Untersuchung des Kosovo-Konflikts mithilfe der Kovarianz-Analyse nach Benjamin Miller


Bachelorarbeit, 2012

44 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. „A Theory of Regional War and Peace“
2.1. Die s tate-to-nation balance als regionaler/innenpolitischer Faktor (UV1)
2.2. Das regionale Engagement von Großmächten als globaler Faktor (UV2)
2.3. Die liberale Kompatibilität einer Region (IV)
2.4. Faktoren, welche die state-to-nation balance beeinflussen (BV1, 2, 3)
2.5. Die Art des regionalen Friedens bzw. Kriegs (AV)
2.5.1. Die vier Arten regionaler Ordnung nach Miller
2.5.2. Die Kriegsanfälligkeit einer Region

3. Der Kosovo-Konflikt: Fallbeschreibung

4. Kovarianz-Analyse: Die Ursachen des Kosovo-Konflikts
4.1. Die interne Inkongruenz Serbiens (BV1)
4.2. Serbien/Jugoslawien – Ein schwacher Staat (BV2)
4.3. Die hohe state-to-nation incongruence (UV1)
4.4. Die Kooperation der Großmächte (UV2)
4.5. Das Resultat: Kalter Frieden (AV)

5. Fazit

6. Annex
6.1. Tabellenverzeichnis
6.1.1. Tabelle 1: Vier Typen von Staaten und ihre Auswirkungen auf die regionale state-to-nation balance
6.1.2. Tabelle 2: Vier Kategorien regionaler Ordnung
6.1.3. Tabelle 3: regionale Kriegsanfälligkeit
6.2. Dokumente
6.2.1. Das Dayton-Abkommen
6.2.2. Das Holbrooke-Milošević-Abkommen
6.2.3. Der Ahtisaari-Plan

7. Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Seit dem 10. September 2012 ist der Kosovo vollständig souverän. Vier Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit von Serbien am 17. Februar 2008 erlangte die Republik Kosovo ihre Selbstständigkeit – zuvor hatte die ehemalige serbische Provinz noch unter „Beaufsichtigung“ durch die internationale Gemeinschaft gestanden: Externe Akteure konnten über den Kosovo-Beauftragten Gesetze und Entscheidungen der Regierung korrigieren. Doch obwohl der Kosovo-Krieg schon seit mehr als zehn Jahren beendet ist und eine Vielzahl an Staaten seine Unabhängigkeit von Serbien anerkennt, kommt der junge Staat nicht zur Ruhe. Immer wieder kommt es zu Konflikten mit Serbien und/oder der serbischen Minderheit im Land. Sowohl Serbien als auch die Kosovo-Albaner erheben Anspruch auf das Gebiet des Kosovo: Für Serbien ist der Kosovo ein integraler Bestandteil seines Territoriums und die Unabhängigkeit der Provinz eine Verletzung der serbischen Souveränität. Für die Kosovo-Albaner hingegen ist die Unabhängigkeit ihres Staates eine teuer bezahlte Errungenschaft, für die sie jahrzehntelang gekämpft haben, und die sie nicht wieder aufgeben möchten. Der Kosovo ist ihr Staat, seine Unabhängigkeit Ausdruck ihres Rechts auf Selbstbestimmung. Seit mehreren Jahrhunderten streiten sich in diesem Konflikt die beiden ethnischen Gruppen um dasselbe Territorium, das für beide Gruppen Hauptausdruck ihrer nationalen Identität ist.

Benjamin Miller erklärt solche Konflikte mit seiner state-to-nation balance -Theorie: Er argumentiert, dass eine state-to-nation imbalance, also der Mangel an Übereinstimmung zwischen den Grenzen einer Region und den nationalen Zugehörigkeiten und der politischen Identifizierung der Bevölkerung mit den regionalen Staaten, die Hauptursache für regionale Konflikte sei. Die Tatsache, dass der Konflikt noch immer nicht vollständig beigelegt ist, ist laut seiner Theorie dem Einsatz der internationalen Gemeinschaft geschuldet: Externe Akteure könnten die zugrunde liegenden Probleme, also die state-to-nation imbalance, nicht beseitigen. Sie seien lediglich in der Lage, das Konfliktniveau zu senken und einen kalten Frieden zu schaffen. Weitere mögliche Folgen einer state-to-nation (im-)balance sind neben einem kalten Frieden ein warmer Frieden oder ein kalter bzw. heißer Krieg. Miller geht davon aus, dass verschiedene internationale und regionale Akteure auf unterschiedliche Art und Weise Einfluss auf den Verlauf und Ausgang eines Konfliktes nehmen können. Nur regionale Akteure könnten eine state-to-nation imbalance lösen, externe Akteure seien dazu nicht in der Lage. Eine imbalance zwischen der Einteilung einer Region in Staaten und ihrer Nationen hat laut Miller

„ crucial implications for international politics because of the centrality of the state as the key actor in the international system, and because of nations being the key political locus of identification or at least since the late eighteenth century. Moreover, national self-determination is a major norm legitimizing sovereignty in the international system, and a powerful motivation for people to fight for their independence.” (Miller 2007: 5)

In der vorliegenden Arbeit werde ich die Theorie Millers am Kosovo-Konflikt überprüfen. Zwar bezieht Miller seine Theorie auf ganze Regionen, Auslöser einer imbalance kann jedoch zunächst auch ein einzelner Staat sein. Aus Umfangsgründen, und um eine Oberflächlichkeit der Analyse zu vermeiden, betrachte ich lediglich den Kosovo-Konflikt als Teilkonflikt in der Balkanregion. Anhand einer Analyse dieses Konflikts möchte ich zeigen, wie die state-to-nation balance- Theorie sowohl die Entstehung als auch den Verlauf des Konflikts erklären, und wie umgekehrt der Kosovo-Konflikt die Erklärungskraft der Theorie stärken kann.

Dazu stelle ich im Folgenden zunächst die Theorie Millers dar (Kapitel 2), um sie nach einer kurzen Fallbeschreibung (Kapitel 3) auf den Kosovo anzuwenden. Diese Anwendung erfolgt im Rahmen einer Kovarianz-Analyse (Kapitel 4). Der Kosovo-Konflikt lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen; ich schränke den Betrachtungszeitraum für meine Analyse allerdings auf die Jahre 1989 bis 2008 ein. Dies ist nicht nur aus Gründen des Umfangs, sondern auch analytisch sinnvoll: Der Provinz Kosovo war zwar bereits vor 1989 immer wieder ein unterschiedliches Maß an Autonomie zugesprochen bzw. entzogen worden, bspw. 1941, als sie von Deutschland und Italien Albanien zugeteilt wurde, sowie 1974, als sie zu einer autonomen Provinz erklärt wurde. Aber erst die Aufhebung des Autonomiestatus im Jahr 1989 durch den Präsidenten der serbischen Republik, Slobodan Milošević, und der Verlust jeglicher Selbstbestimmung führte zu sezessionistischen Forderungen der Kosovo-Albaner. Im Jahr 2008 erreichten sie schließlich mit der Unabhängigkeit des Kosovos ihr Ziel.

Benjamin Miller selbst überprüft seine Theorie zwar u.a. an der Balkanregion, jedoch im Zeitraum von 1830 bis 1913 und nur in Bezug auf die gesamte Region. Ich möchte die Theorie nun im o.g. Zeitraum auf den Kosovo anwenden, um zu zeigen, dass mit Millers Theorie nicht nur Regionen, sondern auch einzelne Teilkonflikte analysiert und erklärt werden können. Zusätzlich ermöglicht diese Fallstudie eine genauere Analyse des Kosovo-Konflikts; in Millers Analyse spielt der Kosovo nur eine Nebenrolle, da er sich auf die ganze Balkanregion bezieht und somit eine explizite Analyse aller Teilkonflikte nicht möglich ist[1].

2. „A Theory of Regional War and Peace“

Miller zufolge hängt die Art des Friedens in einer Region bzw. deren Kriegsanfälligkeit v.a. von der state-to-nation (im-)balance ab. Diese bezieht sich auf die Kongruenz (bzw. das Fehlen derselben) zwischen der Einteilung der Region in Staaten und der Identifizierung der Bevölkerung mit diesen Staaten (Miller 2005: 230; Ders. 2007: 2):

„ [...] a state-to-nation imbalance is present when at least some of the states in the region are weak and there is a lack of compatibility between the regional states (entities or institutions administering a certain territory) and the national sentiments of the peoples in the region (that is their political aspirations of living as national communities in their own states).” (Miller 2007: 18)

Eine state-to-nation imbalance erhöht die Macht revisionistischer oder nationalistischer Kräfte, sowie der Staaten, die diese fördern, und verringert das Maß an staatlicher Kohärenz in der Region. Je mächtiger nationalistische oder revisionistische Kräfte und je niedriger das Maß an staatlicher Kohärenz, desto größer ist folglich die Kriegsanfälligkeit der Region (Ders. 2005: 230; Ders. 2007: 19). Die state-to-nation balance als regionaler bzw. innenpolitischer Faktor ist somit die unabhängige Variable (UV1). Außer ihr wirkt jedoch auch die Art des Engagements von Großmächten als globaler Faktor (UV2) auf die Art des regionalen Friedens bzw. Kriegs ein. Die Art des regionalen Friedens ist die abhängige Variable (AV). Das Maß der state-to-nation balance wird von mehreren Faktoren beeinflusst , die als bedingende Variablen auf dieses Maß einwirken: interne (BV1) und externe Kongruenz (BV2), sowie Stärke bzw. Schwäche des Staates (BV3). Eine intervenierende Variable ist die liberale Kompatibilität der Region (IV).

Kausalmodell 1:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung.

2.1 Die state-to-nation balance als regionaler/innenpolitischer Faktor (UV1)

Die regionale state-to-nation balance bezeichnet „the degree of congruence between the division of the region into territorial states and the national aspirations and political identifications of the region's peoples“ (Miller 2007: 2). Zusätzlich umfasst das Konzept auch die Verbreitung von schwachen und starken Staaten in einer Region. Miller unterscheidet zwischen einer state-to-nation balance und einer state-to-nation imbalance. Eine state-to-nation imbalance existiert, wenn die Einteilung der Region in Staaten und die nationale Identifizierung nicht kongruent sind, und zumindest einige der regionalen Staaten schwache Staaten sind (Ebd.). Diese Dimensionen der state-to-nation balance bezeichnet Miller als hardware bzw. software einer Region: Das a) Ausmaß der Stärke bzw. Schwäche eines Staates bezieht sich auf den Aufbau staatlicher Strukturen (state-building) und ist somit die hardware; der b) Grad der Kongruenz zwischen den Grenzen und der nationalen Identifizierung bezieht sich auf die Bildung bzw. Entwicklung einer Nation (nation-building) und ist somit die software (Miller 2007: 54, 100).

a Stärke bzw. Schwäche eines Staates (Erfolg des state-building)

Schwachen Staaten mangelt es an effektiven Institutionen und Ressourcen; sie verfügen nicht über das Gewaltmonopol in ihrem Territorium. Außerdem existiert kein effektives Strafverfolgungssystem, wodurch der Staat nicht in der Lage ist, innerhalb seines Territoriums Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten und für Sicherheit zu sorgen. Starke Staaten hingegen verfügen innerhalb ihres Territoriums über das Gewaltmonopol und ein effektives Set an Institutionen (vgl. Ders.: 54).

a Grad der Kongruenz (Erfolgs des nation-building)

Der Grad der Kongruenz wird vom Verhältnis zwischen den geopolitischen Grenzen der Region und nationalen Ansprüchen und Identitäten ihrer Völker bestimmt, d.h. vom Ausmaß, in dem die Einteilung in Territorialstaaten die nationalen Zugehörigkeiten der Bevölkerungsgruppen der Region sowie ihre Bestrebungen, Staaten zu gründen und/ oder Grenzen zu verändern, widerspiegelt. Eine hohe Kongruenz liegt vor, wenn sich die Bevölkerungsgruppen der Region mit den existierenden Staaten identifizieren und deren Grenzen akzeptieren. Diese Akzeptanz kann auf eine ethnische Homogenität der Staaten zurückzuführen sein, oder auf bürgerlichen Nationalismus, civic nationalism [2]. Bürgerliche Nationen, civic nations, teilen kulturelle Eigenschaften, weisen aber in der Regel eine multiethnische Zusammensetzung auf (vgl. Miller 2007: 55f).

Die Grenzen einer Region können auf zwei Arten inkongruent sein: Es kann zu wenige Staaten geben, d.h., eine einzige geopolitische Einheit umfasst zahlreiche nationale Gruppen (interne Inkongruenz), oder zu viele Staaten, d.h., eine einzige nationale Gruppe lebt in mehr als einer geopolitischen Einheit (externe Inkongruenz). Die regionale state-to-nation Kongruenz kann also mithilfe der beiden Maße interne Kongruenz (Anteil der Staaten einer Region, in denen mehr als eine nationale Gruppe lebt) und externe Kongruenz (Anteil der Staaten einer Region, deren Mehrheitsbevölkerungsgruppe in beträchtlicher Zahl entweder als Mehrheit oder als Minderheit ebenfalls in Nachbar- oder anderen regionalen Staaten vertreten ist) erfasst werden. Je größer diese beiden Inkongruenzen, desto höher ist die state-to-nation Inkongruenz in einer Region. Diese Inkongruenz führt zur Unzufriedenheit mit dem Status Quo und somit zur Infragestellung und Herausforderung des bestehenden regionalen Staatensystem – entweder von innerhalb oder außerhalb der inkongruenten Staaten (vgl. Ders. 2005: 233; Ders. 2007: 56). Interne Herausforderungen können sich in Form subnationaler ethnischer Gruppen äußern, die eine Abspaltung vom Staat anstreben und die Gründung neuer Staaten fordern, um ihr Selbstbestimmungsrecht[3] zu verwirklichen. Diese Gruppen argumentieren, es gebe zu wenige Staaten. Pan-nationale Bewegungen oder irredentistische Forderungen nach Gebieten von anderen Staaten hingegen zählen zu externen Herausforderungen. Diese Forderungen erfolgen auf der Basis nationaler Zugehörigkeit der Bevölkerung oder historisch-national begründeter Ansprüche auf das Gebiet. Pan-Nationale und irredentistische Bewegungen argumentieren, es gebe zu viele Staaten (vgl. Ders. 2007: 56f). Dabei gilt: “The greater the mismatch between state boundaries and the territorial extent of nations in the region imbued with ethnonational feelings, or with beliefs about national-historic rights to the territory, the stronger such nationalist forces will be.” (Ders.: 57)

Die unterschiedlichen Grade von (Miss-)Erfolg in Bezug auf state- und nation-building führen zur Entstehung von vier verschiedenen Typen von Staaten: Status-Quo-Staaten, revisionistische Staaten, frontier states, und inkohärenten bzw. failed states [4]. Dominieren in einer Region starke und kongruente Staaten (Status-Quo-Staaten), existiert eine hohe regionale state-to-nation balance. Dominieren in einer Region hingegen starke und inkongruente (revisionistische Staaten) oder schwache und kongruente bzw. inkongruente Staaten (frontier bzw. failed states), liegt eine regionale state-to-nation imbalance vor. Das Maß der imbalance ist in diesen Fällen abhängig von der Staatsschwäche und internen Inkongruenz der jeweiligen Staatstypen (vgl. Miller 2007: 58f).

2.2 Das regionale Engagement von Großmächten als globaler Faktor (UV2)

Neben dem regionalen Aspekt der state-to-nation balance spielen auch globale Faktoren eine Rolle, insbesondere die Art des regionalen Engagements von Großmächten[5]. Dabei ist die Anzahl der Großmächte im internationalen System irrelevant, da das Gleichgewicht ihrer Interessen sowie ihre Ressourcen ausschlaggebend für die Form ihres regionalen Engagements sind. Miller erarbeitet vier Arten regionalen Engagements: Konkurrenz, Kooperation, Dominanz, und disengagement (vgl. Miller 2007: 62).

- Konkurrenz: Die Großmächte konzentrieren sich darauf, den Gegner aus der Region auszuschließen oder zumindest zu verhindern, dass dieser sich zu einem Hegemon in der Region entwickelt, in der beide wichtige Interessen haben (Ebd.).
- Kooperation: Die Großmächte einigen sich auf gemeinsame Ziele in der Region und arbeiten zusammen, um diese zu erreichen (Ebd.).
- Dominanz: Eine Großmacht dominiert als Hegemon in der Region (Miller 2007: 63).
- Disengagement: Die Großmächte sind weder diplomatisch noch militärisch in den regionalen Konflikt eingebunden (davon ausgenommen sind spezifische, eingeschränkte Interventionen, bspw. zur Rettung von eigenen Staatsbürgern) (Ebd.).

2.3 Die liberale Kompatibilität einer Region (IV)

Die liberale Kompatibilität einer Region interveniert zwischen der state-to-nation balance (UV1) und der Art des Friedens bzw. Kriegs (AV). Sie bezieht sich darauf, ob alle Staaten der Region sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht liberal sind. Ein gewisses Maß an state-to-nation balance ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass der Faktor liberale Kompatibilität Auswirkungen haben kann (vgl. Miller 2007: 53, 61).

Miller definiert Staaten als politisch liberal, wenn sie liberale Demokratien sind, also freie und faire Wahlen stattfinden; der Staat die Menschenrechte achtet und die Rechtsstaatlichkeit aufrecht erhält; Gewaltenteilung vorliegt; und Grundrechte wie Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit geschützt werden. In ökonomischer Hinsicht sind Staaten liberal, wenn eine freie Marktwirtschaft, sowie Freihandel und eine wirtschaftliche Interdependenz zwischen den liberalen Staaten existieren. Stabile liberale Demokratien weisen ein hohes Maß an Kongruenz und innenpolitischer Legitimität auf. Da liberale Demokratie Miller zufolge eine vereinende Ideologie ist, führt eine regionale liberale Kompatibilität zu einer Status-Quo-Orientierung. Kohärente Staaten können allerdings auch zu Status-Quo-Staaten werden, wenn sie keine liberalen Demokratien sind (z.B. konservative Monarchien). Somit ist liberale Kompatibilität eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für eine Status-Quo-Orientierung (vgl. Ders.: 61f).

2.4 Faktoren, welche die state-to-nation balance beeinflussen (BV1, 2, 3)

Die beiden bedingenden Variablen interne (BV1) und externe Kongruenz (BV2) beeinflussen die state-to-nation balance. Die aus Inkongruenz resultierende Unzufriedenheit mit dem regionalen Status Quo kann sich auf zwei verschiedenen Arten manifestieren: innerstaatliche Herausforderungen (durch interne Inkongruenz verursacht) und zwischenstaatliche (durch externe Inkongruenz verursacht):

„ Internal incongruence, based on demography and history, and reinforced by state weakness, produce the domestic challenge of incoherence, most notably the threat of secession . External incongruence, based on demography and history and reinforced by state strength, generate the revisionist challenges, most notably pan-national unification and irredentism .(Miller 2007: 94f; Hervorhebung im Original)

a innerstaatliche Herausforderungen („domestic challenge of incoherence”)

Unter diese Art von Herausforderung fallen sowohl intern inkohärente Staaten als auch schwache Staaten bzw. failed states. Interne Inkohärenz kann drei Formen annehmen: Nationen ohne Staaten, Staaten ohne Nationen, und staatenlose Flüchtlinge (Ders.: 95f).

- Nationen ohne Staaten/zu wenige Staaten: Es existieren substaatliche ethnische Gruppen, die eine Abspaltung anstreben. Der Fall von „zu wenigen Staaten“ liegt vor, wenn es nationale Gruppen gibt, die unzufrieden sind, auf ihrem Selbstbestimmungsrecht bestehen, und eine Abspaltung fordern sowie die Gründung ihrer eigenen Staaten. Die Tendenz zu solchen Forderungen steigt, wenn die in den bestehenden Staaten dominierenden nationalen Gruppen intolerant gegenüber den politischen, sozialökonomischen und kulturellen Rechten von ethnischen Minderheiten sind: „ Such intolerance and ethnicity-based discrimination tends to increase the desire of oppressed ethnic groups to have their own independent states.” (vgl. Ders.: 95)

- Staaten ohne Nationen ist es misslungen, politische Gemeinschaften aufzubauen, die ihre territoriale Identität akzeptieren, und sich mit den Staaten insofern identifizieren, als dass diese ihre politischen Ansichten und Bestrebungen reflektieren (Ders.: 96).
- Staatenlose Flüchtlinge fordern das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat (Ebd.).

a zwischenstaatliche Herausforderungen („revisionist challenges”)

Diese Art der Herausforderung kann drei verschiedene Formen annehmen, die von der Verteilung von ethnischen Gruppen auf die regionalen Staaten abhängen. Eine oder mehrere ethnische Gruppen können in diesen Staaten entweder als Mehrheit oder als Minderheit leben (Miller 2007: 96):

- Mehrheit – Mehrheit/zu viele Staaten: Lebt eine ethnische Gruppe in zwei oder mehr Staaten als Mehrheit, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass revisionistische Staaten versuchen, eine nationale Vereinigung durchzuführen. Es existieren in diesem Fall „zu viele Staaten“ in Relation zur Anzahl an Nationen. Supra- oder pan-nationale Kräfte zweifeln die Legitimität bestehender Staaten an und rufen zur Vereinigung auf. Das führt dazu, dass die Staaten, deren Existenzrecht durch ihre revisionistischen Nachbarn angezweifelt wird, zu „illegitimen Staaten“ werden. Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von pan-nationalen Kräften und illegitimen Staaten steigt noch weiter an, wenn die Aufteilung einer ethnischen Nation gewaltsam erfolgte (vgl. Ders.: 97f).
- Mehrheit – Minderheit: Lebt eine ethnische Gruppe in einem Staat als Mehrheit und in einem oder mehreren Nachbarstaaten als Minderheit, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ersterer versucht, die Gebiete seiner Nachbarn, in denen die Minderheit lebt, anzuschließen. Diese Art von Revisionismus gipfelt im „Großstaat“[6] und führt schnell zu Konflikten. Die Wahrscheinlichkeit von Irredentismus steigt, wenn die Grenzen in der Region ethnische Nationen teilen, so dass ein beträchtlicher Anteil dieser Nation von dem Staat ausgeschlossen ist, der den Anspruch auf ihre Repräsentation erhebt bzw. der von dieser Gruppe dominiert wird (vgl. Ders.: 98).
- Minderheit – Minderheit: Eine gemeinsame ethnische Minderheit in benachbarten Staaten kann zu einer Status-Quo-Orientierung dieser Staaten führen. Es kann allerdings auch vorkommen, dass Staaten die rebellische Minderheit in einem Nachbarstaat unterstützen, um so diesen Staat zu schwächen (Ders.: 99).

Zu den die state-to-nation balance schwächenden Faktoren zählen somit Revisionismus und staatliche Inkohärenz. Die Wahrscheinlichkeit für letztere wird von zwei Hauptfaktoren beeinflusst, nämlich Demografie und Geschichte.

- Demografie: Die Verteilung von nationalen Gruppen in einer Region kann zwei Formen von Inkongruenz annehmen: Entweder leben mehrere nationale Gruppen in einem Staat, oder eine ethnische Gruppe lebt auf mehrere Staaten verteilt. Im ersten Fall steigt die Wahrscheinlichkeit für Sezessionismus unter zwei Bedingungen: 1) Mehrheitsgruppen sind eher dazu bereit, Gewalt anzuwenden, um unabhängig zu werden als Minderheiten. Folglich steigt die Anzahl der Abspaltungsversuche, je konzentrierter ethnische Mehrheiten in der Region leben. 2) Die Multinationalität eines Staates führt zu einer höheren Bereitschaft, solchen Bestrebungen gewaltsam zu entgegnen – aus Angst, durch die Abspaltung einer ethnischen Gruppe einen Präzedenzfall zu schaffen, der Abspaltungsversuche anderer ethnischer Gruppen innerhalb seines Territoriums nach sich ziehen könnte. Ist eine ethnische Nation auf mehrere Staaten verteilt, erhöht sich die imbalance, je größer die Verteilung ist (vgl. Ders.: 92f).

- Geschichte: Die Geschichte der Staaten und Nationen in der Region, d.h. die Geschichte von Staatsbildung und nationaler Unabhängigkeit, beeinflusst die state-to-nation balance sehr stark. Ging der Staat der Nation voraus, ist eine state-to-nation Kongruenz wahrscheinlicher. Ging dem Staat jedoch ethnischer Nationalismus voraus, ist eine Inkongruenz wahrscheinlicher. Im zweiten Fall werden einzelne Gebiete zum Hauptausdruck nationaler Identität, was v.a. dann problematisch ist, wenn sich die Grenzen und ethnische Demografie mit der Zeit mehrmals verändert haben. In vielen Fällen existieren konkurrierende nationalistische Forderungen in Bezug auf das selbe Gebiet, wobei die Ansprüche mit der eigenen Geschichte im Zusammenhang mit diesen Gebieten begründet werden. Diese Ansprüche können zusätzlich im Widerspruch zur derzeitigen Verteilung ethnischer Gruppen stehen (vgl. Ders.: 93f).

Es existieren allerdings auch Faktoren, die die state-to-nation balance stärken: interne Kongruenz, Stärke des Staates, und nationale Kongruenz (durch bürgerlichen oder territorialen Nationalismus: Staaten sind national kongruent, wenn die Grenzen mit der nationalen Loyalität der Bevölkerung übereinstimmen). In starken Staaten, die nicht national kongruent sind, kann ethnischer Nationalismus wieder aufflammen, sobald das Regimes schwächer wird (vgl. Miller 2007: 88ff). Interne und externe Inkongruenz sowie Staatsschwäche fördern somit eine state-to-nation imbalance, wohingegen interne und externe Kongruenz und Staatsstärke eine state-to-nation balance fördern.

[...]


[1] In Kapitel 4 seines Buches „States, Nations and the Great Powers“ überprüft Miller seine Theorie zusätzlich an der Region des Nahen Osten.

[2] Civic nationalism bedeutet, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation über Gebiet oder Staatsbürgerschaft definiert wird statt über Ethnizität, wie im ethnischen Nationalismus (Miller 2007: 90; Miller bezieht sich hier auf Kohn 1968; Smith 1986 und 2000; Greenfeld 1992; Kupchan 1995).

[3] Festgelegt in Art. 1 Abs. 2 der UN-Charta

[4] Für eine Übersicht und Einteilung von Regionen in diese Kategorien siehe Tabelle 1 im Annex 6.1.

[5] Miller definiert allerdings nicht, was er unter dem Begriff „Großmacht“ versteht.

[6] Revisionistische Staaten, die auf Gebiete außerhalb des eigenen Staatsterritoriums aufgrund der nationalen Identität der dort ansässigen Menschen oder aufgrund historischer Rechte Anspruch erheben; bspw. „Großsyrien“, „Großserbien“, etc. (Miller 2007: 98, 103).

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Untersuchung des Kosovo-Konflikts mithilfe der Kovarianz-Analyse nach Benjamin Miller
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
44
Katalognummer
V210632
ISBN (eBook)
9783656396680
ISBN (Buch)
9783656398356
Dateigröße
711 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kosovo-konflikt, eine, geschichte, state-to-nation, imbalance, ursache, konflikts
Arbeit zitieren
Anna Fuchs (Autor:in), 2012, Untersuchung des Kosovo-Konflikts mithilfe der Kovarianz-Analyse nach Benjamin Miller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210632

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Untersuchung des Kosovo-Konflikts mithilfe der Kovarianz-Analyse nach Benjamin Miller



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden