Radikalisierung junger Muslime in Deutschland


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

22 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Definitionen
2.1 Definition Islamismus
2.2 Definition Islamischer Extremismus, Terrorismus, Ğihādismus
2.3 Aktueller Forschungsstand: Wie gelangt die Forschung an ihre Ergebnisse?

3 Motive der Radikalisierung für junge Islamisten
3.1 Der Szeneeinstieg
3.2 Zwischenfazit: Radikalisierungsprozess

4 Radikalisierungsfaktoren, die vom Aufnahmeland und der Aufnahmegesellschaft ausgehen

5 Beispielbiografien
5.1 Daniel Schneider - „Sauerland-Bomber“
5.1.1 Was führte zur Radikalisierung?
5.1.2 Folgen der Tat
5.2 Seyfullah S. - Mitglied der Kaplan-Sekte
5.2.1 Was führte zur Radikalisierung?
5.2.2 Folgen der Tat
5.3 Sa’īd - Selbstmordattentat in Israel
5.3.1 Was führte zur Radikalisierung?
5.3.2 Folgen der Tat
5.4 Radikalisierungsprozesse weiterer Extremisten und Terroristen

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Aus dem Verfassungsschutzbericht 2010 geht hervor, dass Ende 2010 29 bundesweit aktive islamistische Organisationen agierten. Mit 37.470 Anhängern ist das islamistische Personenpotenzial in Deutschland gegenüber 2009 (36.270) leicht angestiegen. Die mitgliederstärkste Gruppe mit 31.370 türkischstämmigen Anhängern bildet die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG). Gruppen mit arabischstämmigen Mitgliedern in Deutschland sind vor allem die Muslimbruderschaft (1.300 Anhänger) und die Ḥizb-Allāh (900 Anhänger).1 Diese und andere kleinere Gruppierungen bis hin zu Einzeltätern haben in den seltensten Fällen einen Bezug zur al-Qā’ida. Besondere Bedeutung kommt radikalisierten Muslimen der zweiten und dritten Einwanderergeneration sowie radikalisierten Konvertiten zu.2 Wie es zur Radikalisierung dieser jungen Muslime kommt, welche Faktoren eine Rolle spielen, werde ich im Rahmen meines Essays klären. Dabei werde ich mich großteils auf Deutschland beschränken, Vergleiche mit anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Spanien und Groß-Britannien finden sich aus Kapazitätsgründen nur selten.

Zusätzlich zur Frage, wie es zur Radikalisierung junger Muslime kommt, werde ich den Zusammenhang zwischen der Migrationspolitik und der Integration im Aufnahmeland sowie der Akzeptanz von Muslimen in der Aufnahmegesellschaft und der Radikalisierung der Muslime untersuchen. Dazu gebe ich zunächst einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand, nenne Radikalisierungsgründe für junge Muslime sowie die Voraussetzungen, die sie im Aufnahmeland vorfinden und versuche im zweiten Teil, die Gründe und Faktoren anhand einiger ausgewählter Biografien von Islamisten und islamistischen Terroristen zu belegen. Abschließend stelle ich kurz Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Radikalisierung von jungen gebürtigen Muslimen und Konvertiten dar und gebe einen Ausblick darauf, was zur Bekämpfung von Terrorismus getan werden könnte. Besonders geholfen bei meiner Arbeit haben mir die Studie Die Sicht der Anderen von Saskia Lützinger, die Biografien von Daniel und Sa’īd in Black Box Dschihad von Martin Schäuble sowie das Werk Radikalisierung in der Diaspora von Peter Waldmann.

2 Definitionen

2.1 Definition Islamismus

Der Begriff „Islamismus“ leitet sich ab von dem arabischen Wort „‘islāmīyun“ (Islamist), der Selbstbezeichnung der Anhänger des politischen Islam.3

In einem Bericht des Verfassungsschutzes heißt es: „Für Islamisten stellen die Schriften des Islam nicht nur religiöse Gebote dar (für die Beziehung zwischen Mensch und Gott). Sie werden vielmehr als (zwingende) politische Handlungsanweisungen gedeutet, die zudem häufig mit der Ermächtigung verbunden sind, als „islamisch“ definierte politische Ziele auch mit Gewalt zu verfolgen.“4

Islamisten setzen die Denkweise des islamischen Fundamentalismus in die Praxis um. Sie mobilisieren eine innerislamische Oppositionsbewegung, die sich gegen den moralischen Verfall der westlichen Gesellschaften richtet. Sie bekämpfen beispielsweise „Drogenmissbrauch, Gewalt in der Ehe, Pornographie, sexuelle Ausschweifungen und ‚Perversionen‘, etwa Homosexualität“, so Stephan Rosiny in seinem Aufsatz „Der Islam ist die Lösung“.5 Islamisten kritisieren zudem, der praktizierte Islam habe sich zu weit von seinem Ursprung und der im Koran geforderten Lebensweise entfernt. Sie fordern eine Rückkehr zum Ursprungsislam.6

Entgegen der allgemeinen Meinung sind Islamisten oftmals nicht gewalttätig. Sie bilden in der Regel die Vorstufe zu islamistischen Terroristen und sind empfänglicher für radikale Ideen, dennoch werden längst nicht alle Islamisten zu Radikalen.

2.2 Definition Islamischer Extremismus, Terrorismus, Ğihādismus

Der islamische Extremismus, auch unter den Begriffen radikaler Islamismus, Terrorismus oder Ğihādismus bekannt, ist die Weiterführung des bloßen Islamismus. Peter Waldmann definiert Terrorismus folgendermaßen: „Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken […] erzeugen“7 und „für allgemeine Aufmerksamkeit sorgen“.8

In seinem Werk Terrorismus: Motive, Täter, Strategien schreibt Franz Wördemann, dass Terrorismus „als eine Methode zur Erreichung eines bestimmten Zieles unter bestimmten Voraussetzungen verstanden wird“.9 Das Ziel ist bei den meisten radikalen islamistischen Gruppierungen gleich: Sie wollen einen islamischen Gottesstaat mit der Šarī’a als Rechtsgrundlage errichten10 und die westlichen Einflüsse aus ihren Ländern entfernen. Terrorismus ist folglich eine Art der Kommunikation; die Attentäter machen auf sich und ihre Wünsche und Probleme aufmerksam, die anders nicht erhört worden sind.11 Die Teilnahme am ğihād gilt im Koran als besonders verdienstvoll, aus den aḥādīṯ geht hervor, dass die, die im ğihād fallen sowie ihre Angehörigen eine Sonderstellung im Jenseits erhalten.12

Ğihādisten gelten als die jüngste Entwicklungsstufe des islamischen Extremismus.13 Sie kämpfen gegen den feindlichen Westen, vor allem gegen die USA, „mit einem Maximum an Symbolik und Öffentlichkeitswirksamkeit“.14

Die Radikalisierung von Muslimen erfolgt in der Regel in drei Schritten: Zunächst muss Unzufriedenheit über eine bestimmte Situation vorhanden sein, dann muss es eine Ideologie geben und schließlich benötigt es einen Auslöser. Dies ergab ein Gespräch mit zwei Vertretern der Abteilung Islamismus und islamistischer Terrorismus des Verfassungsschutzes Kiel.

2.3 Aktueller Forschungsstand: Wie gelangt die Forschung an ihre Ergebnisse?

Während sich ältere Studien zur Extremismusforschung noch mit der Suche nach „psychopathologischen Anomalien und frühkindlichen Sozialisationsschäden“15, die den Aggressivitätsüberschuss der Betroffenen16 erklären sollen, auseinandersetzen, legen neuere Studien ihr Augenmerk vor allem auf das „Wechselspiel zwischen Person und Umwelt“17. Während also bis vor einigen Jahren der Radikalisierungsprozess noch mit der Frustrations- Aggressions-Hypothese (einer starken Frustration folgt ein aggressiver Angriff), der Hypothese der negativen Identität (Erleben mangelnder Anerkennung trotz intensiver Bemühungen, den Erwartungshaltungen zu entsprechen) und der Hypothese der narzisstischen Wut (extrem aggressive Reaktionen auf eine Verletzung des Selbstwertgefühls, zwanghafte Rachsucht bis hin zu Vernichtungswünschen) erklärt wurde, so herrschen heute eher soziologische und psychologisch-handlungstheoretische Erklärungsmodelle vor.18 Um den Prozess der islamischen Radikalisierung im Westen erfassen zu können, schlägt Peter Waldmann ein dreistufiges Modell vor. Bei diesem werden die soziale Mesoebene der Migranten (Vor welchen Herausforderungen stehen muslimische Migranten im Westen?), die soziale Mikroebene (Welche individuellen Entwicklungsprozesse führen in den Extremismus?, Zusammenspiel von lokalen und globalen Ereignissen, Eigendynamik von Kleingruppen) sowie die soziale Makroebene (Interne Strukturen, gegenseitige Beziehungen der jeweiligen Herkunfts- und Aufnahmeländer, Migrationspolitik und gesellschaftliche Akzeptanz der Migranten im Aufnahmeland) untersucht.19

Daten für die Untersuchung von Radikalisierungsprozessen bei im Westen lebenden Muslimen gewinnt die Forschung in erster Linie aus Daten aus gelungenen oder misslungenen Anschlägen im Westen sowie aus Befragungen von Muslimen zu ihren Einstellungen gegenüber Religion, dem westlichen System, der Politik, Gewalt etc. (Vgl. Waldmann 2005, S. 81, Lützinger 2010, BMI-Studie Lebenswelten junger Muslime in Deutschland 2012).

3 Motive der Radikalisierung für junge Islamisten

In ihrer Studie Die Sicht der Anderen hat Saskia Lützinger insgesamt 39 Personen befragt, die mit linkem, rechtem oder islamistisch motiviertem Terrorismus in Zusammenhang standen. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem die sechs Personen mit islamistischem Hintergrund relevant. Die Gruppe der Befragten ist nicht groß, dennoch bietet Lützingers Studie einen interessanten Einblick in die Thematik. Im Folgenden werde ich mich an der von Lützinger erhobenen Studie orientieren und sie kritisch mit den Meinungen und Studien anderer Autoren vergleichen. Am Ende dieses Kapitels sollte sich ein Zwischenfazit mit einer Reihe möglicher Radikalisierungsfaktoren junger Muslime im Westen bilden lassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Radikalisierungsprozess keinesfalls statisch oder nach einem bestimmten Muster abläuft. Alle Faktoren stellen mögliche Ursachen da, die allein oder in Kombination und vor allem mit einem Auslöser in Zusammenhang stehend zur Radikalisierung und schließlich - nicht gezwungenermaßen - zu einem Angriff führen können. Um den Radikalisierungsprozess besser nachvollziehen zu können, muss zudem in die Kindheit von Terroristen, in deren Umgebung und Lebenssituationen geschaut werden. Nur so lassen sich die komplexen Zusammenhänge erklären.

Die Familie

Als ersten Punkt in ihrer Studie führt Lützinger Probleme innerhalb der Familie von radikalen Menschen an. Probleme wie handfeste Streits, Scheidung der Eltern, Tod eines nahen Verwandten oder Umzüge belasten die Kinder, doch es wird nichts unternommen, um diesen zu helfen. Die Eltern sind oft zu sehr mit sich selbst beschäftigt oder haben kein Interesse daran, die Situationen mit den Kindern zusammen aufzuarbeiten. In der Folge sind die Kinder mit ihren Problemen auf sich allein gestellt, es kommt zu Verdrängungen oder Gefühlen des Alleinseins. Durch gewisse Aktionen, die Aufmerksamkeit erregen (Alkoholkonsum, Drogenmissbrauch, (Gewalt-) Verbrechen) versuchen die Jugendlichen, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zurückzuerlangen. Die Eltern sind jedoch zunehmend mit den Problemen überfordert, es kommt eher zur Eskalation als zur Konfliktlösung.20

Die Peergruppe

Fehlt den Jugendlichen die familiäre Unterstützung, so suchen sie sich Gleichaltrige und möglichst Gleichgesinnte, bei denen sie Halt finden können. In Lützingers Studie gaben die islamistisch Orientierten jedoch an, dass es für sie schwierig war, eine solche Gruppe zu finden, da oft eine Sprachbarriere herrschte oder sie durch den fehlenden Schulbesuch einfach keinen Kontakt zu Gleichaltrigen aufbauen konnten. Mangelnde soziale Kompetenzen erschwerte eine Aufnahme in eine Clique.21

Waldmann ergänzt Lützingers Untersuchungen. Er fügt hinzu, dass es vor allem bei Muslimen der zweiten und dritten Generation in Deutschland zu Problemen mit der Identitätsbildung kommt. Sie fühlen sich keiner Gesellschaft zugehörig; ihrer Herkunftsgesellschaft nicht mehr völlig zugehörig, in der Aufnahmegesellschaft jedoch fremd, nicht gänzlich akzeptiert.22 Er argumentiert jedoch, dass die Radikalisierung von Muslimen der zweiten und dritten Generation nicht mehr aus der sozialen Isolierung, sondern vielmehr aufgrund individueller Bekehrungen stattfindet.23

[...]


1 Verfassungsschutzbericht 2010, S. 206.

2 Verfassungsschutzbericht 2010, S. 203.

3 Rosiny 2008, S. 63.

4 Islamismus aus der Perspektive des Verfassungsschutzes, März 2008, S. 5.

5 Rosiny 2008, S. 70.

6 Hirschmann 2006, S. 15.

7 Waldmann 2001, S. 10.

8 Waldmann 2001, S. 12.

9 Wördemann 1979, S. 29.

10 Dostal 2008, S. 181.

11 Waldmann 2001, S. 13.

12 Riexinger 2004, S. 41.

13 Wentker 2008, S. 43.

14 Ebenda.

15 Lützinger 2010, S. 4.

16 Waldmann 2005, S. 199.

17 Lützinger 2010, S. 4.

18 Lützinger 2010, S. 4f.

19 Waldmann 2005, S. 17.

20 Lützinger 2010, S. 21ff.

21 Lützinger 2010, S. 26.

22 Waldmann 2009, S. 27; 93.

23 Waldmann 2009, S. 89f.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Radikalisierung junger Muslime in Deutschland
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für Orientalistik)
Veranstaltung
Islamismus
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
22
Katalognummer
V208064
ISBN (eBook)
9783656353690
ISBN (Buch)
9783656354352
Dateigröße
1004 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Islamwissenschaft, Islamismus, Radikalisierung, Muslime in Deutschland
Arbeit zitieren
Marina Schauer (Autor:in), 2012, Radikalisierung junger Muslime in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208064

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