Die Bagdadbahn

Geschichte einer umstrittenen Bahnstrecke durch das Osmanische Reich zwischen 1888 bis 1903


Hausarbeit, 2005

31 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Chronologie
2.1. Bahnbau in der Türkei vor 1888
2.2. Die Anatolische Eisenbahn 1888-1896
2.3. Die Bagdadbahn

3. Ziele
3.1. Die Deutsche Bank
3.2. Reichskanzler Bismarck
3.3. Die deutsche Diplomatie der wilhelminischen Epoche
3.4. Sultan Abdul Hamid II.

4. Reaktionen
4.1. England
4.2. Russland
4.3. Frankreich

5. Resümee

6. Literatur

7. Anhang

1. Einleitung

Wenn man sich heutzutage in der sich auf den EU-Beitritt vorbereitenden Türkei auf die Spuren der legendären Bagdadbahn macht, so wird man dort wohl nur noch von den älteren Generationen brauchbare Auskünfte über das einstige Mammutvorhaben bekommen. Was früher von den Engländern als akute Gefährdung Indiens gefürchtet, von Russland entgegen der eigenen Ziele um die strategisch wichtigen Meerengen wegen der Stärkung der Türkei verpönt, von Frankreich nur zeitweise widerwillig unterstützt, von der Türkei selbst als Strohhalm zur Erhaltung des porösen Staates angesehen und von Deutschland zu einem Symbol von Weltmachtstellung heraufstigmatisiert wurde, ist für die heutige Bevölkerung des ehemaligen Konstantinopels und des anatolischen Hinterlandes weitgehend ohne Belang. Der oft liegen bleibende Zug in Richtung Morgenland gleicht vielmehr einem „Gespenster-Expreß“[1] und die so genannten Posta Treni (Postzüge) verkehren nur schleppend auf den maroden Krupp -Schienen.

Kaum zu glauben, dass das mittlerweile vollkommen unrentable Transportsystem Anfang des letzten Jahrhunderts in Medien, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für dermaßen Furore sorgte, dass ihm später (ob berechtigt oder nicht) sogar eine Teilschuld am Kriegsausbruch im Juli 1914 gegeben wurde. „Die Bahnstrecke, die einmal das Rückgrat der damaligen Türkei bilden sollte“[2], war jedoch gerade um die Jahrhundertwende zum 20. Säkulum in aller Munde, galt als ein heiß und hitzig diskutiertes, ja schon delikates Thema, welches Großmächte, Kleinmächte, Presse, Wirtschaftsbosse und Hochfinanz in Atem hielt. In einer Hochphase des Kolonialismus, in einer Ära, die weithin mit der oft leichtfertig benutzten Bezeichnung Imperialismus betitelt wird, war die Lokomotive, die einen „new short cut to the East“[3] eröffnete, reinster Zündstoff im leicht entflammbaren Konglomerat fiebriger Gemüter und Mentalitäten, welche die Atmosphäre in Europa und an seiner Peripherie erhitzten. Was zu jener Zeit nicht alles debattiert wurde: Die deutschen Gazetten proklamierten den Drang nach Osten, wohingegen in England eine aggressive, ebenso hartnäckige und als „anti-german fever“[4] bekannte Pressekampagne gegen selbiges Vorhaben lief, welche so einflussreich war, dass sie selbst den 1903 amtierenden Premierminister Balfour zu einer Kehrtwende in Fragen der Beteiligung an dem deutschen Bahnprojekt zwang. Gerade für das wilhelminische Deutschland und das edwardianische England wurde die Bagdadbahn „mehr als nur eine Spezialfrage von lokalem Charakter“[5], sondern zeigte sich in ihr, nach Ansicht Friedrich Heinz Bodes, das „gesamte deutsch-englische Verhältnis der Vorkriegszeit […] mit all seinen Spannungen, Irrungen, Unklarheiten, seinem Nichtverständnis für die Belange des Anderen, seinem gegenseitigen Misstrauen und […] den niedrigen Gehässigkeiten.“[6]

Aber auch außerhalb von Foreign Office und Wilhelmstraße funkte es gewaltig: Russland beispielsweise stand dem Projekt stets skeptisch, bisweilen feindlich gegenüber und versuchte, ihm Steine in den Weg zu legen, um dessen türkeierhaltenden Effekt entgegenzuwirken. Frankreich machte ebenfalls mobil gegen die Bahn, hielt sich dann aber von Zeit zu Zeit mit einer „benevolenten Neutralität“[7] gekonnt zurück. Selbst beim Kranken Mann vom Bosporus waren die Bauarbeiten nicht selten umstritten. Von Sultan Abdul Hamid II. und den pro-deutschen Militärkreisen zwar unterstützt, sponnen konspirative Gruppen und Personen in Konstantinopel, wie der Schwager des mächtigen osmanischen Despoten Mahmud Pascha fortwährend Intrigen, um das Projekt zu Fall zu bringen. Trotzdem hielt die Hohe Pforte die Bagdadbahn für notwendig, um das schwächelnde Reich vor der immer wieder anberaumten Aufteilung durch die Großmächte zu bewahren. Seit den demütigenden Niederlagen im 18. Jahrhundert begann ein schrittweiser Machtverfall, der mit Reformversuchen (tanzîmât) gepaart war und mit einer gewaltigen Finanzkrise einherging. Bereits „nach den ersten großen Auslandsanleihen während des Krimkrieges [konnten die Staatsfinanzen] nicht mehr ins Gleichgewicht gebracht werden“[8] und der Staatsbankrott von 1875 war vorprogrammiert. „The steady growth of Balkan nationalism, the relentless pressure of European imperialism, and the devastation of the Great War gradually reduced to ruins the once great empire of Suleiman the Magnificent.”[9] Das multinationale Reich wurde von innen und außen bedroht und suchte schließlich einen “mächtigen Freund im Kreise der Pentarchie”[10], der zumindest offiziell jedes territoriale Interesse an dem porösen Staat dementierte. Die Macht aus dem europäischen Konzert, die hierfür relevant wurde, war Deutschland, welches durch die Stimme Bismarcks bereits 1876 verlauten ließ, dass es in der Türkei „kein Interesse sehe, welches auch nur die Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre.“[11] Und überhaupt: Sind Deutschland und die Türkei nicht „seit die Donau ins Schwarze Meer fließt […] [dazu] gezwungen, in einem sich ergänzenden Wirtschaftsraum zu leben“[12] und waren regelrecht prädestiniert dazu, miteinander zu kooperieren? Was aber auch immer grundlegend für die deutsch-türkische Zusammenarbeit war, jeder Schritt, den Berlin in Konstantinopel tat, wurde aufmerksam verfolgt und machte das Reich in Zentraleuropa verdächtig – wollte der Adler etwa den Halbmond unter sich subsumieren? War der ehrgeizige Tatendrang in Sachen Bahnbau, der „in typisch imperialistischer Manier die Expansion vorantrieb“[13] (oder vorantreiben sollte), überhaupt ein politischer Akt oder nur als wirtschaftliches Interesse der Hochfinanz anzusehen? Und wenn, ist ein solch starkes Eindringen in die Belange und Interessenssphären anderer in einer Zeit in der sich die Politik mit der Wirtschaft enorm verquickte und gleichzeitig von nationalistischem Großmachtstreben aufgeladen war, a priori politisch?

Im Folgenden sollen anberaumte Fragen ein stückweit geklärt werden, wobei auch besonders die wechselseitigen Interessen der verschiedenen Protagonisten in Europa sowie im Orient ins Auge gefasst werden. Im Anschluss an die nun fast schon zu ausführlich gewordene Einleitung soll zunächst aber die Geschichte der Bagdadbahn chronologisch aufbereitet werden, um den nötigen Backround für weitere Ausführungen zu legen. Hierbei soll die wesentliche Priorität den Zeitraum von etwa 1888 – dem Jahr der ersten Konzessionserteilung – bis 1903 – dem Jahr der endgültigen Konzessionserteilung – umfassen. Darauf aufbauend sollen dann die Ziele der einzelnen Teilnehmer am Projekt Bagdadbahn unter die Lupe genommen werden, wobei Georg von Siemens mit seiner Deutschen Bank, Otto von Bismarck als Vertreter einer Ära „im Zeichen der Saturiertheit“[14], die staatlichen Führungskreise der wilhelminischen Epoche um den Kaiser selbst, den Staatssekretär und späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow und den Botschafter in Konstantinopel Baron Marschall von Bieberstein sowie der türkische Machthaber Abdul Hamid II. im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Danach wird der Blick etwas weiter über den projektinhärenten Tellerrand hinaus gewendet, um ein konkretes Bild der Reaktion der europäischen Großmächte England, Russland und Frankreich auf den Neuankömmling in ihrem Einfluss- und Interessengebiet zu zeichnen. Der abschließende Teil soll schließlich einem Resümee dienen, welches das Ermittelte möglichst kurz und bündig auf einen Punkt bringen und es in Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch von 1914 setzen will.

2. Chronologie

2.1. Bahnbau in der Türkei vor 1888

An den Schlusspuffern der Bagdadbahn im Bahnhof von Haidar Pascha stehen in „edlen Lettern“[15] die Worte, die Mustafa Kemal – der spätere Atatürk – den türkischen Eisbahnern zurief: „Eisenbahnen garantieren den Schritt in Richtung Zivilisation“[16]. Doch in Richtung welcher Zivilisation sollte der Schritt für die Türkei im 19. Jahrhundert gehen? Diente der Bahnbau im Osmanischen Reich eher den grenzenlosen Ausbeutungsgelüsten der europäischen Zivilisationen[17], als dem Aufbau einer eigenen? Bevor hierüber diskutiert werden soll, wollen wir zunächst aber schauen, wie es überhaupt zu der Idee kam, in dem riesigen Sultanat Gleise zu verlegen und wie dies verwirklicht wurde.

Chronologisch gesehen begann die Geschichte des Bahnbaus in der Türkei in den 1830ern, als der Engländer Francis Chesney den Plan einer Transversalstrecke vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf entwarf. Produkt seiner Überlegungen war die Euphrates Valley Railway, welche immer wieder in der britischen Öffentlichkeit auftauchte, aber aufgrund des 1869 eröffneten Suezkanals als Verbindungslinie nach Indien keine Rolle mehr für die angelsächsische Politik spielte und somit, laut Hoskins, zu einem Ding der Vergangenheit, zu einer reinen Vision wurde.[18] In dieser Phase, die der NS-Historiker Reinhard Hüber mit dem Attribut „vorbereitend“[19] versieht, passierte jedoch neben verhalten artikulierten Plänen recht wenig. Erst als sich der türkische Staat nach dem gewonnenen Krimkrieg 1856 dazu gezwungen sah, seinen Markt für ausländische Investoren weiter zu öffnen und noch mehr Anleihen aufnahm, um den stark angeschlagenen Staatshaushalt zu sanieren, wurde die Region für europäische Eisenbahner attraktiv. Der gewünschte Effekt – eine erstarkte Wirtschaft durch Kapitalimport – blieb jedoch aus. Dem eindringlichen Wunsch des tanzîmât -Rats vom 9. September 1854 nach „großen Verbindungsarterien und ein[em] Netz von Eisenbahnen, die von landwirtschaftlichen Gegenden des Landes ausgehend, an den Meeren enden sollen, indem sie die ergiebigsten Provinzen durchziehen“[20], wurde zwar gewissermaßen stattgegeben, der daraus resultierende Profit wanderte jedoch nicht in osmanische Taschen, sondern füllte die Portemonnaies der europäischen Eindringlinge. Die ersten Bahnlinien, wie die zunächst von englischen, später von französischen Finanziers betriebene und 1856 eröffnete Smyrna - Aydin -Strecke, sind vielmehr als Stichbahnen zu verstehen und sollten möglichst viele Rohstoffe aus dem ertragreichen Landesinneren an die Küsten bringen, um dort verschifft zu werden. Karl Helfferich bezeichnet sie dementsprechend als mehr an westeuropäischen, denn an türkischen Interessen orientiert.[21]

Erste Bahnlinien entstanden zu jener Zeit auch in der europäischen Türkei, welche mittels des legendären Orientexpress Konstantinopel mit Wien und dem europäischen Eisenbahnnetz verbanden. Finanziert wurde das Projekt durch den als Türkenhirsch bekannten Baron Moritz von Hirsch, welcher ab 1869 die entsprechenden Gleise verlegen ließ. Das Interesse des damals amtierenden Sultans Abdul Asis schweifte jedoch bald weitaus weiter und schon er war, wie der tanzîmât -Rat es 1854 gefordert hatte, auf „große Verbindungsarterien“[22], die das anatolische und arabische Hinterland umspannen sollten, erpicht. Hierfür ernannte er 1872 den deutschen Ingenieur Wilhelm von Pressel, der bereits Hirschs europäisches Eisenbahnnetz konzipiert hatte, zum Generaldirektor der türkischen Eisenbahnen in Asien. Dieser machte sich alsbald daran, unzählige „Entwicklungsbahnen“[23] zu planen, wie der NS-Historiker Reinhard Hüber aus dem „vierten Kriegsjahr des zweiten Weltkrieges“[24] stolz zu berichten weiß: „Die anderen Ausländer hatten […] immer nur ‚Ausbeutungsbahnen’ im Sinne gehabt. Pressel war ein Deutscher. Mit ihm begann der Gedanke der türkischen ‚Entwicklungsbahnen’ durchzubrechen, den später die anderen Deutschen fortführten.“[25] Das Deutschland ebenso wie die anderen Großmächte nicht im Geringsten daran dachte, „Jahrzehnte uneigennütziger intellektueller Arbeit“[26] in die Türkei zu stecken, um das instabile Konstrukt aus reiner Nächstenliebe zu konsolidieren, ist jedoch unabstreitbar.

Nach dem verheerenden Staatsbankrott von 1875 kam im Jahr darauf Abdul Hamid II., von dem der britische Botschafter in Konstantinopel Sir Henry Layard zu dessen Amtsantritt sagte, dass er wie ein aufgeklärter Christ rede und keinen einzigen schlechten Charakterzug in sich trage[27] und den der ehemaligen britische Premier William Gladstone bei seinem letzten Auftritt in Liverpool zwanzig Jahre später einen „großen Mörder“[28] nannte, auf den osmanischen Thron. Er sah sich seitdem neben den finanziellen Sorgen auch immer wieder mit Angriffen auf die territoriale Integrität von Seiten der balkanischen Nationalbewegungen, aber auch aus Arabien und dem anatolischen Kernland konfrontiert. Die großen Entfernungen, die das Reich charakterisierten, taten ihr Übriges, um „die ohnehin nicht sehr stabile Machtstellung der Zentralregierung in Konstantinopel mehr und mehr zu schwächen.“[29] Abdul Hamid II. „war sich“, so der Georg von Siemens-Biograph und spätere Deutsche Bank -Chef Karl Helfferich „klar darüber, daß [daher] nur der Ausbau eines in sich zusammenhängenden und leistungsfähigen Eisenbahnnetzes die Türkei politisch und administrativ zusammenhalten, militärisch verteidigungsfähig und wirtschaftlich kräftigen könne“[30] und so beauftragte er den deutschen Generaldirektor in Diensten des Sultanats Wilhelm von Pressel, um einen Plan auszutüfteln, welcher eben das Mammutprojekt Bagdadbahn darstellen und „das riesige Türkenreich vom Bosporus bis zum Schatt-el-Arab wirtschaftlich und strategisch erschließen“[31] sollte. Bis 1888 konnte jedoch nur eine 93 Kilometer kurze Strecke entlang des Marmarameers von Haidar Pascha auf der asiatischen Bosporusseite bis an den Küstenort Ismit verzeichnet werden, welche aber bereits vor dem Staatsbankrott unter Baron Moritz von Hirsch 1872 vollendet wurde.

2.2. Die Anatolische Eisenbahn 1888-1896

Anno 1878 rief Reichskanzler Otto von Bismarck die europäischen Mächte nach Berlin, um dort in einem legendären Kongress als „ehrlicher Makler“ auftretend die Orientalische Frage nach der osmanischen Niederlage im Krieg gegen Russland und seine Verbündeten zu klären. Neben vielen territorialen Entscheidungen, die dem Sultan den Großteil seiner europäischen Besitztümer amputierten, kam man auch zu dem Schluss, dass es sinnvoll wäre, eine internationale Schuldenverwaltung für den kränkelnden Staat einzurichten, um der Gläubiger Geld zu sicher. 1881 wurde diese Schuldenverwaltung durch das so genannte Mouharrem-Dekret unter der Firma Conseil d’Administration de la Dette Publique Ottomane mit Sitz in Konstantinopel eingerichtet, verfügte sogleich „über mehr als ein Drittel der türkischen Staatseinnahmen, einschließlich deren Eintreibung“[32] und bildete eine Art „Nebenregierung im Osmanischen Reich“[33], die immerhin pünktlich zahlte und dadurch neue Investoren dazu anregte, ihre Kapitalien am Bosporus zu hinterlegen.

Durch diese Art von wirtschaftlicher Neubelebung drängte auch Abdul Hamid II. weiter auf ein neuerliches Tätigwerden bei der Erfüllung des Presselschen Plans und suchte zusammen mit seinem deutschen Generaldirektor händeringend nach möglichen Finanziers. Seitdem begann eine Phase der Verhandlungen mit potenziellen Geldgebern, die zunächst in der Hausbank der Dette Publique, der französischen Banque Ottomane, jedoch bevorzugt im Deutschen Reich gesucht wurden, da Berlin augenscheinlich kein akutes Interesse am türkischen Staat oder gar an dessen Zerstörung hatte. Zum einen ließ Bismarck ja noch 1876 sein berühmtes Wort vom „pommerschen Musketier“[34] verlauten und war auch sonst davon abgeneigt, seinen Bürgern einen Krieg mit Russland aufzubürden, nur um die Zukunft Bagdads zu sichern.[35] Durch die Einberufung des Berliner Kongresses rettete Bismarck darüber hinaus sogar die Existenz des altehrwürdigen Sultanats vor der anstehenden Einnahme Konstantinopels durch russische und bulgarische Truppen. Zum anderen galt auch ohne die grundsätzlich ablehnende Haltung des Reichskanzlers in orientalischen Fragen, ein Zusammenbruch des Osmanischen Reiches als gänzlich unvorteilhaft für Deutschland: Nicht nur, dass Bismarck den Status Quo erhalten und jede gravierende Veränderung verhindern wollte, auch den aufstrebenden weltpolitisch ausgerichteten Kreisen galt eine starke Türkei als gutes Schutzschild gegen Russland und die in Ägypten und Indien stehenden Briten. „Es gibt für Deutschland im Grunde nur eine einzige Möglichkeit einem englischen Angriffskriege zu begegnen, und das ist die Stärkung der Türkei“[36], denn „je stärker die Türkei ist, desto gefährlicher ist es für England uns auf die Gefahr hin anzugreifen, daß die Türken sich an einem deutsch-englischen Konflikt auf Seiten Deutschlands beteiligen“[37], schrieb der bekannte deutsche Publizist und Orientreisende Paul Rohrbach wohlgemerkt 1903 – also zu einer Zeit, als das deutsche Großmachtstreben unlängst voll entbrannt war. Dies zeigt damit aber auch, dass Abdul Hamid II. selbst im Falle eines Abtrittes des alternden Reichskanzlers in den neuen Eliten keine direkten Feinde zu fürchten hatte, da eine starke Türkei gerade in deren Interesse lag.

Weiterhin brachte schließlich auch die seit 1880 im Sultanat tätige deutsche Militärmission die Osmanen – wie es John B. Wolf explizit betont – mit „deutschen Dingen, deutschen Methoden, deutscher Ausrüstung und deutschen Ideen“[38] zusammen, was, wie ich meine, jedoch nicht der aller ausschlaggebenste Faktor für die Bevorzugung deutscher Reichsbürger war, da besonders Frankreich die Türkei wirtschaftlich und kulturell viel länger und intensiver durchdrang. Dies könnte aber auch gerade als Pluspunkt für den „deutschen Unternehmergeist in der asiatischen Türkei“[39] gewertet werden, denn „Abdul Hamid II. had no desire to give further power to the already dangerously strong French interests and was eager to have German financiers […] take up the work of building and operating the railway which he wished to have developed.”[40]

Ebenso Großbritannien war beim Sultan weitgehend diskreditiert, denn dieser kam schon früh in Berührung mit den „skrupellose[n] Makler[n]“[41], die auch aus England in die türkischen Finanzen eingriffen und das sich bis zum Staatsbankrott heraufschaukelnde ruinöse Anleihenkarussell mit trugen. „Stichbahnen, die im Interesse [englischer] Rhedereien lediglich die westkleinasiatische Küstenlandschaften […] durchfurchten, hatten begründete Abneigung gegen englische Konzessionssucher erzeugt.“[42] Dennoch muss man sagen, dass ihm englische Investoren immer noch genehmer waren, als die zu einer oligopolen Stellung gelangten Franzosen oder gar die gänzlich feindlich gesinnten Russen. Mit den Worten Feroz Ahmeds kurz gesagt: „Abdülhamid hasste Russland, verachtete Frankreich, fürchtete England und bewunderte Deutschland.“[43]

[...]


[1] Lodemann, Jürgen: Mit der Bagdadbahn durch unbekannte Türkei, Edition Isele, Eggingen 1991, S. 14

[2] Gwinner, Arthur von, zit. in: Pohl, Manfred: Im Strudel der Politik vor hundert Jahren: die Bagdadbahn, in: ders.: Bank und Geschichte – Historische Rundschau, www.bankgeschichte.de, Zugriff: 26. Juli 2005

[3] Earle, Edward Mead: Turkey, The Great Powers and The Bagdad Railway, Macmillan, New York 1923, S. 3

[4] Landsdowne, Henry, zit. in: Brauns, Nikolaus: Die deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg 1914, www.deutsch-kurdische-gesellschaft.de/Hintergrund/BAGDADkomplett.htm, Zugriff: 11.Juli 2005

[5] Bode, Friedrich Heinz: Der Kampf um die Bagdadbahn 1903-1914, SCIENTIA-Verlag, Aalen 1982, S. VIII.

[6] Ebd.

[7] Earle, Edward Mead: Turkey, The Great Powers and The Bagdad Railway, Macmillan, New York 1923, S. 64

[8] Kreiser, Klaus et al.: Kleine Geschichte der Türkei, Reclam, Stuttgart 2003, S. 336

[9] Earle, Edward Mead: Turkey, The Great Powers and The Bagdad Railway, Macmillan, New York 1923, S. 7

[10] Kampen, Wilhelm van: Studien zur deutschen Türkeipolitik in der Zeit Wilhelms II., Kiel 1968, S. 16

[11] Bismarck, Otto von am 6. Dezember 1876 im Reichstag, zit. in: Manzenreiter, Johann: Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa (1872-1903), Brockmeyer, Bochum 1982, S. 192

[12] Die türkische Zeitung Cumhuriyet 1941, zit. in: Brauns, Nikolaus: Die deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg 1914, www.deutsch-kurdische-gesellschaft.de/Hintergrund/BAGDADkomplett.htm, Zugriff: 11.Juli 2005

[13] Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich, DVA, Stuttgart 1996, S. 210

[14] Ebd., S. 11

[15] Lodemann, Jürgen: Mit der Bagdadbahn durch unbekannte Türkei, Edition Isele, Eggingen 1991, S. 21

[16] Kemal, Mustafa, zit. in: Ebd.

[17] Vgl. Manzenreiter, Johann: Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa, Studienverlag Brockmeyer, Bochum 1982, S. 182

[18] Vgl. Hoskins, Halford Lancaster: British Routes to India, Philadelphia 1928, S. 450

[19] Hüber, Reinhard: Die Bagdadbahn, Junker und Dünnhaupt, Berlin 1943, S. 9

[20] tanzîmât -Rat, zit. in: Ebd., S. 10

[21] Helfferich, Karl: Georg von Siemens, Scherpe, Krefeld 1956, S. 152

[22] tanzîmât -Rat, zit. in: Hüber, Reinhard: Die Bagdadbahn, Junker und Dünnhaupt, Berlin 1943, S. 10

[23] Hüber, Reinhard: Die Bagdadbahn, Junker und Dünnhaupt, Berlin 1943, S. 15

[24] Ebd., S. 8

[25] Ebd., S. 15

[26] Grothe, Hugo: Die Bagdadbahn und das schwäbische Bauernelement in Transkaukasien und Palästina, Lehmann, München 1902, S. 3

[27] Vgl. Layard, Sir Henry, zit. in: Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis, KiWi, Köln 2005, S. 44

[28] Gladstone, William, zit. in: Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis, KiWi, Köln 2005, S. 59

[29] Pohl, Manfred: Von Stambul nach Bagdad, Piper, München 1999, S. 17

[30] Helfferich, Karl: Georg von Siemens, Scherpe, Krefeld 1956, S. 132

[31] Historische Gesellschaft der Deutschen Bank e. V.: Deutsche Bank 1970-1999 Calendarium, Darmstadt 1999

[32] Mommsen, Wolfgang: Der europäische Imperialismus, Göttingen 1979, S. 129

[33] Ebd.

[34] Bismarck, Otto von am 6. Dezember 1876 im Reichstag, zit. in: Manzenreiter, Johann: Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa (1872-1903), Brockmeyer, Bochum 1982, S. 192

[35] Vgl. Ders., zit. in: Lepsius, Johannes et al. (Hrsg.): Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1870-1914, Bd. 6, S. 1358

[36] Rohrbach, Paul: Die Bagdadbahn, Wiegand & Grieben, Berlin 1911, S. 18

[37] Ebd.

[38] Wolf, John B.: The Diplomatic History of the Bagdad Railroad, University of Missouri, Columbia 1936, S. 8

[39] Grothe, Hugo: Die asiatische Türkei und die deutschen Interessen, in: ders. (hrsg.): Der (neue) Orient, 9. Heft, Gebauer-Schwetschke, Halle a. S. 1913, S. 47

[40] Chapman, Maybelle Kennedy: Great Britain and the Bagdad Railway, Northampton 1948, S. 22

[41] Manzenreiter, Johann: Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa, Studienverlag Brockmeyer, Bochum 1982, S. 182

[42] Grothe, Hugo: Die Bagdadbahn und das schwäbische Bauernelement in Transkaukasien und Palästina, Lehmann, München 1902, S. 6

[43] Ahmed, Feroz, zit. in: Kreiser, Klaus et al.: Kleine Geschichte der Türkei, Reclam, Stuttgart 2003, S. 349

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Die Bagdadbahn
Untertitel
Geschichte einer umstrittenen Bahnstrecke durch das Osmanische Reich zwischen 1888 bis 1903
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Geschichtswissenschaften)
Veranstaltung
Das Osmanische Reich
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
31
Katalognummer
V207963
ISBN (eBook)
9783656352136
ISBN (Buch)
9783656353348
Dateigröße
1277 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Osmanisches Reich, Bagdadbahn, Bagdad Bahn, Istanbul, Konstantinopel, Deutsches Reich, Bismarck, Deutsche Bank, Siemens, Mächte, Erster Weltkrieg, Kaiser, Wilhelm II, Sultan, Bosporus, Hohe Pforte, Berlin, Russland, England, Bagdad, Irak, Persien, Syrien, Naher Osten
Arbeit zitieren
Markus Müller (Autor:in), 2005, Die Bagdadbahn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207963

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