Die Voraussetzungen für eine Kindzentrierung


Hausarbeit, 2012

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Kindzentrierung – Eine Einführung
1.1 Célestin Freinet – Der Vater der Kindzentrierung
1.2 Janusz Korczaks Rechte des Kindes

2. Die Rolle des Erziehers/der Erzieherin – Auf die Haltung kommt es an

3. Dialog– Auf Augenhöhe mit dem Kind

4. Partizipation, Regeln und Grenzziehungen
– Die Machtposition der Erwachsenen und wie damit im Sinne der Kindzentrierung umgegangen werden kann

5. Der Weg ist das Ziel – Kindzentrierung als Prozess

6. Und wo bleiben die Eltern?

7. Reflexion

8. Literatur

1. Kindzentrierung – Eine Einführung

Eine Kindergartengruppe in Hessen. Zwei Fünfjährige bohren mit Hammer und einem als Meißel verwendeten Metallteil Löcher in die Wand ihres Gruppenraumes. Ob die Verantwortlichen gerade mit ihrer Aufmerksamkeit woanders sind? Im Gegenteil, die beiden Pädagogen Lothar Klein und Rosy Henneberg sind nicht nur anwesend und haben es bemerkt. Sie stehen abwartend direkt daneben und schauen zu, was passiert, treten mit den Kindern in Dialog, helfen später sogar mit und zeigen sich deutlich interessiert am Tun der Kinder. Es fällt kein einziges Wort des Tadels, es gibt keine Aufforderung, damit aufzuhören. Die einzige Limitierung des augenscheinlich destruktiven Tuns der Kinder besteht in einer kreisförmigen Bleistiftlinie mit einem Durchmesser von drei Zentimetern, die der Pädagoge Lothar Klein um die beiden Löcher gezogen hat und die den maximal erlaubten Durchmesser anzeigt.[1]

Allein beim Lesen dieser Situation würde viele Pädagogen unwillkürlich das Bedürfnis überkommen, die Kinder bestürzt zu fragen, warum sie die Einrichtung zerstören und ihnen danach strikt zu verbieten, damit fortzufahren. Auch die Erzieherin Rosy Henneberg verspürt den Impuls, als sie die Szene wahrnimmt, die sich vor ihren Augen abspielt. Statt diesem nachzugeben, hält sie inne und stellt sich die Frage nach der Motivation der Kinder für dieses Tun, welche in der beschriebenen Situation darin besteht, herauszufinden, warum ein Loch Putz und das andere Metall enthält. Mit ihrer Reaktion verleiht sie einer hinter kindzentrierter Arbeit stehenden Haltung Ausdruck, die auf Wertschätzung und Vertrauen gegenüber dem Kind ausgelegt ist.

In ihrem Buch „Mit Kindern leben, lernen, forschen und arbeiten : Kindzentrierung in der Praxis“ stellen die vier Herausgeber Rosy Henneberg, Helke und Lothar Klein und Herbert Vogt das Konzept der Kindzentrierung vor, erläutern „im Gespräch“ die dazu nötige Haltung der Erzieherin und stellen auf der anderen Seite die Erwartungen der Kinder den Erzieherinnen gegenüber dar. Ein genaueres Verständnis für Kindzentrierung ergibt sich aus den zahlreichen gesammelten Praxisbeispielen verschiedener Pädagogen. Diese sind in sechs Themenschwerpunkte eingegliedert. In den ersten drei Schwerpunkten „Forschen, lernen und Arbeit“, „Regeln, Partizipation, Selbstbestimmung“ und „Alltag, Selbstorganisation, Konflikte“ werden anschaulich Situationen des Alltags dargestellt, bei denen Kindzentrierung und deren Umsetzung in der Praxis auf den ersten Blick schwierig zu sein scheint, jedoch immer eine Lösung gefunden werden kann. Zudem wird in weiteren drei Kapiteln auf die Bedeutung des Dialogs, den Stellenwert von Räumen/Raumgestaltung und die Einbindung der Eltern bei der Darstellung der Entwicklungsprozesse der Kinder eingegangen.

Es ist nicht möglich, in dieser Hausarbeit auf alle Bestandteile des ihr zu Grunde liegenden Buches näher einzugehen, vielmehr soll schwerpunktmäßig eine Auseinandersetzung mit den Aspekten Haltung, Dialog und Partizipation erfolgen, die sich im Verlauf der Recherchen als besonders relevant für das Thema Kindezentrierung herausgestellt haben. Ebenso soll die Frage behandelt werden, wie mit Regeln umgegangen wird und welche Rolle Eltern bei kindzentrierter Arbeit zufällt, bzw. wie sie eingebunden werden, aber auch, wie sie darauf reagieren.

Kindzentrierung bezieht sich (…) auf das professionelle Selbstverständnis des Erwachsenen im pädagogischen Verhältnis zum Kind…“.[2] Damit ist jedoch nicht die Beziehung selbst gemeint sondern das professionelle Selbstverständnis des Erwachsenen als Basis für den Aufbau einer guten Beziehung zum Kind.[3]

In der Umsetzung heißt das für den Pädagogen, genau zu beobachten, was die Kinder tun, ihnen dabei begleitend und unterstützend zur Seite zu stehen, ohne ihnen Entscheidungen abzunehmen oder Lösungen auf auftauchende Fragen vorweg zu nehmen. In diesem konkreten Beispiel fragt sich Rosy Henneberg also zunächst, welche Absicht hinter der scheinbar sinnlosen Zerstörung der Wand steckt und beobachtet das Tun eine Weile, bis die Kinder auf sie zukommen und von ihrer Entdeckung berichten. Sie erkennt das Interesse der Kinder und lässt sich davon anstecken, tritt mit ihnen in Dialog. Gemeinsam mit ihnen sucht sie nach Ideen für eine Erhellung des dunklen Bohrloches und hilft bei Beschaffung der dazu nötigen Taschenlampe[4]. Dieses Zurücknehmen ermöglicht es den Kindern, ihre eigenen Wege zu finden, selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln zu lernen. Die Erwachsenen schenken ihnen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, indem sie jederzeit bereit stehen, für die Kinder da zu sein, echtes Interesse an ihren Tätigkeiten und deren Sinn zeigen und auf die Kompetenzen der Kinder vertrauen. Die Machtposition, die jeder Erwachsene gegenüber einem Kind automatisch innehat, wird nicht ausgenutzt sondern umgewandelt in ein gleichwertiges Miteinander, bei dem die Erwachsenen nicht länger als „Bestimmer“ fungieren und die Richtung vorgeben.[5] Kindzentrierung setzt sich nach Henneberg/Klein/Klein und Vogt aus mehreren Merkmalen zusammen, von denen einige im Verlauf dieser Hausarbeit noch näher erläutert werden:

1. Jedes Kind wird als Individuum mit ihm eigenen Wünschen, Belangen und eigener Entwicklungsgeschwindigkeit betrachtet.
2. Um die subjektive Wirklichkeit des Kindes wahrzunehmen, ist es wichtig, sich in das Kind hineinzuversetzen.
3. Kindzentrierung sucht nach Ressourcen statt nach Defiziten.
4. Erwachsene können ihre Erfahrungen nicht auf die Kinder übertragen, in der Hoffnung, sie würden diese genauso übernehmen. Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen sammeln und ihren Weg selbst finden.
5. Kinder sollen partizipieren können, was nur möglich ist, wenn Erwachsene bereit sind, auf die sie zu hören.
6. Die pädagogische Arbeit wird aus den Voraussetzungen entwickelt, die das Kind mitbringt.
7. Eine Grundvoraussetzung für die gelingende Umsetzung von Kindzentrierung ist der Dialog mit dem Kind.[6]

Auch in der anfangs beschriebenen Situation hat ein Dialog mit den Kindern stattgefunden. Er hat dafür gesorgt, dass die Absichten der Kinder hinter ihrem Tun für die Pädagogen deutlich wurden und sowohl Pädagogen als auch Kinder am Schluss zu der Erkenntnis gelangen konnten, dass in dem Loch der einen Wand tatsächlich „Nichts“ zu sehen ist, in der anderen Wand jedoch eine Regenrinne verläuft. Entgegen aller vielleicht bestehenden Befürchtungen sind in der darauffolgenden Zeit keine weiteren Bohrungen mehr vorgenommen worden, allerdings wurden, trotz entsprechender Absprachen, die Löcher auch nicht wieder verschlossen. Rosy Henneberg ist der Meinung, es sei interessant, abzuwarten, ob das Interesse der Kinder irgendwann wieder aufflammt.[7]

Kindzentrierung gesteht den Kindern Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstorganisation zu und hat den hohen Anspruch, den Kindern die Übernahme von Verantwortung für ihr Handeln zu ermöglichen, indem sie am Alltagsgeschehen aktiv teilhaben und es mit beeinflussen können.

Das Praxisbeispiel „Löcher in der Wand…“[8] zeigt auf, wie dicht die beteiligten Pädagogen an ihre eigenen Grenzen gehen oder sogar gehen müssen, wenn sie auf die hier dargestellte Art und Weise auf die Kinder eingehen. Es stellt sich die Frage, ob Grenzen, sowohl allgemeingültige als auch persönliche, nicht auch schnell einmal überschritten werden und wie oder ob überhaupt damit professionell umgegangen werden kann, auch darauf soll im Verlauf der Hausarbeit näher eingegangen werden.

Zu Beginn soll die Entstehung des Konzeptes der Kindzentrierung erläutert werden.

Entwickelt wurde das kindzentrierte Arbeiten aus dem schulpädagogischen Ansatz von Freinet, der im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

1.1 Célestin Freinet – Der Vater der Kindzentrierung

Geboren in einem Dorf in den südfranzösischen Alpen wächst Célestin Freinet als fünftes von acht Kindern in ländlicher Umgebung auf. Anders als in seiner Zeit üblich, darf er zur Schule gehen und nimmt im Alter von 16 Jahren ein Studium für den Lehrerberuf auf. Bevor er seinen Abschluss machen kann, wird er im Zuge des ersten Weltkrieges zum Militärdienst eingezogen. Infolge eines dort erlittenen Lungenschusses ist es ihm fortan nicht mehr möglich, laut und über längere Zeit vor einer Klasse zu sprechen. Dies ist einer der Gründe, weshalb er beginnt, sich mit der Veränderung des zu seiner Zeit gängigen Frontalunterrichtes zu beschäftigen, als er im Alter von 24 Jahren seine erste Hilfslehrerstelle in einer kleinen französischen Dorfschule antritt.[9] Beeinflusst von den Ideen der Reformpädagogik und aus der Überzeugung heraus, dass Kinder lernen wollen und dazu selbstaktiv in der Lage sind, beginnt er, die Kinder am Unterricht aktiv partizipieren zu lassen, indem er ihnen das Wort erteilt. Aus dem herkömmlichen Klassenraum entsteht ein Raum mit Werkstattcharakter, der zum Arbeiten und Forschen einlädt und zudem Platz für Klassenratbesprechungen, Wochenplanung oder die Arbeit an „freien Texten“ bietet. Die Erzählungen der Kinder in schriftlicher und mündlicher Form sowie seine eigenen schriftlich festgehaltenen Beobachtungen eröffnen ihm Anlässe, um in Dialog mit den Kindern zu treten und mehr über ihre Interessen und Bedürfnisse zu erfahren. In Zusammenarbeit mit den Kindern entwickelt er eigene Lernmaterialien, wie z.B. Arbeitskarteien.[10]

Gemeinsam mit anderen französischen und deutschen Reformpädagogen wie z.B. Peter Petersen, mit dem er in regem Kontakt steht[11], versucht er, seine neuen Unterrichtsideen durch Erprobung in der Praxis und Erfahrungsaustausch weiterzuentwickeln. Aus diesen Kontakten entsteht die „Bewegung der modernen französischen Schule“(école moderne), der bei Stattfinden ihres ersten Kongresses im Jahr 1927 bereits 90 Schulen angehören. Seit 1964 gibt es auch in Deutschland Arbeitsgruppen, die nach Freinet arbeiten, sowie mittlerweile in 40 anderen Ländern der Welt.[12] Freinet stirbt 1966.

Kennzeichnend für die Arbeit nach Freinet sind die Werkstätten, die Kindern die Möglichkeit eröffnen, mit den verschiedensten Materialien selbstständig und parallel nebeneinander an unterschiedlichen Aufgabenstellungen zu arbeiten, der individualisierte Lern- und Arbeitsplan, mit dem die Kinder ihr Lernpensum eigenverantwortlich steuern können sowie die im Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen entstehenden eigenen Lernmaterialien. Der pädagogische Ansatz von Freinet kann jedoch nicht als bloße Übernahme der ursprünglich von ihm entwickelten Ideen und Methoden angesehen werden, vielmehr geht es um ihre Weiterentwicklung und Anpassung an die Gegebenheiten der jeweiligen Gruppe.[13] Freinet appellierte daran, gefälligst selbst Freinet zu werden, statt ihn lediglich zu kopieren und die von ihm entwickelten Elemente genau zu übernehmen.[14]

In seinem Buch „Les dits de Mathieu“ schreibt er über sich selbst:

„Mein einziges pädagogisches Talent besteht vielleicht darin, daß ich eine so gute Erinnerung an meine jungen Jahre bewahrt habe. Ich fühle und verstehe als Kind die Kinder, die ich erziehe. Die Probleme, die sie sich stellen und die für die Erwachsenen ein so großes Rätsel sind, stelle ich mir auch selbst und erinnere mich dabei an die Zeit, als ich acht Jahre alt war, und so lege ich – als Erwachsener und gleichzeitig als Kind – über alle Systeme und Methoden hinweg, unter denen ich so sehr litt, die Irrtümer einer Wissenschaft offen, die ihre Ursprünge vergaß und verkannte.“[15] Darin kommt deutlich zum Ausdruck, wie sehr es Freinet ein Anliegen war, sich in die Lebenswelt der Kinder hineinzuversetzen und ihre Perspektive einzunehmen. Zugleich übt er Kritik an den damals bestehenden Systemen und eingesetzten Lehrmethoden, die er selbst noch erlebt hatte.

Obwohl ursprünglich ein schulpädagogischer Ansatz, findet die freinetpädagogische Arbeitsweise heute auch mehr und mehr in Kindergärten Verwendung.[16]

Nicht außer Acht zu lassen sind jedoch auch andere Pädagogen seiner Zeit, denen zwar keine Vorreiterrolle für Kindzentrierung zugeschrieben wird, die jedoch nach ähnlichen Maßstäben gearbeitet haben, wie z.B. Januscz Korczak, der durch seine radikalen Forderungen bezüglich der Rechte des Kindes bekannt wurde.

[...]


[1] Vgl. Henneberg/Klein 2004, S. 153ff

[2] Henneberg/Klein/Klein/Vogt 2004, S. 14

[3] Vgl. Ebd., S. 14

[4] Vgl. ebd., S. 154ff

[5] Vgl. Henneberg/Klein/Klein/Vogt 2004, S. 14

[6] vgl. ebd., S. 16

[7] Vgl. Henneberg/Klein 2004, S. 157

[8] Ebd., S. 153

[9] vgl. Henneberg/Klein/Vogt 2008, S. 9

[10] Vgl. Klein 2007, S. 33f

[11] Vgl. Henneberg/Klein/Vogt 2008, S. 10

[12] Vgl Klein 2007, S. 33

[13] Vgl. Henneberg/Klein/Vogt 2008, S. 15f

[14] Vgl. ebd., S. 16

[15] Freinet 1973, S. 31, zitiert nach Freinet 2009, S. 27

[16] Vgl. Henneberg/Klein/Vogt 2008, S. 19

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Voraussetzungen für eine Kindzentrierung
Hochschule
Technische Hochschule Köln, ehem. Fachhochschule Köln  (Institut für angewandte Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Biographie, Transition, Resilienz
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V209303
ISBN (eBook)
9783656369271
ISBN (Buch)
9783656368885
Dateigröße
443 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindzentrierung, Haltung, Dialog, Freinet, Korczak, Henneberg
Arbeit zitieren
Andrea Schneider (Autor:in), 2012, Die Voraussetzungen für eine Kindzentrierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209303

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