Leseprobe
Inhaltsübersicht
Einleitung
1. Moderne Kulturtheorien in Übersicht
1. 1. Eine vergleichende Begriffsbestimmung
1. 1. 1. Normative Orientierung
1. 1. 2. Totalitätsorientierung
1. 1. 3. Differenzierungstheoretische Orientierung
1. 1. 4. Bedeutungs- und Wissensorientierung
1. 2. Konzeptionelle Divergenzen und Konvergenzen
2. Modelle zur Erklärung kultureller Beziehungen in einer globalisierten Welt
2. 1. Herausforderungen der Multikulturalität
2. 2. 1. Dimensionen des Kulturpluralismus
2. 2. 2. Politik der Anerkennung
2. 2. 3. Multikulturalität als Identitätsbegrenzung
2. 2. Perspektivische Probleme der Transkulturalität
2. 2. 1. Der Mensch als ›kultureller Mischling‹
2. 2. 2. Interdisziplinarität der Transkulturalität anhand zweier Beispiele
2. 2. 2. 1. Transkulturelle Pädagogik
2. 2. 2. 2. Transkulturelle Kommunikation
2. 2. 3. Die Rolle der unüberbrückbaren Differenzen
2. 3. Strukturelle Dimensionen der Interkulturalität
2. 3. 1. Entstehung eines Faches
2. 3. 2. Philosophischer Zugang der Interkulturalität
3. Praktische Aporien der interkulturellen Kommunikation
3. 1. Sprachen als Mittel zur Kommunikation
3. 1. 1. Nonverbale Aspekte des interkulturellen Dialogs
3. 1. 2. Der Ort der Überlappung
3. 2. Zentrale Korrelatbegriffe
3. 2. 1. Das Eigene und das Andere
3. 2. 2. Interkulturelle Kompetenz
3. 2. 3. Interkulturelle Semantik
3. 2. 4. Interkulturelle Hermeneutik
3. 2. 5. Interkulturelle Komparatistik
3. 2. 6. Interkulturelle Toleranz
3. 2. 7. Interkulturelle Ethik
3. 3. Praktische Hindernisse der interkulturen Kommunikation
3. 3. 1. Erstes Fallbeispiel: Das Islambild
3. 3. 2. Zweites Fallbeispiel: Absloutheits- und Wahrheitsanspruch
3. 3. 3. Drittes Fallbeispiel: Vorurteile und Massenmedien
3. 4. Möglichkeiten der interkulturellen Kommunikation
3. 4. 1. Fallbeispiel: Bildung
3. 4. 2. Deutsche Schulbücher im Spiegelbild der Kritik
Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
»Die Idee von kultureller Reinheit ist ein Mythos.«[1]
Einleitung
Wie der Titel › Multi-, Trans- und Interkulturalität. Ein kulturwissenschaftlicher Vergleich‹ bereits erahnen lässt, geht es im Folgenden um die Beschreibung sowie den analytischen Vergleich der drei soeben genannten Modelle der Multi-, Trans- und Interkulturalität. Gehen die Vorstellungen von Interaktion der Kulturen bei den Modellen auseinander, so sind sie dennoch alle Ergebnisse der Entwicklung der pluralistischen Sichtweise von Kultur.
Alle versuchen über die Beseitigung des Kulturbegriffs im Singular hinaus Kulturen jenseits des Verständnisses von ›dem Eigenen und dem Anderen‹ zu begreifen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welchen Prämissen die gegensätzlichen Modelle folgen und zu welchen Ergebnissen sie an Hand dieser gelangen. Durch die Analyse der Multi-, Trans- und Interkulturalität lassen sich deren Konvergenzen sowie Divergenzen bestimmen. Ziel der Arbeit ist es letztendlich jenen Ansatz zu finden, welcher am Ehesten zur Realisierung interkultureller Kommunikation beitragen kann.
Zum besseren Verständnis dieser Arbeit sei hier kurz der Begriff und vor allem die Perspektive der ›Kulturwissenschaft ‹ erläutert.
Mit dem Ziel einer Internationalisierung sowie Modernisierung der Geisteswissenschaften entstand das Konzept der Kulturwissenschaften. Nach dem Soziologen Max Weber (1864-1920) sind die Kulturwissenschaften ein Komplex aller wissenschaftlichen Disziplinen, welche sich mit den Handlungen des menschlichen Lebens unter Berücksichtigung ihrer Kulturbedeutung beschäftigen. Seit Mitte der 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts existiert in Deutschland neben dem disziplinübergreifenden Begriff der Kulturwissenschaften auch die ›Kulturwissenschaft ‹ als Einzelfach mit inter-, bzw. transdisziplinärer Ausrichtung.[2] Für die junge Disziplin existieren aufgrund ihrer Vielseitigkeit eine unüberschaubare Menge an Definitionen und Erklärungsversuchen. Hier sei nur eine vorgestellt:
»Kulturwissenschaft erforscht die von Menschen hervorgebrachten Einrichtungen, die zwischenmenschlichen, insbesondere die medial vermittelten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren Werte- und Normenhorizonte. […] Da es nicht ‹die› Kultur, sondern viele Kulturen gibt, ist die Kulturwissenschaft mit multi- und interkulturellen Überschneidungen konfrontiert. Sie verfährt deshalb auch immer kulturvergleichend. […]«[3]
Um einem Vergleich der Multi-, Trans- und Interkulturalität vornehmen zu können, ist es zunächst wichtig, den Kulturbegriff genauer zu betrachten. Dazu ist grundlegend zu untersuchen, von welchem Kulturbegriff innerhalb der jewiligen Theorien ausgegangen wird.
Die Arbeit besteht aus drei Kapiteln, die aufeinander aufbauen.
Im ersten Kapitel wird daher der Versuch unternommen vier moderne Kulturbegriffe zu untersuchen und diese miteinander zu vergleichen. Hier geht es zunächst um die Analyse der normativorientierten, totalitätsorientierten, differenzierungsorientierten sowie bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriffe. In einem zweiten Schritt kommen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser zur Darstellung.
Im zweiten Kapitel werden drei Modelle zur Erklärung kultureller Beziehungen erläutert. Hier geht es in der Hauptsache um die vergleichende Analyse der Multi-, Trans- und Interkulturalität. Am Beispiel dieser Modelle werden drei unterschiedliche Kulturbegriffe diskutiert, von denen sie ausgehen. Im Hinblick auf die Multikulturalität und die damit einhergehenden Herausforderungen werden die Ansätze von Horace Kallen und Charles Taylor dargelegt, die von einem homogenisierenden Kulturbegriff ausgehen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden miteinander kritisch in Beziehung gesetzt. Bei der Beschreibung der Transkulturalität wird der Ansatz von Wolfgang Welsch diskutiert, der eine grenzenlosen Kulturbegriff als Grundlage hat. Auf diesem Wege wird das Konzept der Transkulturalität am Beispiel der transkulturellen Pädagogik und Kommunikation verdeutlicht. Es erfolgt eine Betrachtung der Kritiker dieses Ansatzes wie zum Beispiel Bernhard Waldenfels und Ralf Elm. In einem weiteren Schritt wird auf die strukturellen Dimensionen der Interkulturalität eingegangen. Hierbei wird im Gegensatz zu den bereits vorgestellten und vorhandenen Kulturkonzepten ein offener und dynamisch-veränderbarer Kulturbegriff vorgestellt, der für die vorliegende Arbeit konstitutiv ist. Diese Auffassung von Kultur nimmt kulturelle Eigendynamik in den Blick und weist darauf hin, dass intrakulturelle Unterschiede in der Regel viel größer sein können als die Unterschiede zwischen den Kulturen. Auf diesem Kulturkonzept aufbauend werden einige Zugänge zur Interkulturalität besprochen.
Im dritten Kapitel werden praktische Aporien der interkulturellen Kommunikation thematisiert. Auf dem formulierten offenen Kulturbegriff aufbauend wird der Frage nachgegangen was interkulturelle Kommunikation ist bzw. nicht ist. An dieser Stelle wird Sprache als Mittel zur Kommunikation erläutert, wobei verschiedene Kommunikationsformen sowie Überlappungsort der Kommunikation zur Sprache kommen. Dies soll die Grundlage für die Vorstellung einer Reihe von Korrelatbegriffen der interkulturellen Kommunikation bilden. Es handelt sich hier um das Eigene und das Andere, die interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Semantik und interkulturelle Hermeneutik, interkulturelle Komparatistik, interkulturelle Toleranz sowie interkulturelle Ethik. Anschließend werden einige Fallbeispiele wie das Islambild in Deutschland sowie der Absloutheits- und Wahrheitsanspruch erläutert. In einem letzten Schritt wird der Versuch unternommen, Möglichkeiten der interkulturellen Kommunikation am Beispiel der Bildung herauszuarbeiten und die Funktion der deutschen Schulbücher zu beleuchten.
Die angeschnittenen Bereiche der vorliegenden Arbeit verstehen sich als ein Abriss und werden nur in soweit behandelt als diese für das Thema dieser Studie von Bedeutung sind. Für weitere Vertiefung habe ich in geeigneten Fußnoten darauf hingewiesen.
1. Moderne Kulturtheorien in Übersicht
Die Frage nach einer fundierten Definition von ›Kultur‹ ist leicht zu beantworten: Es existiert keine. Betrachtet man das komplexe und mehrdimensionale Phänomen Kultur, so kann man lediglich von Definitionen im Plural sprechen. Sie alle haben dennoch das Ziel den Sinn und die Bedeutung von Kultur, vor allem für den Mensch, zu erfassen. Für die folgende Arbeit sei jedoch eine Definition im Sinne eines Leitfaden vorgestellt:
»Kultur impliziert als ein offenes und dynamisch-veränderbares Sinn- und Orientierungssystem, wie die Beziehungen innerhalb einer Gruppe sowie deren Außenbeziehungen strukturiert sind und wie diese erfahren, verstanden und interpretiert werden. Kultur stiftet soziale Ordnungsrahmen und umfasst unter anderem politische Organisationen, Wirtschaftsformen, moralische Traditionen und das Streben nach Wissen und Kunst.«1
Zum Verständnis dieser Definition, welche als Ergebniss der stetigen Entwicklung kultureller Theorien zu betrachten ist, werden im Folgenden vier unterschiedliche Kulturbegriffe vorgestellt. Die Klassifizierung dieser erfolgte durch den Professor für vergleichende Kultursoziologie, Andreas Reckwitz.
1. 1. Eine vergleichende Begriffsbestimmung
1. 1. 1. Normative Orientierung
Bei dem normativen Kulturbegriff handelt es sich um die ursprüngliche Form des Kulturbegriffes. Mit der Aufklärung aufgekommen betrachtetet er Kultur, also die Lebensweise der Menschen, nicht mehr als selbstverständlich. Kultur gilt nunmehr als Zentralbegriff, da er maßgeblich zur kollektiven Verbesserung der Sitten beiträgt. Wichtig ist es dabei zu bemerken, dass die Bewertung die zu dieser Zeit mit der Bezeichnung des Begriffs einhergeht. Es handelt sich in diesem Zusammenhang bei Kultur um eine spezifische anzustrebende Lebensweise. Diese bezieht sich jedoch nicht nur auf eine räumlich oder zahlenmäßig begrenzte Gruppe, sondern auf die Menschheit im Allgemeinen. So existiert Kultur in der Definition des normativen Kulturbegriffs lediglich im Singular.[4] Nichtbeachtung oder gar Ablehnung anderer Lebensentwürfe, welche nicht den idealistischen Prinzipien der zu erstrebenden Kultur entsprechen, sind oft die Folge dieser eingeschränkten Sichtweise.[5]
Zu den bekannstesten Vertretern des normativen Kulturbegriffs gehört Immanuel Kant (1724-1804). Seine Kulturtheorie legt er in dem Aufsatz »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) dar. So ist der Mensch nach dem Philosophen sowohl zivilisiert als auch kultiviert. Doch wäre es anmaßend zu behaupten, dass wir bereits Kultur besäßen. Der Weg zur Kultur führt nach Kant über die Moral. Diese Stufe hat die Menschheit, also die Führung eines vollkommenen moralischen Lebens, jedoch noch nicht erreicht. Doch muss sie zwangsläufig das Ziel aller Menschen sein, da die Entwicklung der Gesellschaft der von Kant beschriebenen Naturabsicht folgt, welche als universell anzusehen ist.[6]
Bei dem deutschen Philosoph und Soziologen Georg Simmel (1858-1918) handelt es sich um einen weiteren bedeutenden Vertreter der normativen Orientierung. Er versteht Kultur als die endlose Auseinandersetzung zwischen dem menschlichen Subjekt und die durch seinen Geist geschaffenen Objekte.[7] »Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur«.[8] Nur indem der Geist seine Subjektivität verlässt, kann nach Simmel dieser Kampf überwunden werden. Nur mit Hilfe des beschriebenen Vorgangs kann er sich die objektiven Kulturgüter aneignen. Und erst ist dies vollendet, gelangt das Subjekt zu der von Simmel beschrieben Kultiviertheit.[9]
Der normative Kulturbegriff ist essentiell für das Verständnis der Entwicklung kultureller Theorien, vor allem da dieser als Grundlage der mit der Zeit entstanden weiteren Kulturbegriffe zu verstehen ist. Auch wenn er auf Grund seiner singulären Betrachtung von Kultur für die wissenschaftliche Analyse der Kulturen und ihrer Interaktionen heute nicht länger von Bedeutung ist.[10]
1. 1. 2. Totalitätsorientierung
Auch wenn der normative Kulturbegriff noch nicht vollkommen verschwunden war, so rückte im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert das vor allem in der amerikanischen Kulturanthropologie[11] bestimmende totalitätsorientierte Kulturkonzept immer stärker in den Fordergrund.[12] Im Gegensatz zum zuvor besprochenen, normativen Verständnis von Kultur wird nicht mehr eine für die gesamte Menschheit erstrebenswerte Lebensform skizziert. Vielmehr vergleicht der totalitätsorientierte Kulturbegriff historisch-spezifische Lebensweisen bestimmter Gruppen miteinander. Wichtig zu bemerken ist, dass dies ohne Wertung geschehen soll.[13] Denn nach den Vertretern dieses Kulturbegriffs, ist jede Kultur oder jede Gemeinschaft[14] individuell und kann nur an ihrem eigenen Maßstab gemessen werden.[15] Somit sind die unterschiedlichen Kulturen prinzipell als gleichberechtig zu betrachten. Für Kultur ist hier die Totalität der Lebensformen einer Gemeinschaft von zentraler Bedeutung. Der britische Ethnologe und Vertreter des totalitätsorientiereten Kulturbegriffs Edward B. Tylor (1832-1917) beschrieb dies wie folgt:
»Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und all jenen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.[...] Alles was nicht durch die Natur vorgegeben ist, wird damit zur Kultur.«[16]
Daher spricht man in diesem Zusammenhang oft auch von dem holistischen, also ganzheitlichen Kulturbegriff.
Johann Gottfried Herder (1744-1803) gilt als Urvater des totalitätsorientierten Kulturbegriffs. In Folge seiner Theorie verliert Kultur die universalistische Konnotation des normativen Kulturbegriffs. Nach Herder sind Kulturen als >Kugelgestalten< zu betrachten.[17] Diese sind in sich geschlossen und grenzen sich von dem Aüßeren ab.
»Der einzelne Akteur innerhalb des Kollektivs partizipiert allein an dem seiner Gemeinschaft zugehörigen ›Sinnsystem‹. «[18]
Die Kugelgestalten weisen nach Herder eine konstante Stabilität auf. Das bedeutet sie erweisen sich als unveränderlich und somit in sich homogen. Sie verhelfen den Angehörigen einer Kultur zudem zur Selbst- und Fremdwahrnehmung.[19] Auch wenn der totalitätsorientierte Kulturbegriff Kulturen wertfrei miteinander vergleichen will, wird doch eine Kultur oft in den Mittelpunkt gestellt beziehungsweise eine Kultur als höherentwickelt gegenüber einer Anderen angesehen.[20]
Ein solcher dann doch qualitativer Vergleich von Kulturen findet sich auch bei Tylor. Er teilt die spezifischen Lebensformen von Gruppen in Stufen ein. So sind nach ihm einige Kulturen in ihrer Entwicklung weiter fortgeschritten als Andere.
»Die gebildete Welt Europas und Amerikas stellt praktisch einen Masstab auf, wenn sie die eigenen an das eine Ende der socialen Reihe und die wilden Stämme an das andere Ende derselben stellt, während die übrige Menschheit innerhalb dieser Grenzen vertheilt wird, je nachdem sie mehr dem wilden oder mehr dem civilisirten Leben entspricht.«[21]
Hauptkriterien für die Entwicklung der Kulturen von der Wildheit zur zivilisierten Gesellschaft sind für Tylor die Kunst und Wissenschaft.[22]
Totalitätsorientierte Kulturbegriffe und ihre Vorstellung von Homogenität der Kulturen können zum Nährboden für die Forderung nach Rassentrennung werden und sind somit kritisch zu betrachten.[23]
1. 1. 3. Differenzierungstheoretische Orientierung
Der differenzierungstheoretische Kulturbegriff unterscheidet sich maßgebeblich von den zuvor besprochenen. Während Wissenschaftler wie Herder und Tylor versuchten den Umfang der Kulturdefinition zu erweitern, beschränken sich die Vertreter der differenzierungstheoretischen Ausrichtung lediglich auf die künstlerischen sowie intellektuellen Bereiche des menschlichen Lebens. Die Deutung der daraus entstehenden künstlerischen und intellektuellen Objekte innerhalb einer Gesellschaft hat sich vollständig aus der normativen Tradition gelöst und ist somit wertfrei.[24]
Einer der Vertreter dieses Kulturbegriffes ist der deutsche Soziologe Friedrich Tenbuck (1919-1994). Die Entstehung der menschlichen Kultur ist für ihn als Folge der Verhaltensunsicherheit des Menschen einzuordnen. Im Gegensatz zum Tier habe der Mensch seine Instinkte und somit die Orientierung in der Natur verloren. Die Kultur ist als Kompensation dieser Unsicherheit zu betrachten. Bei der Produktion von Kultur reagiert er nicht auf Gegebenheiten, sondern deutet diese symbolisch mittels seines Handelns.
»Deshalb ist sein Tun und Lassen, von geringen und vagen Instinktresten abgesehen, kein von Natur festgelegtes Sichverhalten, sondern ein durch Sinn und Bedeutung verfaßtes Handeln.«[25]
Die an den differenzierungstheoretischen Kulturbegriff angelehnten Theorien beziehen erstmals die Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft bzw. Gruppe in die Definition dieser mit ein. So auch die von Tenbuck.
Da Tenbuck die Enstehung von Kultur auf das Handeln der Menschen bezieht, haben die daraus folgenden Produkte Urheber. Somit ist nach dem Soziologen die Gesellschaft in Kulturproduzenten und Kulturabnehmer einzuteilen.[26]
»Bis zurück in die einfachste Form finden sich 'Kulturproduzenten', die mit der Aufgabe betraut sind, die bleibenden Mächte und Ordnungen zu bennen und kraft dieser Kenntnis die jeweiligen Lagen zu deuten.«[27]
Auch die beiden Mitglieder der Frankfurter Schule Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) stützen ihre Kultur- bzw. Medientheorie auf die Unterteilung der Gesellschaft in Kulturproduzenten und -rezipienten. Verläuft bei Tenbuck diese Einteilung prinzipiell wertfrei, so lässt sich bei Horheimer und Adorno eindeutig von einer Kulturtkritik sprechen. Nach ihnen habe die ›Kulturinustrie‹, als Mittel der Herrschendem, lediglich das Ziel die breite Masse auzubeuten und zu unterdrücken. Durch den nie endenen Fluss an Unterhaltungsangeboten werde das Volk von seinen tatsächlichen Bedürfnissen abgelenkt und somit entpolitisiert.[28] Bei diesem Prozess würden die Produkte bewusst trivial gehalten, um den Zuschauer gedankenlos zu lassen. Indem der Rezipient sich von der ›traumlosen Kunst‹ vergnüt zeigt, ist er nach den Soziologen automatisch einverstanden mit seiner Unterdrückung.[29]
»Bekämpft wird der Feind, der bereits geschlagen ist, das denkende Subjekt. «[30]
Auch wenn es als positiv zu erachten ist, dass der differenzierungstheoretische Kulturbegriff Kulturen wertneutral behandelt, übersieht er womöglich wichtige Dimensionen von Kultur, welche außerhalb des intellektuellen oder künstlerischen Bereichs liegen.
1. 1. 4. Bedeutungs- und Wissensorientierung
Der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff, bildet die theoretische Grundlage der derzeitigen kulturwissenschatlichen Ansätze innerhalb der Geisteswissenschaften.[31] Er »umfasst ein Konzept, nach dem Akteure die Bedeutung ihrer Handlungen mit symbolischen Ordnungen identifizieren und die Bedeutung dieser Handlung auf Strukturen beschränken«.[32] Eine Definition, die dieses Kulturverständnis gut umschreibt, ist von Max Weber:
»›Kultur ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.«[33]
Der Kulturbegriff des amerikanischen Etnologen Clifford Geertz (1926-2006), welcher grundsätzlich semiotischer Natur ist, baut auf dem gerade formulierten Verständnis von Weber auf. Geertz zu Folge ist der Mensch in ein selbtgesponnenes Bedeutungsgewebe verstrickt, welches als Sinnbild für die Kultur steht. Bei seinem Versuch der Erklärung dieses Phänomens betont er, dass Kultur nicht ausschließlich anhand von Gesetzen zu erfahren sei. Man müsse nach ihrer Bedeutung suchen, diese also interpretieren.
Aus dieser Grundhaltung heraus entsteht seine Forderung nach einer ›dichten Beschreibung‹ der Dinge.[34] Geht es um die Ordnung der Wirklichkeit sprechen die Vertreter des bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriffs oftmals von symbolischen ›Codes‹[35]. Dieser Begriff findet sich auch im Werk von Geertz. Er erläutert am Beispie des Augenzwinkerns. So ist ein Zwinkern zunächst einmal ein Zucken des Auges. Erst mit der Entstehung eines öffentlichen Codes wird es zu einer bewusst genutzten Gebärde und damit zum Teil von Kultur.[36]
Ein notwendiges Element bei der Interpretation von Kultur ist für Geertz die ›Einnahme der Perspektive des Handelnden‹.[37] Die Eigenperspektive abzulegen, erweist sich jedoch nicht immer als unproblematisch. Ein Beispiel für die damit einhergehende Problematik findet sich in seiner Analyse des ›common sense‹ wieder. Jener ist als kulturelles System zu betrachten und ist somit nicht auf gleiche Weise in den unterschiedlichen Kulturen zu finden. Er erörtert dies unter Anderem am Beispiel der Intersexualität. So waren z.B. die Römer der Ansicht Zwitter seien von den Göttern verflucht. Die Navaho hingegen glaubten ihnen sei ein göttlicher Segen zuteil geworden. Das zeigt die kulturelle Abhängigkeit von Deutungen.[38]
» Common sense ist nicht das, was dem Verstande spontan einleuchtet [...] er ist das Ergebnis, die der Verstand aus gewissen Vorannahmen ableitet. [...]«[39]
Die wohl bedeutenste Erneuerung der Kulturdefinitionen im Zuge des bedeutungs- und wissensorientieren Ansatzes, ist die Abkopplung des Kultur- vom Gesellschaftsbegriff. Die Subjekte sind zwar weiterhin notwendig die Träger sozialer Praktiken, doch »das einzelne Subjekt kann an verschiedenen Komplexen sozialer Praxis partizipieren, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher, [...] Sinnhorizonte vollzogen werden.«[40] So macht nicht nur ein einziger Sinnhorizont das Denken eines Subjekts aus und eben dieses Denken muss nicht identisch sein mit der Denkweise des Kollektivs, in Welchem sich das Subjekt bewegt.[41]
1. 2. Konzeptionelle Divergenzen und Konvergenzen
Im Folgenden sollen noch einmal kurz die wichtigsten Charakteristika der zuvor beschriebenen Kulturbegriffe dargelegt werden. In Zuge dessen soll dann vor Allem auf die jeweiligen Konvergenzen wie auch Divergenzen der Begriffe hingewiesen werden.
Der normativorientierte Kulturbegriff weist die auffälligsten Unterschiede zu den restlichen hier vorgestellten Begriffen auf. Im Gegensatz zu diesen spricht er von Kultur noch im Singular. Für diesen universalistische Anspruch von Kultur existiert nur ein bestimmter Lebensentwurf. Alles was von diesen vorgegebenen Normen abweicht wird nicht anerkannt und ist in den Augen der Vertreter des normativorientierten Kulturbegriffs nicht als Kultur zu betrachten. Auch wenn die verschiedenen Lebensentwürfe von Gesellschaften nicht zwangsläufig als gleichwertig betrachtet werden, so erkennen die restlichen hier vorgestellten Begriffe von Kultur die Pluralität dieses Phänomens immerhin an. Auch wenn sich der totalitätsorientierte Kulturbegriff auf einen angeblich wertfreien Vergleich von Kulturen beruft, kann er sich wie gezeigt nicht völlig von einem normativen Moment freisprechen. Denn bei de Vergleich wird letztlich stets eine bestimmte Kultur in den Mittelpunkt gestellt und damit zum Maßstab gemacht.
[...]
[1] Mohanty, J. N.: Den anderen verstehen, 1993, S. 117.
[2] Vgl. hierzu Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006.
[3] Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft, 2007, S. 104.
1 Hamid Reza Yousefi/Ina Braun: Interkulturalität, 2011, S. 10.
[4] Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, S. 65ff.
[5] Vgl. Hamid Reza Yousefi/Ina Braun: Interkulturalität, 2011, S.14.
[6] Vgl. Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1969, S. 28ff; 38.
[7] Simmels Kulturverständnis findet sich in seinem Aufsatz »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«.
[8] Simmel, Georg: Philosophische Kultur, 1983, S. 183.
[9] Wie der Titel von Simmels Werk jedoch bereits andeutet mündet diese in einer Tragödie der Kultur. Ein Beispiel hierfür ist das Eigenleben des geschaffenen Werkes - ist es einmal geschaffen hat das Subjekt es nicht mehr in der Hand wie sich dieses weiterentwickelt, so kann es zu einer Entfremdung des Objekts vom Subjekt kommen.
[10] Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, S. 71.
[11] Vgl. hierzu Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie- die Wissenschsft vom kulturellen Fremden, 1993.
[12] Vgl. Sommer, Roy: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, 2008, S. 395f.
[13] Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, S.72.
[14] Kultur ist im Sinne des totalitätsorientierten Kulturbegriffs gleichzusetzen mit der Gruppe also der Gesellschaft von der sie gelebt wird. Vgl. Ebenda, 2001, S. 186.
[15] Vgl. Reckwitz, Andreas: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff, 2001, S. 186.
[16] Tylor Edward: Die Anfänge der Cultur, 2005, S. 1.
[17] Vgl. hierzu Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Menschheit, 1903.
[18] Reckwitz, Andreas: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff, 2001, S. 186.
[19] Vgl. Reckwitz, Andreas: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff, 2001, S. 186.
[20] Diese qualitative Einordnung der Kulturen ist ein Überbleibsel aus der Tradition des normativen Kulturbegriffs Vgl. Hamid Reza Yousefi/Ina Braun 2011, S. 16.
[21] Tylor Edward: Die Anfänge der Cultur, 2005, S. 26.
[22] Vgl. Ebenda, S. 27.
[23] Wichtig hierbei zu bemerken ist, dass auch wenn Herder die Kulturen miteinander vergleicht macht er bei der Menschheit keinen Unterschied. So heißt ein Kapitel in seinem Buch Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menscheit »In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint, so ist's doch überall ein und dieselbe Menschengattung«. Hamid Reza Yousefi/Ina Braun: Interkulturalität, 2011, S. 18.
[24] Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, S. 79.
[25] Tenbruck, Friedrich: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 1989, S. 15.
[26] Vgl. Ebenda, S. 15; 53.
[27] Tenbruck, Friedrich: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 1989, S. 53.
[28] Vgl. Schicha, Christian: Kritische Medientheorien, 2003, S. 108f.
[29] Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horckheimer: Dialektik der Aufklärung, 1981, S. 146; 167.
[30] Ebenda, S. 172.
[31] Vgl. Sommer, Roy: Metzler Lexikon, 2008, S. 396.
[32] Hamid Reza Yousefi/Ina Braun: Interkulturalität, 2011, S. 21.
[33] Weber, Max: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 180.
[34] Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, 1983, S.9f.
[35] Vgl. Reckwitz, Andreas: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff, 2001, S. 186.
[36] Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, 1983, S.11.
[37] Ebenda, 1983, S. 21.
[38] Vgl. Ebenda, S. 265; 271ff.
[39] Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, 1983, S. 275.
[40] Reckwitz, Andreas: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff, 2001, S. 187.
[41] Vgl. Ebenda, S. 187f.