Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wissenschaftliche Positionen zu Wissenschaft und Außenseitertum
3. Wissenschaft und Außenseitertum in Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“
3.1. Außenseiterstatus der Protagonisten
3.2. Gegenseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Außenseitertum anhand der Protagonisten
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit wird der Aspekt des Außenseitertums im Verhältnis zur Wissenschaft in Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ anhand der beiden Protagonisten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß beleuchtet. Aufgrund der Aktualität des Werkes ist der Forschungsstand bisher noch relativ wenig fortgeschritten. Am meisten Beachtung fand das Buch in der literarischen Diskussion bisher beim Thema der nur teilweise gegebenen Authentizität der Darstellung von Humboldt und Gauß, welche oftmals auf Kritik stieß, wobei die die Unterscheidung zwischen den realen, historischen Persönlichkeiten und der Fiktionalität der Romanfiguren wohl des Öfteren nicht ausreichend beachtet wurde. Insbesondere der der Arbeit zugrunde liegenden Aspekt „Wissenschaft und Außenseitertum“ ist jedoch in der Sekundärliteratur noch kaum speziell betrachtet worden.
Ausgehend von theoretischen Positionen wird in einer Textinterpretation untersucht, inwiefern die beiden Wissenschaftler im Roman durch ihre Genialität tatsächlich ausgegrenzt sind. Hierfür wird zunächst erläutert, inwiefern sich die beiden absoluten Insider ihrer jeweiligen Disziplinen dennoch als gesellschaftliche, soziale, politische, berufliche und zumindest im Fall von Humboldt auch geographische Außenseiter bezeichnen lassen. Zusätzlich wird die Frage aufgeworfen, ob ihr Außenseiterstatus konstitutiv für ihre wissenschaftliche Arbeit ist, oder umgekehrt ihre Wissenschaftlerrolle die Ausgegrenztheit bedingt.
2. Wissenschaftliche Positionen zu Wissenschaft und Außenseitertum
Als Grundlage und Ausgangspunkt für die im Hauptteil folgende Erörterung des Verhältnisses von Wissenschaft und Außenseitertum im zu interpretierenden Werk werden nun einige theoretische Positionen zu dieser Thematik angesprochen und daraus grundlegende Standpunkte und Blickwinkel abgeleitet.
Zunächst fällt im Hinblick auf die Forschungsliteratur auf, dass in der Literatur die Außenseiterthematik in der Wissenschaft hauptsächlich anhand von Einzelpersonen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen behandelt wird. Diese Betrachtungsweise ist insofern verständlich und naheliegend, dass der Begriff des Außenseiters die Andersartigkeit und Individualität der als Außenseiter bezeichneten Person impliziert, weshalb sich eine allgemeingültige, einzelfallübergreifende Betrachtung der Zusammenhänge von Wissenschaft und Außenseitertum schwierig bis unmöglich darstellt. Schließlich wäre eine ins Unübersichtliche abdriftende Differenzierung von Nöten, um dem Phänomen des Außenseiters in all seinen Ausprägungs- und Erscheinungsformen gerecht zu werden. Dennoch lassen sich einige Klassifizierungsversuche wagen.
Das Verhältnis von Wissenschaft und Rand- beziehungsweise Außenständigkeit wird in der Literatur vorallem in Disziplinen wie Philosophie, Literaturwissenschaften oder anderen Geisteswissenschaften beleuchtet. Naturwissenschaften oder Mathematik werden kaum betrachtet, obwohl die Tatsache, dass historische Persönlichkeiten der Naturwissenschaft zu ihren Lebzeiten oft als Außenseiter betrachtet wurden, deren Erkenntnisse oftmals erst später geschätzt wurden, nicht abzustreiten ist und naturwissenschaftliche Außenseiterpositionen durchaus auch gesellschaftliche Sprengkraft aufweisen können, wie etwa der jahrhundertelange Konflikt zwischen geozentrischen und heliozentrischem Weltbild, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass Jonathan Harwood seinen Aufsatz „Mandarine oder Aussenseiter? Selbstverständnis deutscher Naturwissenschaftler (1900-1933)“ mit der Frage „Kann es eine Soziologie naturwissenschaftlichen Wissens geben?“1 beginnt. Laut Harwood wird diese Frage von der klassischen Wissenssoziologie verneint, da sich nach deren Standpunkten naturwissenschaftliches Wissen unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen entwickle. Ab den sechziger Jahren entsteht jedoch eine neue Generation naturwissenschaftlich ausgebildeter Soziologen und Historiker, welche wissenssoziologische Theorien auch auf Erkenntnisprozesse der Naturwissenschaften beziehen.2 Harwood führt die verschiedenen naturwissenschaftlichen „Denkstile“ der Hochschullandschaft im wilhelminischen Deutschland vorallem - wie die klassische Wissenssoziologie -auf die soziale Herkunft, also Faktoren wie Gesellschaftsschichtzugehörigkeit und davon beeinflusst die Schulbildung zurück. So geht er davon aus, dass pragmatisch denkende Wissenschaftler eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammen und sich dadurch bedingt eher mit einer „bescheidenen Expertenrolle“ zufrieden geben, anstatt sich selbst als „Kulturträger“ zu verstehen.3 „Universalisten“ wären dagegen eher im Bildungsbürgertum einzuordnen und hätten somit eine höhere Schulbildung genossen.4 Es wird also eine Definition zugrunde gelegt, die das Außenseitertum in der Wissenschaft als Außenseitertum aufgrund anderer sozialer Herkunft sowie anderen Wissenschaftsverständnisses sieht. Die soziale Herkunft wird zwar keineswegs als determinativ für den jeweiligen Lebensweg angesehen, Harwood ist aber durchaus der Ansicht, dass sie den äußeren Rahmen schaffe, welche die persönliche Entwicklung des Individuums, wie etwa durch Schulbildung, beeinflusse.
Einen anderen Ansatz verfolgt Bernd Gräfrath in seinem Werk „Ketzer, Dilettanten und Genies - Grenzgänger der Philosophie“. Wie der Titel schon sagt, werden hier im Unterschied zu Harwood anhand von Einzelpersonen Außenseiter der Geistes- wissenschaft Philosophie betrachtet. Dennoch lassen sich aus Gräfraths Ansatz globale Strukturen ableiten, welche sich gegebenenfalls auch auf Außenseiter der Naturwissenschaft beziehen lassen, wie es die Romanfiguren Humboldt und Gauß sind:
Die Lage mag etwas anders sein bei naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die sich technologisch umsetzen lassen und somit einemüberzeugenden pragmatischen Test unterworfen werden können; aber auch für diesen Bereich kann nicht ausgeschlossen werden, da ß geniale Neuerungen nie allgemein bekannt werden - und damit auch nie so weit kommen, auf pragmatische Umsetzbarkeit geprüft zu werden. 5
Ein weiterer Unterschied zu Harwood besteht darin, dass Gräfrath Außenseiter als Außenseiter ihrer eigenen Wissenschaftsdisziplin betrachtet, die aufgrund äußerer Umständen nicht in ihrer wahren Bedeutung erkannt werden - zumindest nicht Zeit ihres Lebens. Er sieht sie also als diejenigen, „deren Werke in der philosophischen Geschichtsschreibung kaum auftauchen“6 und definiert sie somit über ihr berufliches Ansehen beziehungsweise ihren Erfolg, wobei er betont, dass Außenseiterstandpunkte nicht zwangsläufig bedeutender als gängige Thesen sein müssen.7 Den Außenseiterstatus als soziale Wesen außerhalb des Berufs klammert Gräfrath zunächst aus. Insgesamt klassifiziert er drei Typen von Außenseitern:
Ketzer, die etablierte Lehrmeinungen radikal in Frage stellen, Pioniere, die eine radikal neue Theorie vertreten und bestmöglich verteidigen, und Querdenker, die die traditionellen Forschungsgebiete ihres Faches transdisziplinär erweitern bzw.überschreiten.8
Des Weiteren differenziert Gräfrath neun typische Eigenschaften von Außenseitern, die allerdings weder notwendig noch hinreichend sind, was er mit dem „individualistischen Charakter origineller Denker“ begründet.9 Sie reichen von akademisch erfolglos über weltfremd und naiv bis zur Unfähigkeit, sich komplett in ihr Umfeld einzugliedern. Diese Eigenschaften werden unter Punkt 3.1 auf die Protagonisten Humboldt und Gauß angewandt und auf ihre Zutreffendheit untersucht. Als Grundlage zur Betrachtung dieses speziellen Aspekts wird jedoch zunächst der grundlegende Außenseiterstatus beiden Wissenschaftler grob analysiert.
3. Wissenschaft und Außenseitertum in Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“
3.1. Außenseiterstatus der Protagonisten
„Literatur gehorcht der Kategorie des Besonderen. (…) Sie behandelt stets Ausnahmefälle.“10 Im Gegenwartsroman „Die Vermessung der Welt“ stehen zwei absolute Ausnahmefälle der Wissenschaftsgeschichte im Mittelpunkt. Obwohl die Einordnung der Protagonisten Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt als Außenseiter nach der Lektüre des Romans nahe liegend erscheint, ist ihre Klassifizierung durchaus vielschichtig und variiert in den verschiedenen Lebensbereichen, in denen sich ihre Außenständigkeit partiell bis gar absolut erkennen lässt.
Auch wenn die Protagonisten schon allein aufgrund ihrer Tätigkeit als Wissenschaftler einander gegenübergestellt werden, werden sie dennoch als ausgegrenzte Individuen getrennt voneinander dargestellt, deren Andersartigkeit sich größtenteils in der Individualität ihrer Charaktere äußert. So grenzt sich Gauß schon im Kindesalter von seinem sozialen Umfeld durch seine angeborene Hochbegabung ab und auch im Erwachsenenalter scheint er kein Interesse daran zu haben, Teil der Gesellschaft zu werden. Seine Andersartigkeit wird ihm selbst vorallem anhand der Denkpause bewusst, die ihm jedes Mal auffällt, wenn er mit anderen Menschen kommuniziert und welche den Intelligenzunterschied zwischen ihm und seinen Mitmenschen verdeutlicht. Mit Johanna, seiner zukünftigen Frau, begegnet er der ersten Person, bei der die „Pause“ fehlt und sie wird zur einzigen Bezugsperson - bis auf seine alte Mutter - die er tatsächlich in sein Leben und in seine Gedankenwelt eintauchen lasst.11 Seiner Umwelt scheint dieser geistige Geschwindigkeitsunterschied, beziehungsweise ihre mit Gauß verglichene Denklahmheit, jedoch nicht aufzufallen. Sie sehen nur seine Reaktion darauf - den sozialen und gesellschaftlichen Rückzug.
Somit sind zwar die Voraussetzungen für seine Ausgegrenztheit durchaus per Geburt angelegt; dennoch entscheidet sich der Mathematiker in vielerlei Hinsicht bewusst für sein zurückgezogenes Leben, weshalb man durchaus von einem selbstgewählten Außenseitertum sprechen kann. An einer vertrauensvollen Beziehung zu seinem Sohn Egon scheint ihm beispielsweise schlichtweg nicht genug gelegen zu sein, um sich zu einem respektvollen Umgangston zu überwinden. Andererseits kann man seinen Rückzug zumindest in einigen Situationen auch als nicht intendiert, aber unumgänglich betrachten, da es ihm seine soziale Inkompetenz trotz bestem Willen unmöglich macht, angemessen zu handeln, wie es etwa bei der Hochzeit mit seiner Frau Johanna der Fall ist.
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1 Harwood, Jonathan: ‚Mandarine‘ oder ‚Aussenseiter‘? Selbstverständnis deutscher Naturwissenschaftler (1900-1933). In: Schriewer, Jürgen (Hrsg.): Sozialer Raum und akademische Kulturen. Peter Lang, Frankfurt am Main, Berlin, Bern New York, Paris, Wien 1993, S.183.
2 Ebd., S.183 ff.
3 Ebd., S. 191.
4 Ebd.
5 Gräfrath, Bernd: Ketzer, Dilettanten und Genies - Grenzgänger der Philosophie. Junius Verlag, Hamburg 1993, S.17f.
6 Ebd., S.12.
7 Ebd., S.19.
8 Ebd., S.10.
9 Ebd., S.29.
10 Mayer, Hans: Außenseiter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S.13.
11 Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2010, S.89ff. 5