Leseprobe
Der Horrorfilm - so manchem mag er als anspruchslose und blutige Unterhaltung gelten, andere sehen in ihm einen Spiegel desatröser gesellschaftlicher Zustände oder eine Kritik an politischen Verhältnissen. Wie auch immer man den Horrorfilm einordnen mag, über seine Grundsubstanz, über das, was einen Film zu einem Horrorfilm macht, lässt sich schwerlich streiten:
In nahezu jedem Film dieses Genres wird zunächst einmal das normale Leben einer Gruppe von Menschen oder eines Individuums gezeigt und vorgestellt. Nach einiger Zeit passiert dann etwas Schreckliches; eine - wie auch immer geartete - Bedrohung bringt das Alltagsleben gehörig aus den Fugen.
Der kanadische Filmkritiker Robin Wood erkennt in dieser (scheinbaren) Gesetzmäßigkeit die elementare Formel des Horrorfilmes: „Die Normalität ist durch das Monster bedroht“. Normalität bedeutet für Wood die Übereinstimmung mit den vorherrschenden sozialen Normen; ein Leben, das meist mit den in der bürgerlichkapitalistischen Welt vorherrschenden gesellschaftlichen Grundsätzen der Monogamie und Heterosexualität im Einklang steht.
Das Monster kann für Wood so ziemlich alles von einem Blutsauger oder einem riesigen Ungetüm bis hin zu einem vom Teufel besessenen Kind oder einem mutierten Zellklumpen sein. Entscheidend ist nicht die äußere Form des Monsters, sondern das, was es verkörpert. Hierbei handelt es sich Wood zufolge um die Konzepte des gesellschaftlich und individuell Verdrängten und des Anderen, die durch die Figur des Monsters zum Ausdruck gebracht werden. Doch was bedeutet diese Konzepte überhaupt?
Mit Bezug auf Freud und Marcuse geht Robin Wood davon aus, dass der Mensch sich in einem ständigen Prozess der Verdrängens befindet. Unterschieden wird zwischen basaler Verdrängung, die uns zu einem denkenden, (mehr oder minder) sozialkompatiblen menschlichen Wesen macht und der überschüssigen Verdrängung. Letztere sei für das Funktionieren des sozialen Lebens nicht notwendig, vielmehr beruhe sie auf den von Generation zu Generation weitergegebenen Normen, die die freie Entfaltung des Individuums stark behindern können. Den tief in der Gesellschaft verankerten Regel- und Normenkatalog kann man auf folgende Aussage herunterbrechen: was von dem Idealbild eines monogam-heterosexuellen, bourgeois-patriarchalen Kapitalisten abweicht, ist gesellschaftlich nicht gewünscht und wird als Bedrohung empfunden.
Zu sagen, die Bedrohung gehe von einigen Wenigen aus, die mit ihrer unanständigen Lebensweise das Wohl und die Ideale des Groß vorbildlich handelnder und denkender Bürger bedrohen, ist jedoch zu einfach. Vielmehr steckt 'das Böse' in jedem von uns! Doch da nicht dem bürgerlichen Ideal eines rollenkonform handelnden Automatens entsprechende Anlagen, wie Bisexualität oder eine zu stark ausgeprägte - und damit unkontrollierbare - Kreativität, sozial nicht gewünscht sind, müssen sie schon im Kern unterdrückt werden.
Eine Zerstörung des Verdrängten im Selbst sei jedoch nicht möglich und so werde es auf Andere projiziert, um dort gehasst und nach Möglichkeit vernichtet zu werden. Wood schreibt, man hasse im Außen genau das, was man an sich selbst ablehnt. Der Hass richte sich dabei gegen so unterschiedliche Gruppen und Phänomene wie Frauen (auf die Männer ihre eigene, verdrängte Weiblichkeit projizieren und abwerten), alternative ('beängstigende') Ideologien, abweichende Sexualverhalten und Kinder (Kinder als diejenigen, die noch nicht völlig sozialisiert sind und sich somit in jeder Hinsicht durch eine gewisse Andersartigkeit auszeichnen). Der Hass auf Andere ist jedoch nur symptomatisch und bringt keine Erlösung von den inneren Widersprüchen: Wood stimmt mit Freud überein, dass die Last der Verdrängung schier untragbar sei und die Menschen in unserer Gesellschaft deshalb zu Unzufriedenheit, Neurotizismus und Gier neigen.
Schlagen wir nun die Kurve zurück zum Horrorfilm: Im Horrorfilm bricht das 'im wahren Leben' Verdrängte in Form des Monsters aus; es bedroht die bourgeoise Normalität. Dass im Film diese - unsere - Normalität bedroht wird, macht die Faszination des Genres aus. Im Kino ist es - zumindest dem Gedanken nach - möglich, unseren heimlichen, abscheulichen Wunsch zu verwirklichen, die uns unterdrückenden Normen zu zerstören.
Damit sind wir auch schon bei der Beziehung zwischen Monster und Normalität. Für Wood ist diese dritte Variable, die wichtigste Größe in seiner Formel. Sie baut auf der ersten Variable ('das Monster', das wandelbar und jeweils den vorherrschenden Ausprägungsformen gesellschaftlicher Ängste angepasst ist) und der zweiten Variable ('die [filmübergreifend meist konstante] Normalität') auf und bestimmt das grundlegende Thema des Horrorfilmes.
Nachdem diese „einfache und offensichtliche Elementarformel des Horrorfilms“ einmal aufgestellt ist, führt Wood sie im nächsten Teil seiner Abhandlung „Der amerikanische Albtraum“ auch sogleich vor, um ihre Anwendbarkeit zu beweisen: Der Autor stellt die im Film MURDERS IN THE RUE MORGUE vorgestellte Normalität vor, beschreibt dann das - in Dr. Mirakle, seinen Diener und Erik geteilte - Monster und geht schließlich auf die Beziehung zwischen Monster und Normalität ein. In diesem letzteren Abschnitt wird die strukturierende Funktion des Doppelgängermotives hervorgehoben, es werden die in den Film eingebetteten Widersprüche aufgezählt und die von Wood herausgearbeitete Aussage des Filmes (die Unmöglichkeit einer Abtrennung zwischen Reinheit/Normalität und Erotik/Erniedrigung) wird genannt.
Als Leser von Woods Aufsatz mag man sich an dieser Stelle freuen, die einzelnen Variablen beispielhaft erklärt bekommen zu haben und voll freudiger Erwartung weiterlesen, um zu erfahren, wie Wood nun mit den Variablen arbeiteten wird. Die nächsten Zeilen werden auf der Suche nach dem Sinn der Formel überflogen. Irgendwann wird klar, dass die Variablen, geschweige denn die Auflösung der Formel, keine große Rolle mehr spielen werden.
Statt mich nun allzu lange mit der Enttäuschung über die ausbleibende Auflösung der vielversprechenden Formel aufzuhalten, möchte ich sie meinerseits beispielhaft an zwei Horrorfilmen unterschiedlicher Epochen diskutieren:
Der 1931 erschienene Film DR. JEKYLL AND MR. HYDE des US-amerikanischen Regisseurs Rouben Mamoulian beschreibt die durch einen selbstgebräuten Trank induzierte Verwandlung des Wissenschaftlers Dr. Jekyll in ein triebgesteuertes Ungetüm.
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