Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Autorin Judith Hermann
2.1. Biographie und Werk
2.2. Die Autorin in den Medien
2.3. Das „Literarische Fräuleinwunder“
3. „Alice“
3.1. Inszenierung des Paratextes
3.2. Das Textinnere und die Autorin
3.3. Medienrezensionen
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Jahr 1998 gelang der 28-jährigen Judith Hermann ein Sensationserfolg. Ihr Erzähldebüt „Sommerhaus, später“ wurde innerhalb kürzester Zeit zum Verkaufsschlager. Doch von Anfang an war die Berliner Autorin Judith Hermann viel mehr eine Inszenierung der deutschen Feuilletons, der Verlage und der Medien im Allgemeinen als ein neues literarisches Phänomen. Ihre Erzählungen in „Sommerhaus, später“ wurden zum Seelensound ihrer Generation ausgerufen, und so wurde Judith Hermann zur Projektionsfläche für angesagte Stimmungen bei dreißigjährigen Berlinern und Lesern aus ganz Deutschland, die sich irgendwo zwischen Jugend und Beruf ansiedelten. Über zweihunderttausend Leser und Leserinnen nahmen die lobenden Kritiken namhafter Persönlichkeiten der literarischen Welt an, empfingen das Identifikationsangebot der Feuilletons dankend und feierten Judith Hermann als Stilikone ihrer eigenen Lebensweise.
2003 brachte die Autorin den Erzählband „Nichts als Gespenster“ heraus, 2009 schließlich ihr bisher letztes Buch „Alice“. Immer noch wird Judith Hermann aber an ihrem Erstlingswerk gemessen und steht damit unter hohem Erwartungsdruck. Doch die mittlerweile 42-jährige Autorin geht mit der Zeit; statt an einer Stimmung ihrer Generation aus den 90er Jahren festzuhalten, behandelt „Alice“ das für Judith Hermann und die Leser ihrer Generation aktuellere Thema „Älter werden“ und „Tod“.
Wie bei „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ wurde „Alice“, als das Buch auf den Markt kam, sehr medienwirksam in Szene gesetzt und inszeniert. Die Verlage, die Autorin und die Medien entwickeln dabei vor allem imageorientierte Verkaufskonzepte. In dieser Hausarbeit möchte ich versuchen zu erklären, wieso das „Phänomen Judith Hermann“, vor allem aber ihr Erfolg, überwiegend auf ein bestimmtes Image der Autorin zurückzuführen ist. Dabei sind die außertextlichen Elemente des Erzählbandes „Alice“, wie das Buchcover, das Autorenfoto, Rezensionen oder Interviews mit der Autorin, von hoher Bedeutung. Deswegen bildet der Paratext des Buches in dieser Arbeit einen Schwerpunkt.
2. Die Autorin Judith Hermann
2.1. Biographie und Werk
Judith Hermann wurde am 15.05.1970 in Berlin Tempelhof geboren. Nachdem sie ihr Studium der Germanistik, der Philosophie und der Musik abgebrochen hatte, machte sie eine Ausbildung an der Berliner Journalistenschule und absolvierte ein Zeitungspraktikum in New York. In den USA schrieb sie ihre ersten literarischen Texte, doch zunächst war sie als freie Radiojournalistin tätig. 1997 bewarb sie sich für das Alfred-Döblin-Stipendium an der Akademie der Künste in Berlin und hatte Erfolg.[1]
Im Jahr 1998 veröffentlichte die damals noch unbekannte Judith Hermann ihren ersten Erzählband „Sommerhaus, später“ im Fischer Verlag, der sie zur meist gefeierten Debütantin des Jahres machte. Dies wird vor allem an den Auszeichnungen, die Judith Hermann für ihr Erzähldebüt „Sommerhaus, später“ erhielt, deutlich. Dazu gehören der Literaturförderpreis der Stadt Bremen im Jahr 1998, der Hugo-Ball-Förderpreis im Jahr 1999 und der Kleist-Preis im Jahr 2001. Besonders der positiven Besprechung ihrer Texte im „Literarischen Quartett“ ist auch ein großer Teil des Erfolges zuzuschreiben. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete Judith Hermann als „hervorragende neue Autorin“ und prophezeite: „Ihr Erfolg wird groß sein.“[2] Weitere Texte der Autorin wurden deshalb mit großer Spannung erwartet. Doch Judith Hermann ließ sich fünf Jahre Zeit, bis ihr zweiter Erzählband „Nichts als Gespenster“ 2003 erschien. Die Verkaufszahlen waren durchweg positiv, aber die Kritik deutlich verhaltener und nicht mehr so überschwänglich wie bei „Sommerhaus, später“. Weitere sechs Jahre später, 2009, wurde Judith Hermanns dritter Band, „Alice“, veröffentlicht. In fünf Geschichten sieht sich die Protagonistin Alice mit dem Tod konfrontiert, der ihr jeweils in verschiedenen Beziehungskonstellationen begegnet. Für „Alice“ erhielt Judith Hermann den Friedrich-Hölderlin-Preis. Zurzeit lebt die Autorin mit ihrem Sohn in Berlin.
2.2. Die Autorin in den Medien
Nach Marcel Reich-Ranickis frenetischem Lob auf Judith Hermanns Debüt häuften sich die positiven Rezensionen in den Medien auf den Erzählband „Sommerhaus, später“. Dabei stand allerdings nicht nur der Text im Mittelpunkt, sondern in besonderer Weise auch das Portraitfoto, das Renate Mangold von der Autorin gemacht hatte und den Umschlag von „Sommerhaus, später“ zierte.
Die Aufnahme zeigt ein altertümlich wirkendes Madonnengesicht, von einem Pelzkragen umhüllt, eigentümlich schön, das melancholisch und leicht entrückt ins Leere blickt. Es wirkt, als sei es in den 20er Jahren entstanden und birgt dadurch etwas Geheimnisvolles, Unnahbares. Das Schwarz-Weiß-Foto erregte einerseits wegen des ungewöhnlichen Aussehens der Autorin Aufmerksamkeit, andererseits weil die Erzählungen und das Bild Judith Hermanns so eng miteinander verknüpft sind.[3] Die Aura des Fotos entspricht der Stimmung innerhalb der Erzählungen. Für die meisten Leser sahen die weiblichen Figuren der Geschichten aus wie die melancholische junge Frau auf dem Umschlag. Dadurch wird „das Autorenfoto auf dem Buchumschlag […] zum privilegierten Kontext, der zusätzlichen Aufschluss über das Werk verspricht.“[4] Auf diese Weise wurde ein „visuelles Autorenimage“ geschaffen, welches „entsprechend extensiv vermarktet und daher auch in zahlreichen Rezensionen berücksichtigt wurde.“[5] Judith Hermanns Portrait wurde quasi zum Markenzeichen der Autorin. Sowohl bei dem Erscheinen von „Nichts als Gespenster“ als auch bei „Alice“ gab es kaum ein Interview oder eine Kritik in den Printmedien, welche nicht mit dem Bild der Autorin geschmückt wurden. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger beschrieb dieses Phänomen in einer Sendung im Deutschlandradio folgendermaßen: „Das Bild war schon da, bevor es die Autorin gab. [...] Das Autorenfoto von Renate von Mangoldt ist der Schlüssel zu allem, was danach folgen sollte.“[6] Er hatte Recht. Die Rezensionen, die auf „Sommerhaus, später“ folgten, überschlugen sich mit lobenden Worten und Anerkennung, meistens mit Hinblick auf das Foto, also dem Aussehen, dem Alter und dem Image der jungen Berliner Neuerscheinung.
Der Kritiker Hellmuth Karasek bezeichnete Judith Hermanns Art zu Schreiben und die im Erzählband heraufbeschworene Atmosphäre als „Sound einer neuen Generation“.[7] Die Autorin schreibt im Gegensatz zu vorhergehenden Generationen weder vom Leben im Nachkriegsdeutschland, noch gehört sie zur sog. feministischen Bekenntnisliteratur. Ihre Geschichten sind weit entfernt von politischem, kämpferischem oder geschichtlichem Schreiben. Deshalb wurde Judith Hermanns Literatur schnell in die in den neunziger Jahren von Verlagen und Medien propagierte Sparte des „neuen Erzählens“ und der „neuen deutschen Pop-Literatur“ eingeordnet.[8] So wurde eine neue Literatur-Ikone geschaffen, die sich noch heute in Interviews viel mit Fragen zu ihrer Person in der Öffentlichkeit anstatt zu ihren literarischen Veröffentlichungen konfrontiert sieht.
David Hugendick und Wiebke Porombka von Zeit Online fragten die Autorin im April 2009 in einem Interviewe zu ihrer Neuerscheinung „Alice“ gezielt, was Judith Hermann selbst von der Stellung eines Autors in den Medien halte:
„ ZEIT ONLINE: […] wird man heute als Autor oder Autorin zwangsläufig zur Medienfigur gemacht?
Hermann: Man wird zwangsläufig zur Medienfigur gemacht und man ist als Autor auch ein wenig selber Schuld dran – ich begebe mich ja in den schwierigen Raum zwischen Leser und Buch […]
ZEIT ONLINE: Ist heutzutage der Autor nicht auch in einer gewissen Not, sich in den Mittelpunkt zu stellen?
Hermann: Ja, vielleicht. Es gibt eine gewisse Verpflichtung, gegenüber dem Verlag, dem Leser, mir selber, auf diesen Plätzen und Podien des Feuilletons aufzutauchen.“[9]
In Judith Hermanns Antworten wird klar, dass in der Literaturrezeption Aspekte wie das Auftreten eines Autors und eine gewisse Medienpräsenz eine zunehmend größere Rolle spielen und für die Schriftsteller schon fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind. So werden von den Verlagen, den Medien und den Autoren selbst mit der Aneignung bewährter Marketing- und Promotionsstrategien enorme Verkaufserfolge erzielt. Inszenierungsprozesse im Literaturbetrieb sind zwar nicht neu[10], aber gewinnen zunehmend an Gewicht. Die Tendenz gezielten Verlagsmarketings zur Umsatzsteigerung ist ansteigend.
[...]
[1] Vgl.: Sabine Pfäfflin: Auswahlkriterien für Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren 2010. S. 118.
[2] Ebd. S. 118.
[3] Vgl. Julia Kospach: Ich bin anders als meine Figuren. In: Berliner Zeitung 26/2003, S. 11.
[4] Jörg Döring: Hinterhaus, jetzt – Jugend, augenblicklich – Hurrikan später. Zum Paratext der Bücher von Judith Hermann. In: Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Christiane Caemmerer, Walter Delabar und Helga Meise. Frankfurt am Main: Lang 2005. S. 13-35, hier S. 23.
[5] Sabine Pfäfflin: Auswahlkriterien für Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht. S.119.
Sie verweist auf Rezensionen in den Printmedien von Markus Grill: Glück ist immer der Moment davor. In: Badische Zeitung, 5.12.1998, S. 1; Florian Illies: Die Traumwandlerin. Judith Hermanns erster Erzählband. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.1998, S. 5; Susanne Rehlein: Ein Gefühl der Irritation. In: die tageszeitung, 12.09.1998, S. 18.
[6] Helmut Böttiger: Nichts als Gespenster. Erzählungen. 09.02.2003 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/165700/ (Stand: 20.08.2012)
[7] Aussage Hellmuth Karaseks in der Sendung „Das literarische Quartett“ (ZDF) vom 30.10.1998. Vgl.: http://www.fischerverlage.de/buch/nichts_als_gespenster/9783596509539 (Stand: 20.08.2012)
[8] Vgl.: Sabine Pfäfflin: S. 146.
[9] David Hugendick und Wiebke Porombka: Für den Tod gibt‘s keine Sprache. Zeit Online 30.04.2009: http://www.zeit.de/online/2009/18/interview-judith-hermann (Stand 20.08.2012).
[10] Heidelinde Müller verweist hier auf die Inszenierung der Gruppe 47 als Medienereignis. vgl.: Heidelinde Müller: Das „literarische Fräuleinwunder“–Inszenierungen eines Medienphänomens. In: Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Ilse Nagelschmidt, Lea Müller-Dannhausen und Sandy Feldbacher. Berlin: Frank & Timme 2006. S. 39-54, hier S. 40.