Die Entwicklung von Handlungskompetenz wurde 1996 für den schulischen Lernortpartner zum Bildungsauftrag erhoben und seitdem in den curricularen Vorgaben didaktisch und lernorganisatorisch konkretisiert. Allerdings erfordert die Leitbildfunktion der Handlungskompetenz nicht nur die Umsetzung in der Berufsausbildung, sondern zieht konsequenterweise die Forderung nach kompetenzorientierten Prüfungen nach sich. Da „nur geprüft werden kann und darf, was auch gelehrt worden ist“, besteht zwischen Lernziel und Prüfung ein bindender Zusammenhang, und die Prüfung sollte auf den Prüfungsgegenstand gemäß Curriculum und den vorangegangenen Lehr-Lernprozessen zielen.
Demgegenüber steht laut Tramm/ Brand die tradierte Prüfungspraxis in paradigmatischem Widerspruch zu kompetenzorientierten Leitlinien, wodurch der Abschlussprüfung der Status eines ´heimlichen Curriculums` der dualen Berufsausbildung zukäme. Aus Sicht der Schüler stellt das Bestehen der Abschlussprüfung das eigentliche Ausbildungsziel dar, daher bestünde im Fall von divergierenden Zielvorstellungen für den Unterricht und die Abschlussprüfung die Gefahr, dass die Prüfung Lernprozesse in den Ausbildungsbetrieben, vor allem aber im Unterricht der Berufsschule nachhaltig beeinflusst und die Entwicklung von Handlungskompetenz gefährdet.
Um dem zu begegnen und der Leitbildfunktion der Handlungskompetenz gerecht zu werden, ist eine Prüfungskonzeption erforderlich, die geeignet ist, die berufliche Handlungskompetenz der Prüfungsteilnehmer gültig zu erfassen und damit auch zertifizieren zu können. Dazu ist zu klären, an welchem Leitbild sich kompetenzorientierte Prüfungen orientieren. Wie kann der Begriff der Handlungskompetenz verstanden werden? Welche Problematik geht mit der Erfassung von Handlungskompetenz einher? Zur Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Prüfungskonzeption müssen bestimmte Ansprüche an ihre Gestaltung und Durchführung erfüllt werden. Welchen Qualitätsansprüchen sollten Prüfungen allgemein und kompetenzorientierte berufliche Abschlussprüfung im Besonderen genügen und welchen Abhängigkeiten unterliegen sie? Daher stellt sich für diese Arbeit als zentrale Fragestellung: Welche zentralen Gütekriterien sind relevant und im Rahmen von beruflichen Abschlussprüfungen zu erfüllen, um berufliche Handlungsfähigkeit bzw. Handlungskompetenz gültig erfassen zu können?
Gliederung
1 Grundlegungen zu dieser Arbeit
1.1 Einleitung
1.2 Begriffsbestimmung
1.3 Methodisches Vorgehen
2 Diskussion zur Qualität kompetenzorientierter Berufsabschlussprüfungen
2.1 Bedeutung der Abschlussprüfung in der dualen Berufsausbildung
2.2 Zur Problematik der Erfassung beruflicher Handlungskompetenz
2.3 Darstellung zentraler Gütekriterien für berufliche Abschlussprüfungen
2.3.1 Diagnostische Gütekriterien
2.3.2 Konzeptionelle Gütekriterien
2.4 Diskussion zu Interdependenzen und Abhängigkeiten zentraler Gütekriterien
2.4.1 Zum Spannungsfeld zwischen Validität und Objektivität
2.4.2 Validität der Prüfung und curriculare Ausbildungsziele
2.4.3 Die vollständige Handlung in kompetenzorientierten Prüfungen
2.4.4 Zur Problematik authentisch situierter Aufgaben
2.5 Dominierende Ansprüche: Validität und Handlungs- und Prozessorientierung
3 Zentrale Gütekriterien in kompetenzorientierten Abschlussprüfungen –
eine Analyse am Beispiel der ´Arbeitsprobe` im Ausbildungsberuf
Augenoptiker/in
3.1 Darstellung der gegenwärtigen Prüfungspraxis
3.2 Prüfungsgegenstand und Ausbildungsberufsbild
3.3 Zur Berücksichtigung zentraler Gütekriterien
3.3.1 Zur Testgenauigkeit der Prüfungskonzeption
3.3.2 Handlungs- und prozessorientierte Aufgabenkonzeption
3.3.3 Authentisch situierte Aufgabengestaltung
3.4 Berufliche Handlungskompetenz valide erfasst (?)
4 Fazit und Perspektive
5 Literatur
Anhänge
Anhang 1: Situationsaufgaben der ´Arbeitsprobe` in der Gesellenprüfung im Ausbildungsberuf Augenoptiker/ Augenoptikerin (Auszug).
Anhang 2: ´Arbeitsprobe` in der Gesellenprüfung im Ausbildungsberuf Augenoptiker/ Augenoptikerin (Auszug, Seite: 8, 9, 12).
Anhang 2: Verordnung über die Berufsausbildung zum Augenoptiker/zur Augenoptikerin vom 4. März 1997 (BGBl. I S. 436).
Übersichts- und Tabellenverzeichnis
Bezeichnung Seite(n):
Übersicht 1.1: Merkmale beruflicher Handlungskompetenz
Übersicht 2.1: Konzeptionelle Anlage von Prüfungen
Übersicht 2.2: Systematischer Zusammenhang zwischen den Gütekriterien
Übersicht 2.3: Übersicht zentraler Gütekriterien
Tabelle 3.1: Positionen des Ausbildungsberufsbildes und die jeweilige Zuordnung
zu den Kategorien Kenntnisse, Fertigkeiten, Arbeitsprozessfähigkeit
Übersicht 3.2: Zuordnung der Berufsbildpositionen
Tabelle 3.3: Zuordnung der Arbeitsschritte zu den Ausbildungspositionen
Übersicht 4.1: Erfassung beruflicher Handlungskompetenz
1 Grundlegungen zu dieser Arbeit
1.1 Einleitung
´Allerdings machen die Noten der Gesellenprüfung keine Aussagen über Ihre Fähigkeiten im Beruf.` Sicherlich als Trost für die nach Noten weniger erfolgreichen Prüfungsteilnehmer gedacht, wurde diese Aussage vor 15 Jahren im Rahmen meiner ´Lossprechungsfeier` vom Vorsitzenden der Prüfungskommission konstatiert.
Seitdem erfolgte die Verankerung der „beruflichen Handlungsfähigkeit“[1] als Ziel der Berufsausbildung im Berufsbildungsgesetz (BBiG), sowie die Neuordnung der Verordnungen über die Berufsausbildung (Ausbildungsordnungen), auch hinsichtlich ihrer Gestaltungsvorgaben für die Abschlussprüfung (vgl. Kap. 2.4.2). Daher könnte bis dato eine Klärung oder zumindest eine Verbesserung der angesprochenen Problematik erwartet werden. Obwohl potentielle Arbeitgeber, laut einer Erhebung, aus den Prüfungsnoten weder eine hohe Aussagekraft über die berufliche Leistungsfähigkeit der Absolventen, noch eine Prognose für deren beruflichen Erfolg erwarten[2], besteht aus Sicht der Berufstätigkeit dennoch die Forderung nach einer prognostischen Funktion der Prüfungsergebnisse hinsichtlich der beruflichen Handlungskompetenz der Absolventen[3] (vgl. Kap. 2.1). Denn, was ist naheliegender, als vom Ergebnis der Abschlussprüfung Aussagen über die beruflichen Fähigkeiten der Absolventen zu erwarten?
Die Erhebung der Handlungskompetenz zum Leitbild in der beruflichen Bildung, der vielzitierte „kompetenzorientierte Wandel“[4], ist im Wesentlichen als Reaktion auf grundlegend gewandelte berufliche Anforderungen entstanden[5]. Die vielfältigen Änderungen in beruflichen Strukturen und Prozessen, z. B. gesellschaftliche Individualisierung, Globalisierung und der Trend zur Informationsgesellschaft, die sich vereinfacht unter dem Schlagwort „Abkehr vom Taylorismus“ sammeln lassen[6], erfordern von den Berufstätigen mehr als fachspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten. Vielmehr wird in gleichem Maße wie arbeitsplatzbezogene und anweisungsabhängige Tätigkeiten abnehmen[7], arbeitsprozessbezogenes Wissen und die Fähigkeit unvorhersehbare Probleme zu lösen, wichtiger[8].
Eine zukunftsorientierte Berufsausbildung erfordert daher zunehmend die Vorbereitung auf einen konkret-inhaltlich immer weniger prognostizierbaren Wandel der beruflichen Anforderungen[9] und die Förderung der Problemlösefähigkeit. Um dem zu entsprechen, stellt das Konzept der Handlungskompetenz in der beruflichen Bildung, in Abgrenzung zur verwertungsorientierten „Bildungsökonomie“, eine subjektorientierte Entwicklung und die Zielvorstellung erweiterter individueller Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt.[10]
Die Entwicklung von Handlungskompetenz wurde 1996 für den schulischen Lernortpartner zum Bildungsauftrag erhoben[11] und seitdem in den curricularen Vorgaben didaktisch und lernorganisatorisch konkretisiert[12] (vgl. Kap. 2.4.2). Allerdings erfordert die Leitbildfunktion der Handlungskompetenz nicht nur die Umsetzung in der Berufsausbildung, sondern zieht konsequenterweise die Forderung nach kompetenzorientierten Prüfungen nach sich[13]. Da „nur geprüft werden kann und darf, was auch gelehrt worden ist“[14], besteht zwischen Lernziel und Prüfung ein bindender Zusammenhang, und die Prüfung sollte auf den Prüfungsgegenstand gemäß Curriculum und den vorangegangenen Lehr-Lernprozessen zielen[15] (vgl. Kap. 3.2).
Demgegenüber steht laut Tramm/ Brand die tradierte Prüfungspraxis in paradigmatischem Widerspruch zu kompetenzorientierten Leitlinien, wodurch der Abschlussprüfung der Status eines ´heimlichen Curriculums` der dualen Berufsausbildung zukäme[16]. Aus Sicht der Schüler stellt das Bestehen der Abschlussprüfung das eigentliche Ausbildungsziel dar[17], daher bestünde im Fall von divergierenden Zielvorstellungen für den Unterricht und die Abschlussprüfung die Gefahr, dass die Prüfung Lernprozesse in den Ausbildungsbetrieben, vor allem aber im Unterricht der Berufsschule nachhaltig beeinflusst[18] und die Entwicklung von Handlungskompetenz gefährdet.
Um dem zu begegnen und der Leitbildfunktion der Handlungskompetenz gerecht zu werden, ist eine Prüfungskonzeption erforderlich, die geeignet ist, die berufliche Handlungskompetenz der Prüfungsteilnehmer gültig zu erfassen und damit auch zertifizieren zu können. Dazu ist zu klären, an welchem Leitbild sich kompetenzorientierte Prüfungen orientieren. Wie kann der Begriff der Handlungskompetenz verstanden werden (vgl. Kap. 1.2)? Welche Problematik geht mit der Erfassung von Handlungskompetenz einher (vgl. Kap. 2.2)? Zur Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Prüfungskonzeption müssen bestimmte Ansprüche an ihre Gestaltung und Durchführung erfüllt werden. Welchen Qualitätsansprüchen sollten Prüfungen allgemein und kompetenzorientierte berufliche Abschlussprüfung im Besonderen genügen (vgl. Kap. 2.3) und welchen Abhängigkeiten unterliegen sie (vgl. Kap. 2.4)? Daher stellt sich für diese Arbeit als zentrale Fragestellung: Welche zentralen Gütekriterien sind relevant und im Rahmen von beruflichen Abschlussprüfungen zu erfüllen, um berufliche Handlungsfähigkeit bzw. Handlungskompetenz gültig erfassen zu können?
Die Diskussion um die Erfassung von Kompetenzen spielt in berufspädagogischen und berufswissenschaftlichen Fragestellungen eine dominante Rolle. Aktuell kommt dem Kompetenzbegriff beispielsweise in der Debatte um nationale und europäische Qualifikationsrahmen und um die Anerkennung von informell erworbenen Kompetenzen eine zentrale Bedeutung zu[19].
Im Kontext der beruflichen Erstausbildung steht derzeit vor allem das berufliche Prüfungswesen im Focus der berufspädagogischen Forschung[20], so beschäftigen sich mehrere Modellversuche mit den Fragen, in welchem Ausmaß berufliche Handlungskompetenz durch Prüfungen überhaupt erfasst und bewertet werden kann und wie entsprechende Aufgabenstellungen auszusehen haben[21]. Damit wird nur angerissen, welch großes Feld die Diskussion um die Erfassung von Kompetenzen zurzeit, und nicht nur in der beruflichen Bildung, einnimmt.
Im Rahmen dieser Arbeit kann der Komplexität der Entwicklung von allgemein akzeptierbaren, kompetenzorientierten Prüfungsformen in der beruflichen Bildung nicht entsprochen, sondern nur ein sehr kleiner Ausschnitt beleuchtet werden. Daher wird in dieser Arbeit weder versucht, eine bestimmte Prüfungskonzeption zu evaluieren, noch allgemeingültige Kriterien für die inhaltliche und formale Gestaltung von Berufsabschlussprüfungen zu eruieren. Auf Formen der Messung und Bewertung von Prüfungsleistungen wird hier nicht eingegangen, da dazu (noch) keine etablierten Instrumente vorliegen[22]. Ebenso kann hier nicht eingegangen werden auf die zertifizierende Funktion der Abschlussprüfung in Form von Zugangsberechtigungen im Bildungssystem und im gesellschaftlich-ökonomischen Rahmen, sowie deren Einflüsse auf die Prüfungsgestaltung.
Ziel dieser Arbeit ist, aus der Perspektive einer Studierenden mit dem Ziel der Lehrtätigkeit an berufsbildenden Schulen, an denen der Unterricht in Berufsschulklassen den größten Anteil ausmacht[23], die Gestaltung der beruflichen Abschlussprüfung der Erstausbildung im dualen System der Berufsausbildung in Deutschland, anhand von zentralen Gütekriterien, hinsichtlich der gültigen Erfassung von beruflicher Handlungskompetenz zu analysieren.
Um Ansprüche und Problematik kompetenzorientierter beruflicher Abschlussprüfungen zu illustrieren (vgl. Kap. 3), und da die Prüfungsgestaltungen in den anerkannten Ausbildungsberufen nach § 4 BBiG uneinheitlich sind[24], wird eine derzeit durchgeführte Prüfung eines Berufes exemplarisch herangezogen. Dabei fiel aus berufsbiographischen Gründen die Wahl auf den Ausbildungsberuf Augenoptiker/in.
Im abschließenden Kapitel 4 soll, auf Grundlage der im Verlauf der Arbeit jeweils betrachteten, zentralen Gütekriterien (vgl. Kap. 2), eine Perspektive zur kompetenzorientierten Aufgabengestaltung in beruflichen Abschlussprüfungen eröffnet werden, mit der berufliche Handlungskompetenz, im Rahmen des dieser Arbeit zugrundeliegenden Kompetenzverständnisses (vgl. Kap. 1.2), gültig erfasst werden könnte.
1.2 Begriffsbestimmung
Der Begriff der beruflichen Handlungskompetenz spielt in der berufspädagogischen Diskussion und vor allem im Kontext berufliche Prüfungen eine herausragende Rolle[25]. Auch im Rahmen dieser Arbeit kommt der beruflichen Handlungskompetenz, fokussiert auf die Abschlussprüfung in der dualen Berufsausbildung, eine zentrale Bedeutung zu. Daher besteht die Notwendigkeit eines klaren Begriffsverständnisses zu Beginn dieser Arbeit.
Die Kompetenzorientierung in der Berufspädagogik hat ihre Wurzeln in der erziehungswissenschaftlichen Debatte um materiale und formale Bildung, sowie um die Schlüsselqualifikationen in den 1970er Jahren[26]. Maßgeblichen Einfluss auf das deutsche Kompetenzverständnis hat der emanzipatorische Kompetenzbegriff und dessen Dimensionen nach Roth aus dem Jahre 1971[27]. Das Roth´sche Kompetenzverständnis bildet auch die Grundlage für das Kompetenzkonstrukt der ´Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe` (KMK-Handreichung), die 1996 die berufliche Handlungskompetenz endgültig zum definierten Bildungsauftrag der Berufsschule erhob[28]. Die Handlungskompetenz wird dort „verstanden als die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten. Handlungskompetenz entfaltet sich in den Dimensionen von Fachkompetenz, Humankompetenz und Sozialkompetenz“[29].
Damit ergeben sich bei der Festlegung des für diese Arbeit zugrundeliegenden Kompetenzverständnisses Probleme. Angestrebt wird eine Begriffsbestimmung, die der berufspädagogischen Tradition eines Kompetenzkonzeptes, das die ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit im Sinne Roths und der KMK-Handreichung berücksichtigt[30]. Überdies bietet sich eine Orientierung an der KMK-Handreichung durch die Perspektive dieser Arbeit (vgl. Kap. 1.1) an, da sie eine curriculare Grundlage für Bildungsprozesse in der Berufsschule ist. Anderseits ist das KMK-Begriffsverständnis auf einer eher abstrakten Ebene angesiedelt, die für Kompetenzerfassung im Sinne dieser Arbeit wenig Hilfestellung zur Operationalisierung bereitstellt[31]. Daher erfolgt ein Blick auf ein Kompetenzkonstrukt, das nicht ausschließlich dem Bereich der beruflichen Bildung zugeordnet wird.
In der Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards (Klieme-Expertise) wird in Kompetenz die Disposition von Personen gesehen, um bestimmte Anforderungssituationen zu bewältigen[32]. Zwar erscheint dieses, in der allgemeinen Kompetenzdiskussion entfaltete Kompetenzverständnis weniger abstrakt, aber nicht ohne Weiteres auf die berufliche Bildung übertragbar zu sein[33]. Die Klieme-Expertise selbst grenzt dieses Verständnis explizit vom berufspädagogischen Kompetenzbegriff ab[34]. Ebenso beschränkt die dort vorgenommene Konkretisierung der Disposition als die „kognitiven [Hervorh. d. Verf.] Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten“[35], den Kompetenzbegriff zumindest methodisch, auf kognitive Aspekte und bestimmte Domänen ein[36]. Demgegenüber werden in der beruflichen Bildung Kompetenzen auch handlungstheoretisch[37], und mit Aebli als Einheit von Denken und Handeln interpretiert (vgl. Kap. 2.3.2). Allerdings benennt die Klieme-Expertise ihrerseits wiederum auch Handeln als eine der Facetten von Kompetenz[38]. Der Stellenwert des Handelns ist im Konzept der Handlungskompetenz auch innerhalb der berufspädagogischen Diskussion, z. B. im Kontext prüfungsdidaktischer Pilotprojekte, umstritten (vgl. Kap. 2.4.3)[39].
Die zahlreichen Differenzierungen und Kontroversen zum Begriffsverständnis können im Rahmen dieser Arbeit nicht ausdifferenziert werden. Festzuhalten bleibt, eine eindeutige und allgemein verbindliche Definition für berufliche Handlungskompetenz gibt es derzeit nicht[40], auch wenn über einige Merkmale von Handlungskompetenz, beispielsweise Subjektbezug, Performanzbezug und die Differenzierung in Dimensionen, Konsens zu verzeichnen ist[41]. Weitgehende Einigkeit besteht im Verständnis von Kompetenz als eine relativ stabile, aber durch Lernen veränderbare Disposition für erfolgreiches Handeln[42], womit allerdings der Bezug auf konkrete Kontexte für das entsprechende Handeln nötig sein dürfte.
Für diese Arbeit ist ein klares und operationalisierbares Kompetenzverständnis notwendig. Daher wird im Bewusstsein der angesprochenen Problematik, hier auf das Begriffsverständnis der Klieme-Expertise, allerdings ohne die Reduktion auf kognitive Leistungen, „und in dem normativen ´Bedeutungsüberhang`, der mit dem Ziel des selbstverantwortlichen Handelns verbunden ist“, zurückgegriffen[43].
Die berufliche Handlungskompetenz wird in dieser Arbeit verstanden als eine
„Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“[44].
Zur erfolgreichen Bewältigung einer bestimmten problemhaltigen Anforderungssituation verfügt die handlungsfähige Person über ein Bündel von Eigenschaften, Kenntnissen und Fertigkeiten, die laut Bohlinger als Kompetenzdimensionen zu verstehen sind[45]. Diesem Verständnis wird hier gefolgt und die o. g. Disposition unter Bezug auf Roth als verantwortliche Handlungsfähigkeit in den Dimensionen Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz verstanden[46]. Über dieses Schema besteht in der deutschen Diskussion weitgehend Konsens[47], und dementsprechend weist die KMK-Handreichung die Kompetenzdimensionen als Fach-, Human- und Sozialkompetenz aus[48].
Die Fachkompetenz, die Reetz als berufsspezifische Form der Sachkompetenz versteht[49], wird von der KMK bezeichnet als „die Bereitschaft und Befähigung […] Probleme zielorientiert, sachgerecht, methodengeleitet und selbstständig zu lösen und das Ergebnis zu beurteilen“[50]. Damit wird das berufsfachliche Wissen und die prozessbezogene Handlungsfähigkeit in Bezug auf das Lösen von Problemen betont[51], in einer Formulierung, die an das Prinzip der vollständigen Handlung erinnert.
Selbstkompetenz, in der KMK-Handreichung als Humankompetenz tituliert, umfasst motivationale und metakognitive Fähigkeiten[52], die neben personalen Eigenschaften, wie z. B. Kritikfähigkeit und Zuverlässigkeit, auch die „Entwicklung durchdachter Wertvorstellungen und die selbstbestimmte Bindung an Werte“ umfasst[53]. Damit werden die internen Bedingungen für Handlungskompetenz als ein individueller Aspekt angesprochen, der in Kap. 2.3.2 in Bezug auf Gestaltungskriterien wieder aufgegriffen wird.
Die Kompetenzdimension Sozialkompetenz bezieht sich auf sozialbezogene und kommunikative Fähigkeiten[54], und die Fähigkeit „sich mit Anderen rational und verantwortungsbewusst auseinander zu setzen und zu verständigen“[55]. Damit kann die ´mündliche Ausdrucksfähigkeit` als ein Aspekt der sozialen Kompetenz angesehen werden (vgl. Kap. 3.4).
Die KMK-Handreichung benennt darüber hinaus die Methoden- und Lernkompetenz, sowie die kommunikative Kompetenz als integralen Bestandteil der drei genannten Kompetenzdimensionen[56]. Die Methodenkompetenz bezeichnet die Disposition, Methoden selbstständig einzusetzen und weiterzuentwickeln[57]. Die kommunikative Kompetenz beschreibt die Disposition, eigene und fremde Absichten und Bedürfnisse darzustellen, wahrzunehmen und zu verstehen. Zur Lernkompetenz gehören das Verstehen, Auswerten und Einordnen von Informationen, sowie die Weiterentwicklung von Lerntechniken und deren Nutzung für lebenslanges Lernen.[58]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übersicht 1.1: Merkmale beruflicher Handlungskompetenz[59]
Die Übersicht 1.1 verdeutlicht das für diese Arbeit zugrundegelegte ganzheitliche Konzept von Handlungskompetenz. Die Handlungskompetenz einer Person wird hier verstanden als subjektbezogene, komplexe interne Bedingung (vgl. Kap. 2.2), die sich als Disposition aus einem Bündel sich gegenseitig ergänzender kognitiver, motivationaler, volitionaler und sozialer Kompetenzdimensionen zusammensetzt, und Personen zur systematischen Problemlösung befähigt[60], die sich sowohl als Kenntnisse, Fertigkeiten und Routinen charakterisieren lassen[61]. Die begriffliche Füllung des im Begriffsverständnis enthaltenen Passus ´konkrete Anforderungssituationen`, wird in Kap. 3.2 behandelt.
Für das hier gewählte Begriffsverständnis spricht einerseits die enthaltene Perspektive zur Operationalisierung der Handlungskompetenz. Durch den Bezug auf das Modell der vollständigen Handlung könnte das in der Definition verankerte Ziel des Problemlösens eine Option zur Erfassung von Handlungskompetenz bieten (vgl. Kap 2.4.3). Ebenso wird mit dem Verständnis von Disposition als interne Bedingung, deren Voraussetzung die Kompetenzdimensionen entsprechend der KMK-Handreichung sind, der Verfasserperspektive (vgl. Kap. 1.1) entsprochen.
1.3 Methodisches Vorgehen
In dieser Arbeit sollen auf hermeneutischem Weg zentrale Gütekriterien für berufliche Abschlussprüfungen im dualen System der Berufsausbildung in Deutschland zur gültigen Erfassung von beruflicher Handlungskompetenz, sowie ihre Problematik, herausgestellt werden.
Dazu erfolgte die Literaturrecherche in der Literaturdatenbank des Fachinformationssystems Bildung (FIS-Bildung), sowie im Bibliothekskatalog der Universitätsbibliothek Osnabrück unter den Suchbegriffen Kompetenzorientierung, Handlungskompetenz, Handlungsorientierung und Abschlussprüfung. Zunächst wurden in der gefundenen Literatur verschiedene Kompetenzkonstrukte gesichtet und das für diese Arbeit zugrundegelegte Verständnis von Handlungskompetenz festgelegt (vgl. Kap. 1.2). Anschließend wurde die prüfungsdidaktische Literatur bearbeitet unter der Fragestellung, welche zentralen Gütekriterien relevant und im Rahmen von beruflichen Abschlussprüfungen zu erfüllen sind, um berufliche Handlungsfähigkeit bzw. Handlungskompetenz erfassen zu können. Die ermittelten zentralen Gütekriterien für Prüfungen allgemein und für kompetenzorientierte berufliche Abschlussprüfungen im Speziellen werden dargestellt (vgl. Kap. 2.3), und diejenigen Kriterien, die in der Fachdiskussion als besonders relevant herausgestellt werden, werden diskutiert (vgl. Kap. 2.4).
Im Zuge der Lektüre wurde die Abhängigkeit der Prüfungsgestaltung von den Vorgaben in den Ordnungsmitteln der Berufsausbildung deutlich. Aus diesem Grund wurde die Recherche auf die Begriffe Ausbildungsordnung, Rahmenlehrplan und KMK-Handreichung ausgeweitet. Die prüfungsdidaktische Fachliteratur betont die Relevanz des Ausbildungsberufsbildes für die valide Gestaltung der Abschlussprüfung[62], daher erfolgt in Kap. 3.2 eine qualitative Inhaltsanalyse des Ausbildungsberufsbildes im Ausbildungsberuf Augenoptiker/in. Die Ergebnisse und die im Verlauf der Arbeit als zentral herausgestellten Ansprüche und Problematik werden in Kap. 3.3 anhand der beispielhaft gewählten Prüfungskonzeption illustriert. In Kap. 3.4 wird diese Prüfungskonzeption auf Grundlage der Ergebnisse der Arbeit, an dem für diese Arbeit festgelegten Kompetenzverständnis gespiegelt, um auf dieser Grundlage in Kap. 4 eine Perspektive zur gültigen Erfassung der beruflichen Handlungskompetenz in Berufsabschlussprüfungen zu eröffnen.
2 Diskussion zur Qualität kompetenzorientierter beruflicher Abschlussprüfungen
Das Zertifikat über die erfolgreich bestandene Abschlussprüfung dokumentiert nicht nur die geprüfte Leistungsfähigkeit, sondern ist, neben weiteren Funktionen, das wichtigste Allokationsinstrument beim Übergang in die Berufstätigkeit[63]. Daher werden für Berufsabschlussprüfungen Forderungen nach qualitativen Standards erhoben, die zunächst die Messgenauigkeit der Prüfungskonzeption in den Blick nehmen[64]. Aber sind Gültigkeit und Objektivität für kompetenzorientierte Prüfungen die primär zu erfüllenden Gütekriterien oder sind andere, bzw. zusätzliche Qualitätsindikatoren zu beachten?
2.1 Bedeutung der Abschlussprüfung in der dualen Berufsausbildung
Der Abschlussprüfung kommt im dualen System eine Schlüsselposition zu. Nicht nur in ihrer Funktion als ´Zielmarke` der Ausbildung, sondern weil sich in ihrem Kontext die prägnanteste Schnittstelle der beiden Lernortpartner bildet.
Die Berufsausbildung im dualen System erfolgt in den institutionell und rechtlich getrennten Bildungsträgern Berufsschule und ausbildender Betrieb in einem geordneten Ausbildungsgang, ohne übergeordnete Steuerungseinheit[65]. Die rechtliche Grundlage für die duale Berufsausbildung bilden das BBiG und die Ordnungsmittel der Berufsausbildung. Für die schulische Säule der Ausbildung dient der Rahmenlehrplan und für die Ausbildung im Betrieb die Ausbildungsordnung als sachlich-inhaltliche Grundlage[66], die jeweils u. a. eine zeitliche Gliederung der Ausbildungsinhalte, sowie Aussagen zum Bildungsauftrag und zu Zielen der Ausbildung, bzw. den Prüfungsanforderungen[67] enthalten (vgl. Kap. 2.4.2).
Trotz der institutionellen Trennung der beiden Lernorte gilt das traditionelle dualistische Verständnis über die Kenntnisvermittlung in der Berufsschule und die Vermittlung praktischer Fertigkeiten im Betrieb heute als überholt[68]. Vielmehr erfordert das Erreichen des gemeinsamen Ausbildungsziels, dem Prüfungserfolg der Auszubildenden und ihre Bewährung im beruflichen Handlungsfeld, eine enge Kooperation zwischen den Lernortpartnern, die sich in der beruflichen Abschlussprüfung bündelt.
Diese Sichtweise spiegelt sich auch in den rechtlichen Grundlagen für die duale Berufsausbildung. Das BBiG definiert den Prüfungsgegenstand unter Bezug auf beide Lernortpartner, denn „durch die Abschlussprüfung ist festzustellen, ob der Prüfling die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat […] und mit dem im Berufsschulunterricht zu vermittelnden […] Lehrstoff vertraut ist. Die Ausbildungsordnung ist zugrunde zu legen“[69] [Hervorh. d. Verf.].
Auch die jeweiligen Ordnungsmittel der beiden Lernortpartner zeigen wechselseitige Bezüge. In den Ausbildungsordnungen findet sich ausdrücklich der Hinweis auf „den im Berufsschulunterricht vermittelten Lehrstoff“[70]. Damit wird implizit auf den Rahmenlehrplan Bezug genommen. Umgekehrt beziehen sich die Zielvorgaben für den Unterricht in der Berufsschule explizit auch auf die Ausbildungsordnung. „Auf der Grundlage der Ausbildungsordnung und des Rahmenlehrplans, […] werden die Abschlußqualifikationen in einem anerkannten Ausbildungsberuf […] vermittelt“[71] [Hervorh. d. Verf.]. Durch diese wechselseitige Referenz der beiden komplementären Curricula steht in der Abschlussprüfung nicht nur das Zielerreichen der ausgebildeten Schüler/ Auszubildenden zur Evaluation, sondern hier reflektiert sich letztlich die Bildungsarbeit der beiden Lernortpartner[72]. Aus Sicht der Lehrenden in der Berufsschule ist die Abschlussprüfung daher nicht nur von Interesse, weil die im Unterricht vermittelten Inhalte Prüfungsgegenstand sind, sondern weil auch die Gestaltung der Abschlussprüfung rückwirkenden Einfluss auf den Unterricht hat (vgl. Kap. 1.1). Somit kann in der Abschlussprüfung ein Indikator für die Güte der dualen Berufsausbildung gesehen werden.
Darüber hinaus gilt die Abschlussprüfung im Kontext der Kompetenzorientierung, als ´Gelenkstelle` zwischen Berufsausbildung und anschließender beruflicher Tätigkeit[73], die eine prognostische Funktion erfüllt, indem von ihr eine Aussage über die Fähigkeiten der Absolventen im beruflichen Tätigkeitsfeld, sprich die berufliche Handlungskompetenz erwartet wird[74]. Um dieser prognostischen Funktion der Berufsabschlussprüfung gerecht zu werden, ist ein einheitlicher Begründungsrahmen für die Vermittlung der beruflichen Handlungsfähigkeit während der Ausbildung, ihrer Erfassung in der Prüfung und den Anforderungen in der Berufstätigkeit erforderlich (vgl. Kap. 2.4.4)[75].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übersicht 2.1: Konzeptionelle Anlage von Prüfungen[76]
Aus dieser komplexen Bedeutung der Abschlussprüfung ergeben sich qualitative Anforderungen an ihre Gestaltung und Durchführung, die im Konzept der Handlungskompetenz noch um einige Dimensionen reicher geworden sind. Im Folgenden werden Ansprüche an kompetenzorientierte Abschlussprüfungen und die sich daraus ergebenden Probleme dargestellt und diskutiert.
2.2 Zur Problematik der Erfassung beruflicher Handlungskompetenz
Die Leitbildfunktion der Handlungskompetenz in der beruflichen Bildung zieht konsequenterweise die Forderung nach kompetenzorientierten Prüfungen nach sich. Denn die Übereinstimmung der Prüfungskonzeption mit dem Ausbildungsziel[77] (vgl. Kap 2.4.2), sowie die prognostischen Funktion der Prüfung hinsichtlich der nachfolgenden beruflichen Tätigkeit (vgl. Kap. 2.1), sind wesentliche Voraussetzung für eine gültige Prüfung[78].
Dennoch zeigen sich im Rahmen der kompetenzorientierten Neugestaltung von Abschlussprüfungen, als auch in der aktuellen Diskussion zur Kompetenzerfassung in der beruflichen Bildung, die Schwierigkeiten der Operationalisierung komplexer Kompetenzkonstrukte[79]. Die zentralen Herausforderungen, die sich bei der Erfassung von Kompetenz in beruflichen Abschlussprüfung ergeben, werden im Folgenden thematisiert, während eine Konkretisierung auf die Messung, Diagnose und Beurteilung von Kompetenzen im Rahmen dieser Arbeit unterbleiben muss (vgl. Kap. 1.1).
Eine zentrale Problematik der Kompetenzerfassung ist das in Kap. 1.2 schon angesprochene Fehlen einer eindeutigen und allgemein verbindlichen Definition für berufliche Handlungskompetenz[80]. Ausgehend davon, welch große Präsenz der Begriff Kompetenz nicht nur in der Berufsbildung einnimmt, muss verwundern, wie wenig klar die Kompetenz als Begriff gefasst und einer Operationalisierung zugänglich gemacht werden kann[81]. Aber ein unklar definierter Prüfungsgegenstand erlaubt keine gültigen Aussagen zu seiner Erfassung[82], denn „nur, was vergleichend beschrieben, qualitativ charakterisiert und wo möglich quantitativ verglichen werden kann, wird wirklich begriffen und bleibt nicht bloß Begriff“[83]. Somit setzt ein sinnvolles Reden und ein vernünftiges Erfassen von Kompetenzen ein theoretisch begründetes Kompetenzmodell voraus[84], das derzeit noch nicht vorliegt. Ein Aspekt der Problematik des uneinheitlichen Begriffsverständnisses von Handlungskompetenz wird in Kap. 2.4.2 im Kontext der Gütekriterien noch einmal aufgegriffen.
Ein weiteres Problem ist im Begriff inhärent, denn der Begriff der Handlungskompetenz ist ein psychologisches Konstrukt, wie z. B. auch Intelligenz und Motivation, dessen theoretische Grundlagen keineswegs vollständig geklärt sind[85].
Bei der Kompetenz handelt es sich daher um ein Attribut, das einer Person aufgrund des Urteils eines Beobachters über bestimmte, beobachtbarere Verhaltensweisen zugeschrieben wird[86]. Auf die vielfach unterschiedlichen Theorien zur komplexen Interdependenz von Performanz und Kompetenz kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden, aber im Kontext von Kompetenzerfassung ist es wichtig, die Komplexität des Terminus Handlungskompetenz im Auge zu behalten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Kompetenz als dem internen Potential an Wissen und Fähigkeiten und dem beobachtbaren Verhalten, das aus der Kompetenz in Zusammenwirken mit emotionalen Aspekten jeweils aktuell erzeugt wird[87] [Hervorh. im Original]. Vielfach wird die Kompetenz als Ursache für Performanz angenommen und in zirkulärer Argumentation wird das beobachtbare Verhalten, bzw. die gezeigte Leistung als Indikator für Kompetenz gewertet. Fischer konstatiert, das Prozedere in dem Leistung als Indikator von Kompetenz angesehen werde, sei zwar gang und gäbe, aber wissenschaftlich gesehen, sehr unbefriedigend.[88]
Überdies bilden die gezeigten Fähigkeiten, im jeweiligen Situations- und Anforderungskontext nur den jeweils vom Individuum generierten, aktualisierten Teil des Potentials der beruflichen Handlungskompetenz ab[89]. Die internen Bedingungen einer Person und ihr Zusammenspiel mit der spezifischen, gezeigten Handlung stehen einer unmittelbaren Beobachtung nicht zur Verfügung[90]. Die berufliche Handlungskompetenz ist demnach für eine direkte Erfassung nicht zugänglich, sondern es müssen Wege gefunden werden, die die gültige Erfassung der Handlungskompetenz indirekt erlauben.
Das Fehlen einer allgemein gültigen Definition für Kompetenz wird weithin als ein Grundproblem der Kompetenzerfassung darstellt[91]. Ebenso wird die oben angesprochene Frage, ob vorhandene Kompetenzen auch tatsächlich im Verhalten bzw. Handeln aktualisiert werden, in der aktuellen Literatur diskutiert[92]. Im Rahmen dieser Arbeit kann dazu kein Lösungsansatz aufgezeigt werden. Dennoch sollen, bezogen auf das zugrunde gelegte Kompetenzverständnis und anhand von Qualitätsmerkmalen für kompetenzorientierte Prüfungen, Möglichkeiten zur gültigen Erfassung von beruflicher Handlungskompetenz in den Blick genommen werden.
Nach Erpenbeck/ von Rosenstiel muss Kompetenz als ein theoretischer Terminus konsequent im Rahmen einer spezifischen Theorie über Kompetenz behandelt werden[93]. Schließt dieser Gedanke die Kompetenzerfassung mit ein, müsste das jeweilige Kompetenzverständnis den spezifischen Rahmen der Kompetenzerfassung bilden. Damit könnte das hier verwendete Begriffsverständnis einen Weg zur Erfassung von beruflicher Handlungskompetenz eröffnen. Dieser Gedanke wird in Kap. 3.4 aufgegriffen und weiter verfolgt.
2.3 Darstellung zentraler Gütekriterien für berufliche Abschlussprüfungen
Die Bedeutung der Abschlussprüfung und einige problematische Aspekte in ihrem Kontext wurden bereits angesprochen. Daraus, und mit der Fragestellung dieser Arbeit (vgl. Kap. 1.1) stellt sich die Frage, welchen Qualitätsansprüchen die Gestaltung kompetenzorientierter Abschlussprüfungen genügen sollte.
Zunächst sind die traditionell bevorzugten, diagnostischen Gütekriterien zu nennen, die die testtheoretische Güte einer Prüfung ansprechen[94]. Allerdings sind, um Aussagen zur beruflichen Handlungskompetenz des Prüfungsteilnehmers machen zu können, bei der Gestaltung der Abschlussprüfung weitere, konzeptionelle Gütekriterien zu berücksichtigen.
2.3.1 Diagnostische Gütekriterien
Vorrangig werden für Prüfungen drei Hauptgütekriterien genannt. Die Validität, die Reliabilität und die Objektivität sind jene testtheoretisch-diagnostischen Gütekriterien, die für Leistungsmessungen allgemein gelten[95].
Um das Kriterium der Validität (Gültigkeit) zu erfüllen, muss eine Prüfungsaufgabe inhaltlich und formell das treffen, was erfasst werden soll[96]. Dazu ist eine Prüfungsgestaltung erforderlich, die in geeigneter Form wirklich das prüft, was die Prüfungsteilnehmer können sollen. In beruflichen Abschlussprüfungen soll festgestellt werden, „ob der Prüfling die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat“[97], für deren Erreichung die berufliche Handlungskompetenz als Indikator angesehen wird[98]. Damit zeigt sich die Abhängigkeit der Erfüllung des Gütekriteriums der Validität von der in Kap. 2.2 dargestellten grundsätzlichen Problematik der Kompetenzerfassung.
Mit der Zielvorgabe, die berufliche Handlungsfähigkeit zu erfassen, ist die Herausforderung verbunden, hinsichtlich der typischen Anforderungen in der beruflichen Praxis, eine hinreichend repräsentative und ständig aktualisierte Aufgabenauswahl zu treffen[99]. Ebenso wird durch die Orientierung an der aktuellen und realistischen Berufspraxis die prognostische Funktion der Abschlussprüfung (vgl. Kap. 2.1) erfüllt. Darüber hinaus ist die inhaltliche Validität einer Prüfung vom definierten Prüfungsgegenstand in den Ordnungsmitteln der dualen Berufsausbildung (vgl. Übersicht 2.2) abhängig. Dieser Aspekt wird in Kap. 2.4.2 weiter verfolgt.
[...]
[1] BBiG 2005: § 1
[2] Vgl. Meyer zu Ermgassen/ Zedler 2001: 9
[3] Vgl. Breuer 2001: 29
[4] Arnold 1998: 496
[5] Vgl. Ertl 2005: 23
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. Arnold 1998: 497 f
[8] Vgl. Ertl 2005: 24
[9] Vgl. Arnold 1998: 499
[10] Vgl. Ertl 2005: 24 f
[11] Vgl. Breuer 2005: 2
[12] Vgl. Sekretariat der KMK 1996: 2
[13] Vgl. Borch/ Weißmann 1999: 14
[14] Schelten 2004: 248
[15] Vgl. Metzger 2006: 3
[16] Vgl. Tramm/ Brand 2005: 1
[17] Vgl. Steinemann/ Gramlinger 2003: 11
[18] Vgl. Tramm/ Brand 2005: 1
[19] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 53
[20] Vgl. Haasler/ Rauner 2010: 79
[21] Vgl. Meyer zu Ermgassen/ Zedler 2001: 19
[22] Vgl. Haasler/ Rauner 2010: 77
[23] Vgl. Bonz 1995: 193
[24] Vgl. Reetz 2010: 112 f
[25] Vgl. Haasler/ Rauner 2010: 79
[26] Vgl. Seeber/ Nickolaus 2010: 10
[27] Vgl. Klieme/ Hartig 2007: 19
[28] Vgl. Breuer 2005: 2
[29] Sekretariat der KMK 2007: 10
[30] Vgl. Reetz 2010: 101
[31] Vgl. Baethge 2006: 23
[32] Vgl. Klieme et al. 2003: 72
[33] Vgl. Brand et al. 2005: 5
[34] Vgl. Klieme et al. 2003: 22
[35] Weinert 2001: 27 f
[36] Vgl. Brand et al. 2007: 6
[37] Vgl. Sloane/ Dilger 2005: 15
[38] Vgl. Klieme et al. 2003: 73
[39] Vgl. Reetz 2010: 104 und vgl. Haasler/ Katzenmeyer 2008: 205
[40] Vgl. Schmidt 2000: 12 f
[41] Vgl. Brand et al. 2005: 3 ff
[42] Vgl. Spöttl/ Musekamp 2009: 21
[43] Vgl. Klieme/ Hartig 2007: 21
[44] Klieme et al. 2003: 72
[45] Vgl. Bohlinger 2007: 121
[46] Vgl. Roth 1971: 180
[47] Vgl. Baethge 2006: 38
[48] Vgl. Sekretariat der KMK 2007: 10
[49] Vgl. Reetz 2010: 102
[50] Sekretariat der KMK 2007: 11
[51] Vgl. Sloane/ Dilger 2005: 6
[52] Vgl. ebd.
[53] Vgl. Sekretariat der KMK 2007: 11
[54] Vgl. Sloane/ Dilger 2005: 6
[55] Sekretariat der KMK 2007: 11
[56] Vgl. ebd.
[57] Vgl. Erpenbeck/ von Rosenstiel 2007: XXIV
[58] Vgl. Sekretariat der KMK 2007: 11
[59] Frank/ Schreiber 2006: 8
[60] Vgl. Haasler/ Rauner 2010: 89
[61] Vgl. Klieme et al. 2007: 6
[62] Vgl. Breuer 2005: 4
[63] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 10 f
[64] Vgl. Breuer 2001: 26
[65] Vgl. Schelten 2004: 65
[66] Vgl. Müller/ Bader 2004: 91
[67] Vgl. Twardy 2004: 275
[68] Vgl. Schmidt 1998: 17
[69] BBiG 2005: § 38
[70] Verordnung 1997: § 8 Abs. 1
[71] Sekretariat der KMK 1996: 1 f
[72] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 9
[73] Vgl. Breuer 2005: 4
[74] Vgl. Breuer 2001: 29
[75] Vgl. Breuer 2001: 31
[76] Ebd.
[77] Vgl. Reetz: 2005: 4 f
[78] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 62
[79] Vgl. Seeber/ Nickolaus 2010: 10
[80] Vgl. Schmidt 2000: 12 f
[81] Vgl. Erpenbeck/ von Rosenstiel 2007: XVII
[82] Vgl. Breuer 2006: 208
[83] Erpenbeck/ von Rosenstiel 2007: XVII
[84] Vgl. ebd.: XX
[85] Vgl. Fischer 2010: 238
[86] Vgl. Erpenbeck/ von Rosenstiel 2007: XVIII f
[87] Vgl. Reetz 2005: 2
[88] Vgl. Fischer 2010: 238
[89] Vgl. Reetz 2006: 305
[90] Vgl. Straka 2004: 76
[91] Vgl. Klieme et al. 2007: 6
[92] Vgl. Minnameier/ Berg 2010: 176
[93] Vgl. Erpenbeck/ von Rosenstiel 2007: XX
[94] Vgl. Reetz 2010: 110
[95] Vgl. Arnold 2001: 118
[96] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 57
[97] BBiG 2005: § 38
[98] Vgl. Haasler/ Rauner 2010: 79
[99] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 58
- Arbeit zitieren
- Ines Triphaus-Giere (Autor:in), 2010, Ansprüche und Problematik kompetenzorientierter Abschlussprüfungen im dualen System der Berufsausbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210318