Einleitung
„We seem (…) to have conquered and peopled half the world in a fit of absence of mind.” Diese oft zitierte Aussage von John Robert Seeley enthält zwei Thesen über die Art und Weise, wie das britische Empire entstanden ist: Erstens habe der Genese dieses Weltreichs keine kohärente politische Strategie zugrunde gelegen. Vielmehr sei die Initiative zur Erschließung neuer Märkte und somit neuer Gebiete von Kaufleuten ausgegangen, den so genannten „men on the spot“, die von London Interventionen und den Schutz ihrer Handelsinteressen forderten, wenn diese bedroht waren. Zweitens seien die Briten insgesamt ihren kolonialen Besitzungen gegenüber relativ gleichgültig gewesen. Die Kolonien seien nicht als zu Großbritannien gehörig angesehen worden und es habe kaum Interesse an kolonialen Angelegenheiten bestanden. Beide Thesen dienen als Ausgangspunkt für diese Fallstudie zur Berichterstattung der Times über den kolonialen Wettlauf in Westafrika.
Ziel dieser Arbeit ist zu ergründen, wie der Erwerb von Kolonien in der Zeit des Hochimperialismus in der Öffentlichkeit gesehen wurde. Welche Reaktionen, Stimmungen, Meinungen und Diskussionen gab es? Porter und MacKenzie untersuchten verschiedenste Bereiche des öffentlichen Lebens auf ihren imperialen Charakter. MacKenzie behauptete, dass viele Institutionen durch eindeutige Propaganda in Großbritannien zur „Imperialisierung“ der Gesellschaft beigetragen hätten, u.a. das Militär, Schulen, Jugendbewegungen, Kirchen, Missionsgesellschaften, öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen und Jugendbücher. Aus seiner Untersuchung ausgenommen war allerdings die Presse. Zu Recht wurde Gallaghers und Robinsons diplomatiegeschichtliche Studie über das „official mind of Imperialism“ dafür kritisiert, die Rolle der Presse auszuklammern. Laut Thompson, der den Einfluss des Empires auf die britische Politik untersuchte, sei es unrealistisch, dass Empire-Politik betrieben wurde, ohne die Organe der öffentlichen Meinung zu berücksichtigen:
„(…) the mainsprings of imperial campaigning are to be found not in party or parliamentary structures but in extra-parliamentary activism and press agitation.“
Auch Berke kritisierte die Vernachlässigung des „Kolonialenthusiasmus der Öffentlichkeit als Antriebskraft für imperiale Aktivitäten“ . Dennoch mangelt es noch an Detailstudien zur Rolle einzelner Zeitungen und deren Rolle beim Wandel der „öffentlichen Meinung“.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Methodische Überlegungen
- Vor der Aufteilung: Die Jahre bis zur Berlin-Konferenz (1861-1884)
- Britische Wirtschaftsinteressen in Westafrika und eine Politik der minimalen Verpflichtung
- „Official indecision“ in den 1860er Jahren
- Französische und britische Expansionsbestrebungen in den 1870er Jahren
- Die Diskussionen um Westafrika
- Westafrika verlassen?
- Das wachsende Interesse an Westafrika und die Zurückhaltung der Times in den 1870er Jahren
- Die erste Phase der Aufteilung Nigerias (1884-1895)
- Ereignisse und Entwicklungen
- Die Berlin-Konferenz 1884/85: England als „Niger Power“
- Der Wettlauf um Protektionsverträge zwischen Hewett und Nachtigal
- Die Royal Niger Company: Wiederbelebung des Chartered Company-Modells (1886)
- England und Frankreich: Rivalitäten und Abkommen (1890-93)
- Die Berichterstattung über die Berlin-Konferenz
- Eine Bestandsaufnahme vor der Konferenz
- Die Berlin-Konferenz ein Erfolg?
- Die Stimme der Kaufleute und Industriellen: C.S. Salmons Forderung nach Annexionen
- Irritationen zwischen Nachbarn: England, Deutschland und die Kamerunfrage
- Die Royal Niger Company in der Kritik (1887-1890)
- Unruhen auf dem Niger
- Moralische Kritik: Der Leserbrief J.G. Lovells in der Daily News
- The real position: Die Meinung der Times
- Die Position der Royal Niger Company
- Beschwerden aus Deutschland und die Reaktion der Times
- Die Diskussionen um eine mögliche Ausweitung des Herrschaftsgebiets der Royal Niger Company
- Die Darstellung des französisch-englischen Abkommens von 1890
- Die Darstellung des deutsch-englischen Abkommens von 1893
- Die endgültige Aufteilung der Niger-Region (1895-1898)
- Ereignisse und Entwicklungen
- Joseph Chamberlain und die neue imperiale Haltung im Kabinett Salisbury
- Der letzte Streitpunkt: Borgu
- Die französisch-englische Nigerkonvention von 1898
- Die Darstellung der Times
- Chamberlains Ernennung zum Kolonialminister und seine ersten Amtshandlungen in den Leitartikeln der Times
- Die Rechtfertigung der Eroberungen von Nupe und Ilorin in der Times
- Die Diskussionen um die Zukunft der Nigerterritorien
- Die Definierung von nationalen Identitäten im Zuge der englisch-französischen Rivalitäten
- Die Kritik der Times an den Anti-Imperialisten im House of Commons
- Die Bewertung der französisch-englischen Nigerkonvention
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Berichterstattung der Times über den Entstehungsprozess Nigerias im Kontext der europäischen Aufteilung Afrikas. Ziel ist es, die Rolle der Times als „öffentliche Stimme“ im britischen Imperialismus zu untersuchen und aufzuzeigen, wie die Zeitung die Annexion und Kolonisierung Nigerias durch Großbritannien darstellte und bewertete. Dabei werden die Entwicklung der „öffentlichen Meinung“ in Großbritannien, die Rolle wirtschaftlicher und politischer Interessen sowie die Wahrnehmung der anderen europäischen Kolonialmächte in der Times analysiert.
- Die Rolle der Times als „öffentliche Stimme“ im britischen Imperialismus
- Die Darstellung der Annexion und Kolonisierung Nigerias durch Großbritannien
- Die Entwicklung der „öffentlichen Meinung“ in Großbritannien zum Thema Imperialismus
- Die Rolle wirtschaftlicher und politischer Interessen in der Kolonisierung Nigerias
- Die Wahrnehmung der anderen europäischen Kolonialmächte in der Times
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung legt die zentralen Forschungsfragen und den theoretischen Rahmen der Arbeit dar. Dabei wird die Rolle von John Robert Seeleys These über die Entstehung des Britischen Empire und die Bedeutung der „öffentlichen Meinung“ im Kontext der Kolonialpolitik herausgearbeitet. Kapitel 2 skizziert die methodischen Grundlagen der Arbeit und erläutert die Quellenbasis. Kapitel 3 analysiert die britische Kolonialpolitik in Westafrika vor der Berlin-Konferenz. Es werden die wirtschaftlichen Interessen Großbritanniens in der Region sowie die sich entwickelnden imperialen Ambitionen beleuchtet. Kapitel 4 beleuchtet die erste Phase der Aufteilung Nigerias zwischen 1884 und 1895. Es werden die Ereignisse der Berlin-Konferenz, der Wettlauf um Protektionsverträge und die Gründung der Royal Niger Company diskutiert. Auch die Berichterstattung der Times über diese Ereignisse wird analysiert.
Schlüsselwörter
Britisches Empire, Kolonialismus, „öffentliche Meinung“, The Times, Nigeria, Berlin-Konferenz, Royal Niger Company, Westafrika, Imperialismus, Annexion, „gentlemanly capitalism“
- Arbeit zitieren
- Volker Sundermann (Autor:in), 2012, „Annexation is the order of the day”. Die Aufteilung Afrikas und der Entstehungsprozess Nigerias in der Berichterstattung der Times, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208909