Leseprobe
Formen der Wahrnehmung in Georg Büchners Erzählung „Lenz“
In der Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner, geht es um den psychisch kranken Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz, welcher nach seiner Flucht aus seinem Heimatort von Johann Friedrich Oberlin, einem Pfarrer und Sozialreformer in Waldbach, aufgenommen wird und dort unter dem Schutz und der Obhut Oberlins eine Weile sein Leben verbringt. Allerdings kommt auch dort seine Krankheit zum Ausbruch, was durch seine Art wahrzunehmen begründet ist.
Um etwas über die Wahrnehmungen der Geschichte herauszufinden, sollte man erst einmal definieren, was man unter Wahrnehmung versteht. Laut der Online- Encyclopedia Encarta ist sie ein „Prozess der Verarbeitung der von einem Sinneskanal (...) aufgenommenen Informationen über die Beschaffenheit der physischen Welt zum Zweck der adaptiven (...) Steuerung des Handelns“[1]. Allerdings kann dieser Prozess auch gestört sein, sodass es zu einer selektiven oder auch verschobenen und somit einer falschen Wahrnehmung kommt, was wiederum die vernünftige „Steuerung des Handelns“ beeinträchtigt.
Aber wer bestimmt, welche Wahrnehmung richtig und welche falsch ist? In der vorliegenden Erzählung ist es vermutlich die Gesellschaft, die durch Konventionen die Richtung vorgibt. Es könnte eine andere Variante der Geschichte zustande kommen bzw. rekonstruiert werden, wenn diese Konventionen verändert würden, dann könnte sich die Wahrnehmung umkehren und die Sichtweise von Lenzens wäre womöglich sogar die richtigere. Die Sinne von Lenz funktionieren zwar richtig, bei ihm ist aber der Prozess der Verarbeitung der aufgenommenen Informationen manchmal gestört, deshalb nimmt er anders wahr als andere Menschen. In der Geschichte wird besonders seine eigene Wahrnehmung durch verschiedene Formen dargestellt, da aus seiner Sicht berichtet wird, was dem Geschehen außerdem einen ganz bestimmten Charakter verleiht und auch zum Untersuchungsgegenstand werden soll.
Das Erzählte wird durch Wahrnehmung in der Geschichte auf eine bestimmte Weise thematisiert und es werden verschiede Akte der Wahrnehmung durch die histoire- und discours- Ebene konstituiert. Diese sollen im folgenden analysiert werden.
Zuerst soll die histoire- Ebene erforscht werden, d.h. es wird untersucht, was in der Geschichte erzählt wird.
Die Konfiguration der Figuren lässt sich durch die genauere Betrachtung der einzelnen Geschehensmomente erschließen. Der Protagonist bzw. die Hauptfigur ist ganz klar Lenz, was schon durch die Betitelung der Erzählung „Lenz“ deutlich wird. Er hat eine selektive, nichtnormale Wahrnehmungsweise, da er psychisch erkrankt ist. Durch seine Flucht nach Waldbach will er versuchen, dort ein anderes, ruhigeres Leben als sein altes zu führen, was ihm zunächst auch gelingt, aber im Laufe der Geschichte nicht mehr möglich zu sein scheint. Lenz hat viele gegensätzliche Eigenschaften, er kann in einem Moment gleichgültig und ruhig, im nächsten wiederum erregt und nervös sein. Oft überfällt ihn eine panische Angst, er kann nicht schlafen und schließlich ist ihm oftmals auch langweilig. Lenz vertraut sich Oberlin in Gesprächen voll und ganz an und hört auch meistens für eine gewisse Zeit auf diesen, beispielsweise als Oberlin ihn bittet nicht mehr zu baden usw.
Die zweite Hauptperson ist Oberlin, er wirkt beruhigend auf Lenz und wird sozusagen als Helfer in der Not beschrieben: „[...] er wies zurecht, gab Rat, tröstete.“[2] Außerdem verhilft er den Leuten im Ort zur Selbsthilfe. Aber auch er erschrickt in den Momenten, in denen Lenz „ausbricht“ und versucht sich umzubringen. Er ist sehr um ihn besorgt und bleibt sehr geduldig mit Lenz, wird aber auch einmal unwillig, als Lenz ihm erklärt, dass es ihm zu langweilig sei sich umzubringen. Die Gespräche mit Lenz sind für Oberlin „angenehm und das anmutige Kindergesicht Lenzens machte ihm große Freude.“[3]
Zwischen Lenz und Oberlin besteht also ein ungleichwertiges Relationsgefüge. Oberlin liebt Lenz zwar und sieht es als ein Schickung Gottes ihn aufgenommen zu haben, aber Lenz hat für ihn genauso viel Wert wie seine anderen Schützlinge, die er in Notfällen zu versorgen hat, wenn er auf Reisen geht.
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[1] URL: http://de.encarta.msn.com/encyclopedia_761571997/Wahrnehmung.html
[2] Georg Büchner, Sämtliche Dichtungen: Dantons Tod. Leonce und Lena. Woyzeck. Lenz, Fikentscher Verlag, Leipzig, 1929, S. 208
[3] ebd.