegen die Auswirkungen dieser ökonomischen Krise vorzuschlagen. „Im Bundestagswahlkampf überboten sich die Parteien mit Wahlversprechen zu Steuersenkungen oder zur Umverteilung.“ (Zimmermann 2009, S. 8). Neue Regeln für die Finanzmärkte als Weg aus der Krise und Maßnahmen, zur Sicherung von Arbeitsplätzen lassen sich in allen Wahlprogrammen der Parteien finden. Die Wirtschaftspolitik ist allerdings nicht erst durch die internationale Finanzkrise ein wichtiges Thema für die Wähler, schon 2002 und 2005 dominiert das Thema in Umfragen als wahlentscheidendes Thema (Vgl. Infratest Dimap Wahlreport 2002 und 2005 in: Schultze 2009, S. 87). Die Wähler der CDU/CSU, aber auch die der FDP bewerten dieses Politikfeld im Hinblick auf ihre Wahlentscheidung als besonders wichtig (Vgl. Ebd.). Als wahlentscheidendes Thema bei der SPD und der Partei DIE LINKE wird das Ressort Soziale Gerechtigkeit angegeben; bei den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist es die Umweltpolitik (Vgl. Ebd.). Ausgehend von diesen Umfragewerten in den Jahren 2002 und 2005, dürfte sich im Wahlkampf 2009 die Partei durchsetzen, der die größte Kompetenz zur Lösung von wirtschaftspolitischen Problemen zugeschrieben wird – traditionell ist das die Union aus CDU und CSU (Vgl. Roth/Jung 2002, S. 10).

Die Übertragung von Handlungsvollmacht in Wahlen, in denen entweder die Regierung bestätigt oder abgewählt wird, setzt eine klare Unterscheidung von Regierung und Opposition und eine notwendige Lagerbildung voraus (Vgl. Schultze 2009, S. 88). Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2009 unterlag deshalb auch den besonderen Bedingungen zur Wettbewerbskonstellation durch die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Bis dahin in Regierungsverantwortung verbunden, fiel es beiden Parteien schwer, sich von der gemeinsam gestalteten Politik zu distanzieren und offensiv einen Regierungswechsel anzustreben. Hinzu kommt, dass in der Bevölkerung keine echte Wechselstimmung ausgeprägt war – ca. 57 Prozent der Wähler gaben in einer Befragung an, dass sie mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden sind (Vgl. Infratest Dimap ARD Deutschlandtrend August 2009). Vor allem die zusammen erarbeiteten Investitions- und Konjunkturpakete gegen den Wirtschaftsabschwung und zur Sicherung von Arbeitsplätzen (vor allem in der Autoindustrie; Abwrackprämie) wurden positiv bewertet. Allerdings erforderte diese Zusammenarbeit auch, dass die beiden Parteien weiter kooperieren mussten, um diese Entscheidungen gemeinsam nach außen zu tragen, „statt sich Wahlkampfgefechte liefern zu können“ (Glaab/Weigl 2009, S. 6). Obwohl die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD schon im Herbst 2008 feststanden, ließ der polarisierende Lagerwahlkampf der beiden großen Volksparteien[14] auf sich warten (Vgl. Ebd.). „Der allgemeine Stoßseufzer lautete: Was für ein langweiliger Wahlkampf!“ (Bruns 2009, S. 3) Die kleineren Parteien profitieren allerdings von der eher schlechten Ausganglage der beiden Regierungsparteien. Schon in Wählerumfragen (Sonntagsfrage) im Juni 2009 wurde deutlich, dass die FDP (mit 14 Prozent), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (mit 13 Prozent) und DIE LINKE (mit neun Prozent) deutlich mehr Stimmen als noch zur Bundestagswahl 2005 bekommen würden (Vgl. ARD Deutschlandtrend Juni 2009). Und dieser Trend setzte sich fort – im September wird der Union aus CSD und CSU 35 Prozent, der SPD 26 Prozent, der FDP 14 Prozent, den GRÜNEN 10 Prozent und den LINKEN 11 Prozent der Wählerstimmen prognostiziert (Vgl. ARD Deutschlandtrend September 2009).

3.1.1 Die Wahlprogramme der Parteien: Bedeutung und Inhalt

Das Parteiengesetz fordert die Parteien auf, ihre Ziele in politischen Programmen offenzulegen (Vgl. Parteiengesetz § 1 Abs. 3 und § 6 Abs. 1). Diese Forderung erfüllen die Parteien, indem sie ihre programmatische Ausrichtung, grundsätzliche Ziele und konkrete Maßnahmen für den Fall eines Wahlsieges in Wahlprogrammen zusammenfassen (Vgl. Maurer 2007, S. 174). Wahlprogramme müssen dabei von Grundsatzprogrammen und Aktionsprogrammen abgegrenzt werden, da einerseits differenzierte Inhalte, andererseits jeweils andere Ziele verfolgt werden (Vgl. Keil 2003, S. 95). Das Grundsatzprogramm ist die „ideologische Basis der Parteien“, das aufgrund des langen Entstehungsprozesses über mehrere Jahre hinweg Bestand hat und daher hinsichtlich der Zielsetzung relativ vage und allgemein formuliert ist (Hergt 1975, S. 7 zitiert nach: Keil 2003, S. 95). Aktionsprogramme beinhalten zwar ausführliche und differenzierte Aussagen zu den verschiedensten Politikfeldern, sind aber primär an Parteifunktionäre und nicht an Wähler gerichtet (Vgl. Ebd.). Erst Wahlprogramme verbinden die Ausrichtungen aus den Grundsatzprogrammen mit konkreten Zielen und Maßnahmen und sind vordringlich an die Wähler gerichtet. Da sie regelmäßig vor Wahlen (neu) formuliert werden (angepasst an die gesellschaftliche und politische Situation und Problemlagen), haben sie nur einen begrenzten Zeithorizont. „Wahlprogramme zeichnen sich durch einen hohen Grad an Handlungsorientierung aus und beinhalten vorwiegend Stellungnahmen zu konkreten Fragen der Gegenwart.“ (Keil 2003, S. 96) Als Bindeglied zwischen den Forderungen der Bürger und dem entsprechendem politischen Handeln sind sie deshalb ein fester, wie auch zentraler Bestandteil von Wahlkämpfen.

„Wahlprogramme haben einen eher hohen Stellenwert bei den Wählern. Die Wähler verlangen von den Parteien, dass sie an ihrem Programm festhalten und ihr parlamentarisches Handeln danach ausrichten.“ (Rölle 2002, S. 278)

Umfragen bestätigen, dass die Wahlprogramme der Parteien für die Wähler mit 55 Prozent vor dem Spitzenkandidaten (22 Prozent) oder der Parteibindung (18 Prozent) für die Wahlentscheidung wichtig sind (Vgl. ARD Tagesschau Wahlmonitor 2009/Infratest Dimap[15] ). Die Inhalte der Wahlprogramme bilden daher aus demokratietheoretischer Sicht eine Grundlage für die Wahlentscheidung. Sie dienen allerdings nicht nur als Informationsquelle für die Wähler, sondern sollen auch innerparteilich zum geschlossenen Auftreten in der Öffentlichkeit mobilisieren. Wahlprogramme sind daher auch die Grundlage „für Werbebotschaften im Wahlkampf“ (Maurer 2009, S. 156).

Die aktuellen Wahlprogramme enthalten die gegenwärtigen relevanten Parteiziele und sind primär an die Wähler, aber auch an die Medien gerichtet. Deshalb kann unterstellt werden, dass die Vermittlung von Sachthemen aus diesen Wahlprogrammen sowohl für die Parteien, als auch für die Medien bedeutend ist (Vgl. Maurer 2009, S. 156). Aus diesem Grund werden in dieser Arbeit für die Untersuchung der Wahlberichterstattung in den Medien die Sachpositionen der Parteien zu Wahlkampfthemen aus den Wahlprogrammen der einzelnen Parteien entnommen. In Anlehnung an Input-Output-Analysen, wird der Inhalt der Wahlprogramme (Sachpositionen) als Input mit der Medienberichterstattung über diese Sachpositionen (Output) verglichen (Vgl. Ebd. S. 157).

3.2 Politische Kommunikation als Legitimationsgrundlage

Politisches Handeln ist in der Demokratie zustimmungsbedürftig und demnach auch öffentlich begründungsbedürftig (Vgl. Sarcinelli 2009, S. 11). Es ist die Aufgabe der politischen Kommunikation, die Bürger zu informieren, aber auch zu überzeugen. Politische Ziele und Initiativen müssen genau wie politische Entscheidungen vermittelt, verdeutlicht und erläutert werden. Erst durch Wahlentscheidungen konstituieren sich Parlamente, in denen kollektiv verbindliche Entscheidungen von den gewählten Repräsentanten getroffen werden. Aus Sicht der Bürger ist es die Aufgabe der Politik, Probleme zu lösen, dementsprechend müssen die gewählten Repräsentanten diese Probleme erkennen und zur Lösung dieser politische Prozesse initiieren. Dementsprechend ist es für die Akzeptanz und die Legitimation von politischen Entscheidungen grundlegend, Probleme und Lösungen in öffentlichen Debatten zu äußern.

„Legitimität als eine demokratietheoretische Fundamentalkategorie politischer Kommunikation knüpft den Geltungsanspruch politischer Herrschaft an eine kommunikative Begründungsleistung.“ (Ebd, S. 85)

Politische Kommunikation entscheidet deshalb darüber, ob und wann welche politischen Probleme und Entscheidungen öffentlich artikuliert werden. An dieser Stelle verschmelzen Politik und Kommunikation (Vgl. Ebd., S. 19).

Um Strategien der Wahlkampfkommunikation zu untersuchen, muss zunächst der Begriff politische Kommunikation definiert werden. Der Untersuchungsgegenstand birgt zunächst das Problem, dass es keine „allgemein akzeptierte Definition“ gibt (Ebd.). Innerhalb der Politikwissenschaft, der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und der politischen Soziologie hat sich die politische Kommunikationsforschung als hoch produktiver interdisziplinärer Forschungszweig entwickelt (Vgl. Ebd., S. 12). Trotz der interdisziplinären Ausrichtung gibt es in der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin unterschiedliche Ausgangspunkte und Erklärungsansätze und damit verschiedene Akzente bei der Untersuchung und Definition von politischer Kommunikation (Vgl. Ebd., S. 19). DORIS GRABER hat hier eine verbindende Definition vorgeschlagen. Politische Kommunikation ist demnach die Beschäftigung

„mit der Produktion, Mitteilung und Verbreitung von Kommunikationsbotschaften, die das Potential haben, substantiell – direkt oder indirekt – Effekte auf den politischen Prozess auszuüben“ (Graber 2005, S. 479 zitiert nach: Sarcinelli 2009, S. 19).

Eine solche Wirkungsmacht wird vor allem medienvermittelter Kommunikation zugeschrieben. Sender sind einerseits publizistische Organisationen, andererseits auch politische Akteure, die über die Medien ein breites Publikum erreichen wollen (Vgl. Sarcinelli 2009, S. 19 zitier nach: Graber 2005, S. 479). Wie bereits beschrieben, werden durch Politik allgemein verbindliche Entscheidungen hervorgebracht; deren Kommunikation kann daher als „Vorgang der Bedeutungsvermittlung verstanden werden“ (Kamps 2007, S. 24). Als Arbeitsdefinition wird aus diesem Grund die von OTTFRIED JARREN und PATRICK DONGENS vorgelegte Definition aus politikwissenschaftlicher Sicht verwendet. Demnach ist politische Kommunikation

„der zentrale Mechanismus bei der Formulierung, Aggregation, Herstellung und Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen“ (Jarren/Dongens 2006, S. 22).

Diese Definition umfasst einerseits jede Kommunikation, die sich „entweder thematisch oder aufgrund der Beteiligung von Akteuren des politischen Systems der Politik zurechnen lässt“ (Bentele 1998, S. 130). Andererseits realisiert politische Kommunikation den Wettbewerb „um Begründungsansprüche und Gestaltungsspielraum“ (Kamps 2007, S. 24). Politische Kommunikation ist daher „nicht nur Mittel der Politik. Sie selbst ist Politik“ (Jarren/Dongens 2006, S. 22). Wenn über politische Kommunikation allgemein verbindliche Entscheidungen artikuliert und damit legitimiert werden („Legitimation durch Kommunikation“), stellt sich die Frage, wie politische Inhalte transportiert werden (Sarcinelli 2009, S. 115).

Die aktive politische Kommunikation von politischen Akteuren und politischen Institutionen wird systematisch in vier unterschiedlichen Typen eingeteilt: Politische Werbung, politische Öffentlichkeitsarbeit, politische Berichterstattung und direkte, interpersonale politische Kommunikation (Vgl. Bentele 1998, S. 131).

Direkte politische Kommunikation wird hier als „Basis für alle anderen Typen“ verstanden, die an den verschiedensten Orten der Gesellschaft realisiert wird: Beispielsweise auf Veranstaltungen der Parteien (Parteitage oder Wahlkampfveranstaltungen) auf denen sich Parteimitglieder untereinander, aber auch mit Wählern austauschen (Ebd., S. 133).

Politische Werbung wird vor allem in Wahlkämpfen eingesetzt und besteht „primär aus Einwegkommunikation“ (Ebd). Verwendet werden sprachliche Instrumente (Slogans) und mediale Instrumente (Plakate, Anzeigen, Spots im Fernsehen oder Radio usw.). Da innerhalb von politischer Werbung für Medienzeit oder Medienraum bezahlt wird, gleicht dieser Typ der „Produkt- oder Dienstleistungswerbung privater Unternehmen“; BENTELE verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „Polit-Marketing“ (Bentele 1998, S. 132). Auf der Grundlage einer Werbestrategie soll im Wahlkampf durch politische Werbung ein bestimmtes Ziel erreicht werden: Beispielsweise die stimmenmäßig stärkste Partei zu werden oder eine bestimmte Regierung zu verhindern (Vgl. Ebd.). Politische Werbung soll die Wähler, aber auch die eigenen Parteimitglieder von der jeweiligen Partei überzeugen und auch beeinflussen. Politische Werbung basiert deshalb „primär auf der persuasiven Funktion“ (Bentele 1998, S. 132).

[...]


[1] Vgl. dazu z.B. Habermas 1981

[2] Die Angaben stammen aus repräsentativen Umfragen des Umfrageinstituts Infratest Dimap (www.infratest-dimap.de). Diese werden seit 2000 durchgeführt und eine deutliche Mehrheit der Befragten gab an, dass sie die Partei vor allem wegen des Wahlprogramms gewählt hat.

[3] Auch andere Autoren haben schon früher dieses Konzept inhaltlich verwendet (Vgl. Schulz 2008, S. 146). Letztendlich haben aber erst McCombs und Shaw die vorliegenden Befunde als einheitliches Forschungskonzept empirisch untersucht (Vgl. Rössler 1997, S. 59).

[4] „Persuasionsforschung […] befasst sich mit der Wirkung jeglicher Überredungskommunikation, die über Massenmedien transportiert wird.“ (Schenk 2007, S. 60) Im Vordergrund stehen die Wirkungen der Medien in ihren Bemühungen, Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Rezipienten zu verändern. Unter persuasiver Kommunikation wird also keine Informationsvermittlung, sondern Beeinflussung verstanden (Vgl. Bonfadelli 2004, S. 78).

[5] „The survey question was: What are you most concerned about these days? That is, regardless of what politicians say, what are the two or three main things which you think the government should concentrate on doing something about?” (McCombs/Shaw 1972, S. 178)

[6] So, wie es Rössler vorschlägt, wird auch in dieser Arbeit der Begriff Hypothese, bzw. auch A nnahme, Modell, Konzept oder Konstrukt als Ersatz (Surrogat) für die fehlende theoretische Verankerung verwendet (Vgl. Rössler 1997, S. 60).

[7] Eine erschöpfende Darstellung ist an dieser Stelle nicht möglich. Einen Überblick über die verschiedenen Definition bieten beispielsweise Rössler (1997, S. 72ff.), Dearing/Rogers (1996, S. 2ff.) oder Schenk (2007, S. 479ff.).

[8] Ausgeschlossen werden mit dieser Definition allerdings alle nicht-politischen Fragestellungen. Dies war und ist typisch für die Agenda-Setting-Forschung und wird deshalb als Einschränkung kritisiert (Vgl. Schenk 2007, S. 437; Vgl. Brosius 1994, S. 270f.).

[9] Trotz der Kritik vieler Autoren an der fehlenden Eingrenzung und der adäquaten Übersetzung eines issue wird schlussendlich dennoch der Begriff Thema verwendet, so auch in dieser Arbeit (Vgl. Eichhorn 1996, S. 15).

[10] Die in der Literatur vorgenommene Trennung der Subsysteme (Öffentlichkeit, Medien und Politik) ist problematisch, da durch die dichte Verschränkung der einzelnen Bereiche keine saubere Abgrenzung möglich ist. Akteure der Medien und die der Politik sind auch Teil der Öffentlichkeit, relevante Teile des Mediensystems müssen auch als Teile des politischen Systems betrachtet werden. Eine exakte Definition bzw. Abgrenzung von Medien-Agenda-Setting und Policy-Agenda-Setting ist hinsichtlich der Interdependenzen von Einflussfaktoren auf die Zielagenda und die damit einhergehenden Rückkoppelungsprozesse nicht möglich (Vgl. Rössler 1997, S. 34).

[11] Vgl. zur Nachrichtenwertforschung beispielsweise die Darstellung bei Bonfadelli (2004, S. 47f.) oder Schulz (2008, S. 92ff.).

[12] Zu unterscheiden ist hier hinsichtlich der Analyseebene, welche Themen in einer Gesellschaft (Makroebene) oder von einzelnen Medienrezipienten (Mikroebene) als besonders wichtig angesehen werden (Vgl. Brettschneider 1998, S. 635).

[13] http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/07/Beilage/000.html (Stand 2009-10-01)

[14] Die Diskussionen um das „Ende der Volksparteien“ im Fünf-Parteiensystem durch deren Mitglieder- und Wählerschwund steht nicht im Fokus dieser Arbeit und wird deshalb nicht diskutiert (Lösche 2009, S. 12).

[15] ARD Tagesschau Wahlmonitor Flashdokumentation in:

http://wahlarchiv.tagesschau.de/flash/index.html?wahl=2009-09-27-BT-DE (Stand 2010-01-26)

Ende der Leseprobe aus 144 Seiten

Details

Titel
Wahlkampfkommunikation und Agenda-Setting
Untertitel
Eine Analyse zum Bundestagswahlkampf 2009
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Department für Medien & Kommunikation)
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
144
Katalognummer
V206851
ISBN (eBook)
9783656337379
ISBN (Buch)
9783656337324
Dateigröße
1435 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische Kommunikation, Wahlkampf, Empirie, Agenda Setting, Themensetzung, Medienagenda, Wahlkampfkommunikation
Arbeit zitieren
M.A. Franziska Ehring (Autor:in), 2010, Wahlkampfkommunikation und Agenda-Setting, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206851

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