Die Frauenfiguren in Thomas Manns "Buddenbrooks"


Bachelorarbeit, 2012

43 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit

2. Die Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts

3. Die Rolle der Frau in Thomas Manns „Buddenbrooks“ : Fiktion oder Wirklichkeit?

4. Die Rolle des Weiblichen im Verfallsprozess
4.1 Der Einfluss der Ehefrauen auf die Degeneration
4.2 Die Auswirkungen des Degenerationsprozesses auf die weiblichen Nachkommen

5. Das Überleben vitaler Weiblichkeit

6. Abschließende Überlegungen

Literaturverzeichnis

1. Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit

Der 1901 erschienene Roman „Buddenbrooks-Verfall einer Familie“ von Thomas Mann beginnt und endet mit den Worten von Frauen. Auf diese Weise lässt sich bereits die Bedeutung erkennen, die den weiblichen Figuren in diesem Werk beigemessen wird. Der biologische Niedergangsprozess der Familie Buddenbrook erstreckt sich über vier Generationen hinweg und führt zum Erlöschen der männlichen Linie, so dass nach vollendetem Niedergang nur noch weibliche Personen anwesend sind. Dabei sticht insbesondere Tony Buddenbrook hervor, auch wenn sie in dem facettenreichen Abriss der Lübecker Patrizierfamilie nur einen Charakter neben anderen verkörpert und nicht als eigentliche Hauptfigur gilt, stellt sie doch neben ihrem Bruder Thomas und ihrem Neffen Hanno einen wichtigen Punkt im Verfallsprozess der Familie dar. Insgesamt kommt ihr eine bedeutende Funktion zu, da sie die einzige Person ist, die in der ersten wie in der letzten Romanszene präsent ist, so dass der Leser ihren Lebensweg von der Kindheit bis zur erwachsenen Frau von fast 50 Jahren verfolgen kann. Während Tony als recht durchschaubar und authentisch gilt, steht ihr gegenüber die geheimnisvolle und kalte Gerda Arnoldsen, deren Rolle für den Untergang der Familie Buddenbrook imminent wichtig ist.

Innerhalb dieser Arbeit werde ich mich zunächst mit den tatsächlichen, historischen Begebenheiten in Bezug auf die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts befassen. Dabei soll insbesondere auf die Aspekte eingegangen werden, die im Zusammenhang mit Ehe und Familie stehen, um eine Verbindung zu dem Familienroman „Buddenbrooks“ herzustellen. Daraufhin werde ich versuchen herauszufinden, in wie weit das von Thomas Mann in seinem Roman dargestellte Frauenbild mit der zuvor geschilderten historischen Realität übereinstimmt. Anschließend möchte ich darauf eingehen, welche Rolle die verschiedenen Frauenfiguren im Verfallsprozess der Familie spielen. Hier werde ich mich zunächst damit befassen, in welchem Ausmaß die verschiedenen Ehefrauen, dabei explizit Gerda Arnoldsen, den Niedergangsprozess der Familie und damit das endgültige Erlöschen der männlichen Linie vorantreiben. Im Zuge dessen soll im folgenden Punkt darauf eingegangen werden, in welcher Hinsicht die weiblichen Nachkommen der dritten Generation, also Tony und Clara den Niedergangsprozess beeinflussen und fördern sowie in welchem Maß sie selber von dem Verfall betroffen sind. Da wie bereits erwähnt am Ende des Romans nur noch weibliche Familienmitglieder anwesend sind, werde ich auf das Überleben von vitaler Weiblichkeit eingehen und versuchen herauszufinden, wie es Tony Buddenbrook gelingt am Ende des Verfalls der Familie trotz eigener Schicksalsschläge erhobenen Hauptes da zu stehen.

2. Die Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts

In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bestand eine ausgeprägte Differenz zwischen Frauen und Männern. Sie gehörten zwei sich vollständig voneinander unterscheidenden Sphären an. Frauen konnten die Aspekte Liebe, Familie, Häuslichkeit und ästhetische Kultur, sowie die Eigenschaften Gefühlswärme und Naivität aber auch Gewandtheit und Eleganz zugeordnet werden. Anhand der Strukturen in der bürgerlichen Familie lässt sich viel über die Stellung der Frau sagen, so dass die folgenden Aspekte zur Bestimmung der Rolle der Frauen stets in diesem Großzusammenhang erscheinen. Bevor jedoch der Fokus auf das Bürgertum selber gelenkt werden kann, muss der Vollständigkeit halber zunächst auf den in den Jahrhunderten zuvor erfolgten fundamentalen Wandel im Verhältnis der Geschlechter zueinander, innerhalb der sozialen Institution der Familie eingegangen werden.

Der Begriff Familie beschreibt erst seit Ende des 18. Jahrhunderts die soziale Kleingruppe von Eltern und Kindern. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zählte beispielsweise auch die gesamte Dienerschaft zur Familie. Die zusammenlebenden Menschen trugen gemeinsam zu ihrem Lebensunterhalt bei, wobei das Ehepaar die Basis dieser Familienform bildete. Es bestand das Ziel, zusammen einen angemessenen sozialen Status zu erreichen und zu erhalten, was weder Mann noch Frau alleine gelingen konnte. Gegen Ende der frühen Neuzeit wurde die Gleichwertigkeit der Geschlechter in Frage gestellt. Durch die Trennung von Privat- und Arbeitsleben setzte sich die Vorstellung durch, dass der Ehemann seine Frau nach außen zu vertreten habe, während der Gattin die Herrschaft zu Hause zustand. Der Mann stieg zum Ernährer der Familie außerhalb des Hauses auf, während seine Ehefrau sich um den

Haushalt und die Kinder kümmerte.[1] Insgesamt lässt sich sagen, dass der

öffentliche Bereich immer mehr aufgewertet, während der häusliche abgewertet wurde. Dieses Modell passte jedoch zu den Dominanzansprüchen des männlichen Geschlechts und führte zur Geschlechtsvormundschaft. Dies bezeichnet die rechtliche Unselbstständigkeit der Frau. Sie unterstand in der Regel der Vormundschaft durch den Vater, den Ehemann oder einer anderen männlichen Person.

Die Infragestellung der Gleichwertigkeit der Ehepartner trat im 19. Jahrhundert in besonderem Maß in der sozialen Klasse des Bürgertums auf. Frauen hatten sich aus dem öffentlichen Raum des Erwerbs und der Politik fernzuhalten. Ihr Leben war auf die häuslichen Aufgaben beschränkt, so waren sie für die Organisation des Haushalts, die Erziehung der Kinder und die Herstellung

eines guten Eheverhältnisses zuständig.[2] Außerdem sollten die Frauen dafür sorgen, dass die Familie einen „Schonraum“ darstellt, indem die erwerbstätigen Männer der Familie sich entspannen dürfen. Die Aufgaben der Frauen war Zuwendung, Zärtlichkeit und Wärme zu spenden und auf diese Weise für die Erholung im friedlichen Beisammensein zu sorgen.[3]

Zur Konstituierung der sozialen Klasse des Bürgertums gab es von Seiten der Frauen einen aktiven sowie einen passiven Beitrag. Ihr passiver Beitrag bestand darin, als Heiratspartnerin eine für den ökonomischen Erfolg des Ehemanns ausreichende Mitgift beizusteuern und ihm durch die Verbindung Verwandtschaftsbeziehungen zu ermöglichen, die seinem Unternehmen förderlich waren. Auf der aktiven Ebene fungierte sie als Stifterin der Familienkontinuität durch die Geburt und standesgemäße Erziehung von Kindern. Außerdem waren Frauen als Ausrichterin von repräsentativen Gesellschaften, als Verkörperung des ehemännlichen Vermögens und

Ansehens und Basis familiärer Kommunikationsnetze tätig.[4]

Die Grundsätze der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert beruhten auf den „Prinzipien der Gleichheit und Freiheit“. Als zentrale Institution hat die bürgerliche Familie diesen Grundsätzen aber deutlich widersprochen. Denn die Familie im Bürgertum schien unter der Herrschaft eines Patriarchen gestanden zu haben. Diese Hierarchie führte dazu, dass persönliche Abhängigkeiten vorhanden waren.[5] In der bürgerlichen Familie dominierte der Mann, der als Verbindung zur sozialen Umwelt fungierte und für die finanzielle Versorgung verantwortlich war. Alle anderen Familienmitglieder waren von ihm abhängig und besaßen kaum eigene Rechte. Der Mann verwaltete das Vermögen, d. h. die Mitgift seiner Frau. Entscheidungen, die die Zukunft seiner Kinder betrafen, wurden von ihm getroffen.[6] Trotz der großen Bedeutung von Frauen im Familienleben, war aus der rechtlichen Perspektive heraus die bürgerliche Familie patriarchalisch organisiert, so dass der Frau gleiche Rechte grundsätzlich verweigert wurden.[7]

„Dass gerade das BGB, als Kodifikation allgemeiner Rechtsgleichheit, im Familienrecht rechtsungleiche Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau festschrieb, deutet darauf hin, dass die Familie in der bürgerlichen Gesellschaft eben keine Enklave freier, reiner, liebevoller Menschlichkeit war, sondern ein Herrschaftsverband eigener Art.“[8] Indem innerhalb der Familie Männer über ihre Frauen Herrschaft ausübten, war auch in einer antiständischen

Gesellschaft weiterhin, wenn auch durch Liebe, ein verschleiertes Abhängigkeitsverhältnis vorhanden.[9]

In Bezug auf das Selbstverständnis der bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert lässt sich sagen, dass das Glück des Einzelnen stets hinter den Interessen der Familie zurücktreten sollte. Der Vater als Familienoberhaupt hatte die Macht, seinen Willen letzten Endes durchzusetzen. Die Interessen der Familie waren vorwiegend finanzielle Interessen, auch wenn die konsequente Verwirklichung der finanziellen Interessen zunächst unmenschlich erscheint, muss bedacht werden, dass das Vermögen den Lebensunterhalt der einzelnen Familienmitglieder garantiert. Demzufolge lässt sich hier auch menschliche Verantwortung für die Zukunft aller Familienmitglieder sehen. Solange nicht eigenmächtig gegen die Familieninteressen gehandelt wird, hatte jedes Mitglied der Familie Anspruch auf einen Teil des Gesamtvermögens. Der Vater als Familienoberhaupt und somit Vorstand des „Versorgungsinstituts“ hatte die Aufgabe, die „ökonomische Grundlage des Lebens aller Mitglieder der Familie zu sichern und das Familienvermögen zu diesem Zweck zu

erhalten“.[10] Dies verlieh ihm eine fast unumschränkte Macht, die sich nicht nur

in finanzieller Hinsicht äußerte, aber dort am drastischsten bemerkt wurde.[11] Die Frauen wurden von der aktiven Beteiligung an der Firma und den Finanzen ferngehalten, der Einblick und die Einmischung in Geschäftliches und Finanzielles waren ihr nicht gestattet. Insgesamt hatten sie keinen wirklichen Einblick in die vom Manne verwalteten Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Auch wenn die Tochter von aktiver Mitarbeit in der Firma ausgeschlossen war, hatten Prestige und Ansehen der Familie für sie keine geringere Bedeutung als für die männlichen Familienmitglieder. Dies lag daran, dass der öffentliche Respekt für den Namen der Firma auch auf sie zurückfiel und ihr Selbstbewusstsein stärkte. Ihre Lebensaufgabe sah sie ebenso wie die männlichen Familienmitglieder in der Aufrechterhaltung und Steigerung des Ansehens der Firma. Ihr Beitrag dazu bestand darin, Ansehen und Wohlstand der Familie durch eine vorteilhafte Ehe zu vermehren.[12] Romantische Liebe und Leidenschaft führten im Bürgertum nur in den seltensten Fällen zu einer Ehe. Allgemein hieß es, die Liebe werde nach der Hochzeit schon kommen. Die Ehe sollte meist eher die soziale Identität sicherstellen, als einem Liebesglück dienen.[13] Heiraten wurden von den Eltern, vor allem vom Vater, arrangiert. Dabei standen ökonomisch-soziale Gesichtspunkte im Vordergrund. Für die Eltern des Bräutigams war eine ausreichende Mitgift ausschlaggebendes Argument. Die Brauteltern dagegen

legten Wert auf einen soliden wirtschaftlich-beruflichen Status, der eine standesgemäße Versorgung der Frau und künftigen Kinder gewährleistete. Damit der Bräutigam diesen Erwartungen gerecht werden konnte, war die logische Konsequenz, dass er bereits ein relativ hohes Alter erreicht hatte, da die Ausbildung zum Beamten oder Kaufmann viele Jahre dauerte. Mädchen dagegen traten sehr jung, mit 21 oder 22 Jahren, in den Ehestand ein. Dies führte dazu, dass zwischen den Ehepartnern demnach eine Altersdifferenz von mindestens zehn Jahren bestand.[14] Das junge Alter der Frau lässt sich durch das Bedürfnis des Bräutigams erklären, sich eine Braut als noch kindliche Unschuld, als erziehbares und anpassungsfähiges Mädchen vorzustellen und daneben selber als erfahrener, Schutz und Autorität verheißender erwachsener Mann und Lehrer aufzutreten. Insgesamt hatte in einer angesehenen Ehe der Mann bedeutend älter zu sein als seine Frau.[15] Da fast ausschließlich innerhalb einer gesellschaftlichen Schicht geheiratet wurde, müsste vom Milieu aus zwischen den Eheleuten eine relative Vertrautheit geherrscht haben, wobei der häufig extreme Altersunterschied jedoch oftmals zu einer Distanz zwischen den Eheleuten führte.[16] Hatte ein Mann sich insgeheim eine Braut ausgesucht, nutzte er häufig die Gelegenheit sie in ihrer häuslichen Umgebung zu beobachten. Im Gegensatz dazu hatten nur wenige Frauen ihren zukünftigen Ehemann vor der Ehe in seinem Elternhaus, oder an seinem Arbeitsplatz gesehen. Dies führte dazu, dass sich eine Frau bei der Entscheidung einen Heiratsantrag anzunehmen, auf das Urteil ihres Vaters oder Bruders verlassen haben musste.[17]

In Bezug auf Kindererziehung im Bürgertum des 19. Jahrhunderts lässt sich sagen, dass auch wenn dem Vater in der Theorie weiterhin eine höhere Erziehungsmacht zugesprochen wurde, die Erziehung in der Praxis immer mehr auf die Mutter überging. Auf diese Weise wurde den Frauen eine neue Macht zu Teil.[18] Aufgrund der neuen Verantwortlichkeit der Frauen für das Kind und der durch bewusste Familienplanung geringen Kinderzahl, entstand eine tiefe emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind, so dass der Vater an den Rand der auf Emotionalität gegründeten Struktur der Familie rückte.[19] Diese spezielle emotionale Bindung traf in besonderem Maße auf die Beziehung zu den Töchtern zu. So galt für das kleine und sogar noch für das heranwachsende Mädchen die Erziehung durch die Mutter besser als jede

andere Person, weil nur durch sie eine optimale Vorbereitung auf das Privatleben erfolgen könne. Diese Beziehung erschien sanft, einfühlsam und vertraut. Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Tochter wurden immer üblicher. Die Mütter betätigten sich gerne als Lehrerinnen ihrer Töchter, teilweise wollte die Mutter in der Tochter ein neues, besseres Ich erschaffen. Nur wenige Mädchen wurden ausschließlich zu Hause erzogen. Häufig traten Mütter die Probleme, die sie mit der heranwachsenden Tochter hatten, an Mädchenpensionate ab. Dort entdeckten viele junge Mädchen ein tiefes Gemeinschaftsgefühl. Diese Bande zwischen den Mädchen lockerten sich aber oftmals nach der Heirat.[20]

Bezüglich des Ehebruchs galt im Bürgertum des 19. Jahrhunderts die gängige Meinung, der eheliche Betrug einer Frau sei strenger als der eines Manns zu bestrafen. Außerdem herrschte die allgemeine Ansicht, dass der Ehemann, der wissentlich einen Ehebruch der Frau duldet an Achtung verliert, während umgekehrt die Frau häufig Anspruch auf besondere Achtung und auf Mitgefühl hatte. Viele Jahrzehnte lang war allgemein anerkannt, dass die Ehre eines Mannes durch den Ehebruch seiner Frau auf das tiefste verletzt werde. Ein außereheliches Verhältnis eines Mannes dagegen beschädigte weder seine eigene Ehre noch die seiner Ehefrau. Es galt lediglich als leicht verzeihlicher Fehltritt.[21]

Insgesamt kann man davon sprechen, dass das Ansehen eines Mannes von der Qualität seiner Ehefrau abhing. Nur dann, wenn sie ihre Aufgaben als Gattin, Mutter und Hausfrau perfekt erfüllte, hob sich sein gesellschaftlicher Status.[22] Eine Frau machte ihrem Mann Ehre, indem sie sich über ihre vorrangigen Aufgaben hinaus in der Gesellschaft den Ruf einer vornehmen, eleganten und gewandten Dame erwarb. Zu diesem Zweck wurden Mädchen in Bezug auf die Vermittlung ästhetischer Kultur erzogen. Grundlegend waren Klavierspiel, literarische Kenntnisse und generell künstlerische Fähigkeiten. Der Besuch spezieller Mädchenschulen und Pensionate befähigte bürgerliche Töchter dazu, ein elegantes Haus zu führen, anspruchsvolle Salons zu gründen und als kulturell bewanderte Gesellschafterinnen aufzutreten.[23] Die Hauptaufgabe der

„höheren Töchterschulen“ war, die Mädchen auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter vorzubereiten.[24] Neben der perfekten Erfüllung der Aufgaben einer Gattin, konnte der Glanz der Schönheit einer Frau ihren Ehemann selber aufwerten.[25]

Der allgemeinen Ansicht zufolge, beruhte die eigene Ehre einer Frau hauptsächlich auf ihrer geschlechtlichen Anständigkeit, also auf ihrem Verzicht

auf vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen. Eine politische und soziale Ehre konnte eine Frau dagegen nicht selbstständig, sondern nur indirekt durch den Mann erlangen. Für den Mann anziehend zu sein, das heißt sittliche und geschlechtliche Reinheit zu verkörpern, war der indirekte Weg zur Erlangung von Ehre.[26] Weibliche Ehre wurde als umso bedeutender angesehen, je größere materielle Folgen an ihre Verluste gebunden waren. Auf keinen Fall durften eigenwillige sexuelle Kontakte der Tochter die ausgeklügelten Heiratsstrategien der Eltern durchkreuzen und deren Interesse an der Vergrößerung des Besitzes zunichtemachen.[27] Ebenso wie Frauen den Stand ihrer Ehemänner beziehungsweise Väter annahmen, machten sie auch die Ehre, die daran geknüpft war zu ihrer eigenen. Hier fand sich ein grundlegender Bestandteil weiblicher Identität, so ließen sich beispielsweise bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert unter dem Titel ihrer Ehemänner vorstellen und anreden.[28]

Die Rechtsform Ehe versperrte der Frau den Zugang zur vollen Mündigkeit und uneingeschränkten Rechtsautonomie auf fast allen Gebieten des politischen, gesellschaftlichen und gewerblichen Lebens. Aus diesem Grund kommt dem Scheidungsrecht eine besondere geschlechtsspezifische Wertigkeit zu. Durch die Auflösung einer Ehe war es der Frau möglich, sich von der Last

der eherechtlichen Privilegien des Mannes zu befreien.[29] Als Gründe für eine

Scheidung wurden häufig Trunkenheit und Tätlichkeiten, böswillige Verlassung, Ehebruch und Versagung des Unterhalts aufgeführt. [30] Der Scheidungswunsch wurde häufiger als mit ehebrecherischem Verhalten des Mannes, mit Misshandlungen oder fehlendem Lebensunterhalt begründet, was auch bei den Richtern für viel mehr Eindruck sorgte.[31] Scheidungen deuteten einen zu bewältigenden Weg aus einer wahrlich ausweglosen Ehesituation an, auch wenn es keine Garantie für ein menschenwürdiges Leben nach der Scheidung gab. Die rechtliche Möglichkeit einer Scheidung war mit starken weiblichen Hoffnungen besetzt. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war ein sehr häufiger Grund der zahlreichen Scheidungen die Versagung des Unterhalts. In diesem Fall bestimmte der Richter die Versorgung der Frau nach den finanziellen Umständen des Mannes. In dem Fall, in dem der Mann aber mittellos war, fand man sich an den Grenzen des Rechtssystems wieder. Auch wenn Rechtsansprüche für die geschiedene Frau eine gewisse Sicherheit boten, bestand die eigentliche soziale Rückversicherung, in einer an eine gescheiterte

Ehe sich anschließende neue Ehe. Für eine Frau bot die Scheidung die Möglichkeit einen Schlussstrich unter ein menschlich demütigendes und sozial auswegloses Eheleben zu ziehen und auf diese Weise eine persönliche Zukunftsperspektive zu erhalten.[32] Dies führte jedoch nicht dazu, dass die Frau ihre Mitgift zurück bekommen hätte.[33] Insgesamt hatte die alleinstehende Frau stets mit Ablehnung und Verneinung gegenüber der Mutter und Gattin zu kämpfen.[34]

Einen weiteren wichtigen Aspekt zur Stellung der Frau im 19. Jahrhundert bildet der Punkt Kirche und Religiosität. Frauen jeglichen Alters zählten zu den ständigen Anhängern der Kirche. Die Entwicklung zeigt, dass während Männer sich zunehmend von kirchlichen Formen der Frömmigkeit distanzierten, Frauen ihnen treu blieben und darüber hinaus neue Wege suchten, ihren Glauben zu zeigen und die konfessionelle Gemeinschaft zu bekräftigen. Dazu zählten kollektive Wallfahrten, kirchliche Sozialarbeit, individuelles Gebet und Familienandachten. Dabei war das Haus der erste und bedeutendste Ort, an dem Frömmigkeit eingeübt und praktiziert wurde. Gleichzeitig wurde Frauen aber durch die Religion der Zugang zur Öffentlichkeit und zur Vergemeinschaftung mit anderen Menschen ermöglicht.[35]

Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass in wohlhabenden Kreisen Mütter im Alter als Witwen mit ungehinderter Macht über ein großes Vermögen verfügten, das sie mit konservativer Umsicht verwalteten. Da der Patriarch der Familie nun nicht mehr war, regierten sie „Matriarchalisch“ über ihre Nachkommenschaft.[36]

Aus den vorigen Darstellungen zu der Stellung der Frau im Bürgertum des 19. Jahrhunderts kann, folgendes Fazit gezogen werden. In nahezu jeglicher Hinsicht wurde die Frau durch die Dominanz des männlichen Geschlechts rechtlich entmündigt und aus der Öffentlichkeit ferngehalten. An dieser Stelle muss noch einmal die hierarchische Familienstruktur mit einem Patriarchen an oberster Position hervorgehoben werden. Auf diese Weise konnte innerhalb der sozialen Institution der Familie eine Herrschaft der Männer über ihre Frauen ausgeübt werden. Indem Frauen den sozialen Stand und sogar die Ehre ihrer Ehemänner beziehungsweise Väter annahmen, lässt sich erkennen, dass Frauen über keine wirklich eigenständige Identität verfügten. Jedoch findet sich im kleinen Rahmen eine Selbstständigkeit der Frauen, durch die sie sich einen eigenständigen Bereich und auf diese Weise teilweise auch einen Zugang zur

Öffentlichkeit eroberten. Dies wäre zum einen die Tatsache, dass sie durch die Verantwortung in Bezug auf die Erziehung der Kinder zu Hause einen eigenen Herrschaftsbereich erlangen konnten und zum anderen wurde den Frauen durch die Religion ein Stück Öffentlichkeit ermöglicht. Alles in allem lässt sich konstatieren, dass Frauen zwar in den meisten Punkten fremdbestimmt waren, aber trotzdem kleine persönliche Machtpositionen erlangen konnten.

3. Die Rolle der Frau in Thomas Manns „Buddenbrooks“ : Fiktion oder Wirklichkeit?

Der 1901 erschienene Roman „Buddenbrooks – Verfall einer Familie“ von Thomas Mann beinhaltet die erzählte Zeit der Jahre 1835 bis 1877. In diesen 42 Jahren wird das Schicksal vierer Generationen von Frauen thematisiert, so dass das Leben der weiblichen Figuren im Roman als recht exemplarisch für die Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gesehen werden kann. Doch was entspricht tatsächlich der historischen Wirklichkeit und was basiert auf der Fiktion des Autors? Im Folgenden werde ich einige grundlegende Aspekte, die für die Stellung der Frauen im Bürgertum des 19. Jahrhunderts von Bedeutung sind, in Bezug auf den Roman herausgreifen und die „Buddenbrooks“ auf ihre Authentizität hin näher betrachten. Da im Roman die Familie das zentrale Thema bildet, werden die herausgearbeiteten Punkte alle im Zusammenhang mit Ehe und Familie stehen. Zuerst einmal muss für das Grundverständnis der Situation der Frau der Aspekt hervorgehoben werden, dass die bürgerliche Familie patriarchalisch organisiert war, so dass der Frau gleiche Rechte nicht zustanden.[37] Dieser Punkt findet innerhalb des Romans von Anfang bis Ende seine Bestätigung. Denn in jeder Generation stellt ein männlicher Vertreter – zunächst Johann Buddenbrook, dann Jean Buddenbrook und schließlich Thomas Buddenbrook - das Familienoberhaupt, das über sämtliche die Familie und die Firma betreffenden Angelegenheiten die Entscheidungen trifft, dar. So ist das Verhältnis von Tony zu ihrem Vater nicht in erster Linie von „Zärtlichkeit“, (Mann, Thomas: Buddenbrooks - Verfall einer Familie. Frankfurt am Main 1974, S. 233.) sondern von „Ehrfurcht“ (233.) geprägt. Ebenso verehrt sie den älteren Bruder schon früh, da sie in ihm den „zukünftigen Firmenchef, das einstmalige Familienoberhaupt“ (235) sieht. Die Machtposition des männlichen Oberhauptes ist unbestritten, wie Tony in Zusammenhang mit dem Verkauf des Elternhauses einsieht: „Ich kann nur wiederholen, dass du tun musst, was du für richtig hältst. Du musst für uns denken und handeln, denn Gerda und ich sind Weiber ... “ (586).[38] Jedoch wandelt sich nach ihrer ersten Scheidung von

ihrer Seite aus das Verhältnis zum Patriarchen der Familie. Die Tatsache, dass ihr Vater sie vor der entscheidenden Unterredung mit Grünlich ins Vertrauen gezogen, Wert auf ihre Meinung gelegt und ihr die Einsicht seiner Schuld an dieser Misere eingestanden hatte, führte ihn näher zu seiner Tochter hin. Auf diese Weise gewinnt sie längerfristig ein freieres Verhältnis zur patriarchalischen Autorität insgesamt. Dies hilft ihr im späteren Handlungsgeschehen in der Auseinandersetzung mit ihrem älteren Bruder Thomas nach ihrer übereilten Rückkehr aus München, der zu diesem Zeitpunkt das Firmen- und Familienoberhaupt darstellt.[39] Die Achtung, die zuletzt der Vater Tony erwiesen hat, macht sie frei für die spontane Selbstbehauptung gegen seinen Nachfolger, ihren Bruder Thomas.[40]

Das Selbstverständnis der bürgerlichen Familie basiert auf der Vorstellung, dass das Glück des Einzelnen stets hinter den gemeinsamen Familieninteressen, welche vorwiegend finanziell motiviert waren, zurückzustehen habe. Der Vater als Familienoberhaupt hatte aufgrund seiner Position im Familiengefüge die Macht, seinen Willen letztlich durchzusetzen.[41] In den „Buddenbrooks“ wird diese Ansicht im Brief des Konsuls an seine Tochter Tony im Jahr 1845 eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht:

„Wir sind, meine liebe Tochter nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach rechts oder links zu blicken einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten. Dein Weg, wie mich dünkt, liegt seit mehreren Wochen klar und scharf abgegrenzt vor Dir, und du müsstest nicht meine Tochter sein, nicht die Enkelin Deines in Gott ruhenden Großvaters und überhaupt nicht ein würdig Glied unserer Familie, wenn du ernstlich im Sinne hättest, Du allein, mit Trotz und Flattersinn Deine eigenen, unordentlichen Pfade zu gehen.“ (148f.)

[...]


[1] Vgl. Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933. – In: Kai Brodersen, Gabriele Haug- Moritz, Martin Kintzinger und Uwe Puschner (Hrsg.): Geschichte kompakt. Darmstadt 2006, S. 9ff.

[2] Vgl. Frevert, Ute: Bürgerliche Familie und Geschlechterrollen: Modell und Wirklichkeit. – In: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven. Frankfurt am Main 1990, S. 92.

[3] Vgl. Herd, Eric: III. Der Gehalt. D. Ehe und Familie. – In: Ken Moulden und Gero von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 216.

[4] Vgl. Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 142f.

[5] Vgl. Frevert, Ute: Bürgerliche Familie und Geschlechterrollen: Modell und Wirklichkeit, S. 90.

[6] Vgl. Ebd, S. 94.

[7] Vgl. Ebd, S. 97.

[8] Frevert, Ute: Bürgerliche Familie und Geschlechterrollen: Modell und Wirklichkeit, S. 97f.

[9] Vgl. Frevert, Ute: Bürgerliche Familie und Geschlechterrollen: Modell und Wirklichkeit, S. 97f.

[10] Herd, Eric: III. Der Gehalt. D. Ehe und Familie, S. 213ff.

[11] Vgl. Ebd.

[12] Vgl. Ebd, S. 218f.

[13] Vgl. Knibiehler, Yvonne: 14. Leib und Seele. – In: Geneviéve Fraisse und Michelle Perrot (Hrsg.): Geschichte der Frauen. Bd. 4. 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1994, S. 411.

[14] Vgl. Frevert, Ute: Bürgerliche Familie und Geschlechterrollen: Modell und Wirklichkeit, S. 95.

[15] Vgl. Ebd, S. 96.

[16] Vgl. Hause, Karin: „ ... eine Ulme für das schwanke Efeu“. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert. – In: Ute Frevert (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. 95.

[17] Vgl. Ebd, S. 93.

[18] Ebd, S. 113.

[19] Vgl. Schütze, Yvonne: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts. – In: Ute Frevert (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. 125.

[20] Vgl. Knibiehler, Yvonne: 14. Leib und Seele, S. 403f.

[21] Vgl. Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 182f.

[22] Vgl. Ebd, S. 187.

[23] Vgl.Ebd, S. 150f.

[24] Vgl. Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933, S. 26.

[25] Vgl. Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 155.

[26] Vgl. Vgl. Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 187ff.

[27] Vgl. Ebd, S. 203.

[28] Vgl. Ebd, S. 191.

[29] Vgl. Blasius, Dirk: Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter. Das Scheidungsrecht im historischen Vergleich. – In: Ute Frevert (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. 68.

[30] Vgl. Ebd, S. 78.

[31] Vgl. Knibiehler, Yvonne: 14. Leib und Seele, S. 413.

[32] Vgl. Blasius, Dirk: Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter, S. 78ff.

[33] Vgl. Knibiehler, Yvonne: 14. Leib und Seele, S. 413.

[34] Vgl. Dauphin, Cécile: 17. Alleinstehende Frauen. – In: Geneviéve Fraisse und Michelle Perrot (Hrsg.): Geschichte der Frauen Bd. 4. 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1994, S. 496.

[35] Vgl. Frevert, Ute und Haupt, Heinz-Gerhard: Einführung. Der Mensch des 19. Jahrhunderts. – In: Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1999, S. 13f.

[36] Vgl. Knibiehler, Yvonne: 14. Leib und Seele, S. 415.

[37] Vgl. Frevert, Ute: 4. Bürgerliche Familie und Geschlechterrollen: Modell und Wirklichkeit, S. 97.

[38] Vgl. Herd, Eric: III. Der Gehalt. D. Ehe und Familie, S. 215.

[39] Vgl. Sautermeister, Gert: Tony Buddenbrook. Lebensstufen, Bruchlinien, Gestaltwandel. – In: Thomas Sprecher und Ruprecht Wimmer (Hrsg.): Thomas Mann Jahrbuch. Bd. 20. 2007. Frankfurt am Main 2008, S. 119f.

[40] Vgl. Ebd, S. 123.

[41] Vgl. Herd, Eric: III. Der Gehalt. D. Ehe und Familie, S. 213ff.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Die Frauenfiguren in Thomas Manns "Buddenbrooks"
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur)
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
43
Katalognummer
V206951
ISBN (eBook)
9783656430605
ISBN (Buch)
9783656434931
Dateigröße
490 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
frauenfiguren, thomas, manns, buddenbrooks
Arbeit zitieren
Sarah Müller (Autor:in), 2012, Die Frauenfiguren in Thomas Manns "Buddenbrooks", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206951

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