Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft in Berlin und Brandenburg. Unterschiedliche Voraussetzungen und den Wegfall der geschlossenen Heime


Diplomarbeit, 2003

78 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Rechtliche Möglichkeiten der Freiheitsentziehung
2.1 Definition der Freiheitsentziehung
2.2 Grundgesetz (GG)
2.3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
2.4 Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)
2.5 Jugendgerichtsgesetz (JGG)
2.5.1 Jugendarrest
2.5.2 Untersuchungshaft
2.5.3 Jugendstrafe

3 Vermeidung von Untersuchungshaft
3.1 Weisungen nach JGG
3.2 Maßnahmen des SGB VIII
3.3 Einstweilige Unterbringung
3.3.1 Untersuchungshaftvermeidung in Berlin

4 Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft in Berlin und Brandenburg
4.1 Die Jugendhilfeeinrichtung Frostenwalde
4.1.1 Entwicklung der Einrichtung
4.1.2 Rahmenbedingungen der Einrichtung
4.1.3 Rechtliche Voraussetzungen der Aufnahme
4.1.4 Aufnahmeverfahren
4.1.5 Betreuungskonzept
4.1.6 Praxis der Aufenthaltsgestaltung
4.1.7 Personelle Ausstattung
4.1.8 Finanzierung
4.1.9 Erfolg
4.2 Das Jugendaufbauwerk Berlin
4.2.1 Entwicklung der Einrichtung
4.2.2 Rahmenbedingungen der Einrichtung
4.2.3 Rechtliche Voraussetzungen der Aufnahme
4.2.4 Aufnahmeverfahren
4.2.5 Betreuungskonzept
4.2.6 Praxis der Aufenthaltsgestaltung
4.2.7 Personelle Ausstattung
4.2.8 Finanzierung
4.2.9 Erfolg

5 Geschlossene Unterbringung – Pro und Contra
5.1 Entwicklung
5.2 Diskussion
5.3 Bewertung der Alternativen

6 Fazit

Anhang

6.1 Gesetze
6.1.1 Grundgesetz
6.1.2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
6.1.3 Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)
6.1.4 Jugendgerichtsgesetz (JGG)
6.1.5 Strafprozeßordnung (StPO)
6.1.6 Jugendwohlfahrtsgesetz
6.2 Stationen für die Beschuldigten im Berliner Jugendstrafverfahren

7 Bibliographie

1 Einleitung

Pro und Contra von geschlossenen Heimen und von Untersuchungshaft für Kinder und Jugendliche sind in Deutschland spätestens seit der Heimkampagne[1] in den siebziger Jahren Gegenstand teils hitziger Debatten. Befürworter argumentierten aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus, daß Straftäter, egal welchen Alters, weggeschlossen und die Gesellschaft vor ihnen geschützt werden müsse[2], während Kritiker hervorhoben, daß Hilfe und Zwang unvereinbar seien und eine Ambivalenz zwischen Zuwendung und Ausgrenzung bestehe.[3] Der Gesetzgeber schloß sich der reformerischen Sichtweise an und liberalisierte das Jugendrecht. Das Jugendgerichtsgesetz wurde im Dezember 1990 durch sein erstes Änderungsgesetz (1. JGG-ÄndG) dahingehend geändert, daß die Voraussetzungen für Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft eingeschränkt, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf besondere Belastungen für Jugendliche eingeführt wurden.[4] Die eigenständige Rechtsgrundlage für die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen fiel mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, heute SGB VIII), welches am 01.01.1991 das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) ersetzte, völlig weg. Nach dem neuen Gesetz wurde das Eingriffsrecht fast vollständig auf die Gerichte übertragen, das Jugendamt hat nur noch Kompetenz in Eilfällen.[5] Die Überlegung hinter diesen Entscheidungen war pädagogischer Natur. Man erhoffte sich, den nachgewiesenen negativen Einwirkungen der Untersuchungshaft auf den Jugendlichen entgegenzuwirken und ihm die Verarbeitung seiner Tat zu ermöglichen.[6] Nicht zuletzt erwünschte man sich auch einen Rückgang der hohen Zahlen an Untersuchungshaftgefangenen. In Berlin reagierte man z. B. auf die veränderte Gesetzeslage durch die Schließung der geschlossenen Einrichtung „Haus Kieferngrund“, das lange Jahre die Vermeidung von Untersuchungshaft in einer geschlossenen Einrichtung praktizierte und der Einrichtung von offenen Angeboten bei freien Trägern. Im Gegensatz zur eigentlichen Intention ist jedoch kein Rückgang von Untersuchungshaftgefangenen eingetreten, sondern eine Zunahme. Gemessen an der Zahl der haftrichterlichen Vorführungen ist die Zahl der Untersuchungshaftbefehle von 21,6% im Jahr 1994 auf 36,9% im Jahr 1998 gestiegen.[7] In der vorliegenden Arbeit will ich erforschen, ob die Abschaffung der geschlossenen Heime zu einer Abnahme der repressiven Maßnahmen gegenüber Jugendlichen geführt hat, oder ob es, im Gegensatz dazu, zu einer Zunahme der Untersuchungshaftgefangenen gekommen ist. Dazu erläutere ich im folgenden Teil als Einstieg die Möglichkeiten, die das deutsche Recht zur Freiheitsentziehung bietet. Danach stelle ich jeweils die Berliner und die Brandenburger Einrichtung zur Vermeidung von Untersuchungshaft ausführlich vor. Im abschließenden Teil zeige ich die Entwicklung von geschlossener zu offener Unterbringung auf und gebe einen ausführlichen Einblick in die bisherige Diskussion, bevor ich zu einer abschließenden Bewertung der Alternativen zur geschlossenen Unterbringung komme.

In Brandenburg wird Untersuchungshaftvermeidung sehr erfolgreich durch die Jugendhilfeeinrichtung Frostwalde durchgeführt. Ich möchte mit dieser Arbeit ferner herausfinden, ob die unterschiedlichen geographischen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Berlin und Brandenburg eine Auswirkung auf die Effizienz der Träger haben.

2 Rechtliche Möglichkeiten der Freiheitsentziehung

2.1 Definition der Freiheitsentziehung

Eine freiheitsentziehende Maßnahme liegt dann vor, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit einer Person, unabhängig von Art, Weise oder Intensitätsgrad, beeinträchtigt ist. Freiheitsentziehung liegt dann vor, wenn jemand gegen seinen Willen an einem bestimmten, eng begrenzten Ort festgehalten wird. Freiheitsentziehung liegt ebenfalls vor, wenn zwar der konkrete Ort verlaßbar ist, nicht jedoch die Wohnung, die Einrichtung, das Gebäude usw., in der die Person untergebracht ist. Eingriffe in die Freiheit sind nach § 239 StGB strafbar.[8]

2.2 Grundgesetz (GG)

Artikel 2 Abs. 2 GG verankert die Freiheit der Person als Grundrecht im Grundgesetz und bestimmt gleichzeitig, daß in dieses Recht nur aufgrund eines Gesetzes, also einer vom Parlament erlassenen Rechtsnorm, eingegriffen werden darf. Da es sich dabei jedoch um ein sehr hohes Rechtsgut handelt, rechtfertigen nur besonders wichtige Gründe, in erster Linie die des Strafrechts, einen Eingriff. Dies geschieht zum Schutze der Allgemeinheit.

Artikel 2 ist im Hinblick auf die Freiheit der Person eng mit Artikel 104 verbunden. Dieser beschreibt die Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung im einzelnen. Es sind dies:

- Über die allgemeine Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung entscheidet ein Gesetz. Über die konkrete Zulässigkeit sowie die Fortdauer hat ausschließlich ein Richter zu entscheiden („Richtervorbehalt“). Beruht eine Freiheitsentziehung nicht auf einer richterlichen Anordnung, muß diese unverzüglich nachgeholt werden. Die Polizei darf selbständig niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach der Festnahme in Gewahrsam halten.
- Jeder auf Verdacht vorläufig Festgenommene muß spätestens am Tag nach der Festnahme einem Richter vorgeführt werden. Dieser muß ihm die Gründe für die Festnahme mitteilen, ihn vernehmen und ihm Gelegenheit geben, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Dies setzt voraus, daß der Angeklagte dem Richter persönlich vorgeführt wird. Der Richter muß daraufhin unverzüglich einen Haftbefehl erlassen oder die Freilassung anordnen.
- Vor der Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung muß unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens benachrichtigt werden.

Artikel 6 Abs. 3 GG regelt, daß Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden dürfen, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Damit ist der Staat befugt, die Eltern bei der Ausübung ihrer Rechte und Pflichten zu überwachen. Wenn das Kind durch mißbräuchliche Ausübung des Sorgerechtes, Vernachlässigung oder unsittliches Verhalten in Gefahr ist, kann er mittels des Familiengerichtes das Kind aus der Familie herausnehmen.[9]

2.3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Im § 1631 BGB wird der Inhalt der Personensorge folgendermaßen beschrieben: „Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.“[10] Dieses Recht wird jedoch in § 1631b BGB dahingehend eingeschränkt, daß das Familiengericht eine Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, genehmigen kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur dann zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist. Ist das Wohl des Kindes nicht mehr gefährdet, hat das Gericht die Genehmigung zurückzunehmen. (Die gleichen Paragraphen finden ebenfalls bei Vormundschaften (§ 1800 BGB) und Personensorgerechtspflegschaften (§ 1915 BGB) Anwendung.) Im Zivilrecht wird demnach eine Freiheitsentziehung nicht angeordnet, sondern durch das Familiengericht genehmigt. Der Richter hat an die Genehmigung einen strengen Maßstab anzulegen, außerdem ist die Freiheitsentziehung das letzte Mittel.[11]

In einer Schrift des Landesjugendamtes Brandenburg heißt es: „In der juristischen Fachwelt ist strittig, ob die Bestimmungen des § 1631b BGB verfassungskonform sind. In dem im Juli 1997 […] erstellten Gutachten […] „Die Zulässigkeit der geschlossenen Unterbringung Minderjähriger in Einrichtungen der Jugendhilfe“ wird die Position vertreten, Freiheitsentziehung über den Weg des § 1631b BGB sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.“

Ergänzend sei noch auf § 1666 BGB hingewiesen, in dem es heißt:„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Familiengericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen“[12] Demnach kann das Familiengericht eine Unterbringung außerhalb der Familie nicht nur anordnen, wenn Gefahr vom Kind ausgeht, sondern auch, wenn das Kind selbst in Gefahr ist.

2.4 Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)

Das SGB VIII sieht keine eigene Rechtsgrundlage für geschlossene Unterbringung in der Heimerziehung nach § 34 SGB VIII vor. Die einzige Ausnahme stellt § 42 SGB VIII dar, in dem die Inobhutnahme geregelt wird. Abs. 1 definiert Inobhutnahme als die vorläufige Unterbringung eines Kindes oder eines Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform.

Während der Inobhutnahme sind der Unterhalt und die Krankenversorgung des Minderjährigen sicherzustellen.

Das Jugendamt ist verpflichtet, dem Kind oder Jugendlichen unverzüglich Gelegenheit zur Benachrichtigung einer Vertrauensperson seiner Wahl zu geben. Die Vertrauensperson soll im Interesse des Minderjährigen Vermittlungsaufgaben übernehmen. Vertrauenspersonen können Freunde, Geschwister, Nachbarn, Lehrer usw. sein, also die Personen, zu denen der Minderjährige ein besonderes Vertrauensverhältnis hat. Bestehen seitens des Jugendamtes Bedenken gegen die Vertrauensperson (z. B. Zuhälter), kann das Jugendamt im Rahmen seiner u. g. Kompetenzen die Kontaktaufnahme verhindern. Dann muß jedoch die Benachrichtigung einer anderen Person ermöglicht werden.[13]

Aus Satz drei ergibt sich die Rechtsstellung des Jugendamtes: Das Jugendamt übt danach während der Inobhutnahme nur das Beaufsichtigungs-, Erziehungs- und Aufenthaltsbestimmungsrecht aus. Dabei ist der mutmaßliche Wille des Personensorgeberechtigten angemessen zu berücksichtigen, es bestehen also für das Jugendamt bestimmte Spielräume. Daß die Inobhutnahme eine rein sozialpädagogische Maßnahme ist, ergibt sich daraus, daß das Jugendamt für das Wohl des in Obhut genommenen zu sorgen, also sich um die Erfüllung seiner materiellen Grundbedürfnisse zu kümmern hat. Im Gesetz ist besonders die Pflicht zur Beratung und zum Aufzeigen von Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung erwähnt. Das Jugendamt hat in Abstimmung mit dem Kind oder Jugendlichen zu ermitteln, welche Hilfe erforderlich ist, also eine Perspektive zu entwickeln. Außerdem hat es den Fall mit den Sorgeberechtigten abzuklären und ggf. andere soziale Einrichtungen zu kontaktieren. Eine bloße Unterbringung, eine Verwahrung, entspricht demnach nicht der jugendhilferechtlichen Definition der Inobhutnahme.[14]

In den Absätzen zwei und drei sind die beiden möglichen Fallgruppen der Inobhutnahme geregelt. Die „Selbstmelder“ nach Abs. 2 und die „Fremdmelder“ nach Abs. 3.

Nach Abs. 2 ist das Jugendamt zur Inobhutnahme verpflichtet, wenn ein Kind oder Jugendlicher darum bittet. Es besteht hier also ein Rechtsanspruch. Die Bitte ist nicht an formelle oder inhaltliche Anforderungen gebunden. Die Notlage muß also nur nach der subjektiven Sichtweise des Minderjährigen bestehen. Die Inobhutnahme führt zu einer Verpflichtung, den Sorgeberechtigten unverzüglich zu benachrichtigen. Dabei ist zu klären, ob der Minderjährige die Information der Sorgeberechtigten wünscht. Ist dies nicht der Fall, ist zunächst zu versuchen, durch entsprechende sozialpädagogische Arbeit die Zustimmung zu erlangen. Sinn der Information ist nicht die reine Benachrichtigung, also das Sicherstellen, daß der Minderjährige z. B. nicht als vermißt gemeldet wird, sondern eine von allen Seiten getragene Perspektive zu entwickeln. Hieraus ergibt sich jedoch keine Pflicht zur detaillierten Information über die Inobhutnahme. Widerspricht der Sorgeberechtigte, muß das Jugendamt entweder die Inobhutnahme beenden und das Kind oder den Jugendlichen dem Sorgeberechtigten übergeben oder unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichtes herbeiführen. Letzteres gilt ebenfalls, wenn der Sorgeberechtigte nicht erreichbar ist. Dies soll jedoch nicht zu einem reinen Entweder-Oder führen. Vielmehr ist zu versuchen, durch sozialpädagogische Arbeit in Abstimmung mit allen Beteiligten zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung zu gelangen. Wenn gerichtliche Maßnahmen notwendig sind, ist nicht ausschließlich an den Entzug des Aufenthaltsbestimmungs- oder des Personensorgerechtes zu denken, sondern auch an individuelle Entscheidungen, wie die Genehmigung eines zeitlich befristeten Aufenthalts in einer Einrichtung.

Nach Abs. 3 ist das Jugendamt verpflichtet, einen Jugendlichen in Obhut zu nehmen, wenn dies wegen einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl erforderlich ist. Die Anlässe für die Gefährdung treten gegenüber dem Wohl des Minderjährigen zurück. So kann die Gefährdung auch von den Sorgeberechtigten selbst ausgehen. Konkret sind dies die Fälle, in denen ein Kind oder Jugendlicher z. B. von der Polizei in die Obhut des Jugendamtes gebracht wird, oder vom Jugendamt selbst aufgegriffen wird. Das Jugendamt hat damit die Möglichkeit, bei einer konkreten Kindeswohlgefährdung schnell reagieren zu können, ohne erst ein Gericht anrufen zu müssen. Die Gefahr für das Kindeswohl ergibt sich entsprechend des zivilrechtlichen Kindesschutzes aus § 1666 BGB. Droht eine Gefahr für Leib oder Leben des in Obhut genommenen oder eines Dritten ist unter der Voraussetzung ihrer Erforderlichkeit eine freiheitsentziehende Maßnahme, also eine geschlossene Unterbringung, möglich. Diese ist jedoch, soweit keine gerichtliche Entscheidung vorliegt, spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.[15] Die gerichtliche Entscheidung muß in jedem Fall, auch wenn die Freiheitsentziehung im genannten Zeitraum beendet wird, eingeholt werden. Schon allein, um die Recht- bzw. Unrechtmäßigkeit der Maßnahme festzustellen. Es ist dem Jugendamt also nicht möglich, einen Minderjährigen bis zum Ablauf des folgenden Tages in Gewahrsam zu nehmen und auf eine gerichtliche Entscheidung zu verzichten.

Die Möglichkeit der Jugendgerichtsbarkeit, auf Angebote der Jugendhilfe zuzugreifen, stellt eine Fortführung der mit der Einführung des SGB VIII abgeschafften eingriffsorientierten Sichtweise dar. Nach den Zielsetzungen des SGB VIII ist jedoch eine Verknüpfung von delinquentem Verhalten und sozialrechtlichen Folgen problematisch.[16] Zwischen dem SGB VIII und dem JGG kommt es daher zwangsläufig zum Konflikt.

2.5 Jugendgerichtsgesetz (JGG)

Freiheitsentziehung findet im JGG als Arrest nach § 16 JGG, als Untersuchungshaft nach §§ 72, 93 JGG und als Jugendstrafe (Strafhaft) nach §§ 17, 18 statt. Weitere Maßnahmen, nämlich

- die „einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe“ nach § 71 Abs. 2 JGG als vorläufige Anordnung zur Erziehung zur Bewahrung vor einer weiteren Gefährdung der Entwicklung und
- die einstweilige Unterbringung zur Vermeidung von Untersuchungshaft nach § 72 Abs. 4 JGG

folgen den Regelungen der Jugendhilfe.

2.5.1 Jugendarrest

Jugendarrest wird in Form von Freizeit-, Kurz-, und Dauerarrest als eines von drei Zuchtmitteln (Verwarnungen, Auflagen, Arrest) durchgeführt.

Freizeitarrest findet nur in der wöchentlichen Freizeit des Jugendlichen statt. Er muß mindestens eine Freizeit und darf höchstens zwei Freizeiten bemessen. Freizeit ist dabei die Zeit von Sonnabend 8.00 Uhr bis Montag 7.00 Uhr bzw. eine Stunde vor Dienstbeginn. Arbeitet der/die Verurteilte am Sonnabend, beginnt der Arrest erst um 15.00 Uhr. Die Entlassungszeit muß das rechtzeitige Erscheinen am Schul- bzw. Arbeitsplatz sichern. Kurzarrest wird statt des Freizeitarrestes ausgesprochen, wenn ein zusammenhängender Arrest aus Gründen der Erziehung zweckmäßiger erscheint. Er dauert mindestens zwei und höchstens vier Tage. Der Dauerarrest beträgt mindestens eine und höchstens vier Wochen.[17]

Der Jugendarrest ist formal keine Strafe (§ 13 Abs. 3 JGG), auch wenn er „inhaltlich repressiv-strafenden Charakter hat.“[18] Er soll den Verurteilten seelisch erschüttern und ihm bewußt machen, daß er an einem Scheideweg steht.“[19] Laut Bundesgerichtshof soll der Arrest „Ausgleich für begangenes Unrecht sein und durch seine Einflußnahme auf den Jugendlichen auch der Besserung dienen, ferner vermöge seines harten Vollzuges auch der Besserung dienen.“[20]

Während der Arrest bei seiner Einführung 1940 als das „modernste nationalsozialistische Erziehungsmittel“[21] und als das „Kernstück des deutschen Jugendstrafrechts“[22] bezeichnet wurde, ist er heutzutage stark umstritten. Laut Eisenberg „besteht weithin Einigkeit darin, daß dem JAsystem [Jugendarrestssystem] seither – und vorbehaltlich etwaigen Wandels […] eine erzieherische Funktion kaum beigemessen werden kann.“[23] Für Ostendorf ist gar „die Praxis des Freizeitarrestes […] für ein erzieherisches Strafkonzept mit Ausnahme weniger Reformanstalten beschämend.“[24] In einer vom Bundesministerium der Justiz in Auftrag gegebenen Untersuchung heißt es, daß der Jugendarrest im Grunde genommen nichts anderes sei, als eine Freiheitsstrafe ohne Eintrag ins Strafregister. Der Jugendarrest stelle in der derzeitigen Ausgestaltung keine geeignete Reaktion auf jugendliches Fehlverhalten dar.[25] Eine Reformbedürftigkeit des Jugendarrestes zeigt sich auch an der Tatsache, daß sich in mehreren Untersuchungen bei ehemaligen Arrestanden Rückfallquoten von 60-70% ergaben.[26]

Alternativ zum derzeitigen tatorientierten Arrestsystem wird in der Literatur ein opferbezogenes System der Schadenswiedergutmachung („Täter-Opfer-Ausgleich“) vorgeschlagen. Dabei wird der Konflikt zwischen Opfer und Täter unter der Aufsicht eines Vermittlers besprochen und bereinigt, und es erfolgt, soweit möglich, eine Wiedergutmachung des materiellen Schadens. Für den Täter bedeutet dies eine intensive Auseinandersetzung mit den Folgen seiner Tat. Das Opfer hat die Möglichkeit, seine Wut und Verletztheit auszudrücken und seine Ansprüche geltend zu machen. Die Wiedergutmachung kann in Form einer Entschuldigung, eines Schadenersatzes, einer Arbeitsleistung o. ä. erfolgen.[27]

2.5.2 Untersuchungshaft

Nach § 72 JGG ist die Verhängung von Untersuchungshaft auch gegen Jugendliche möglich. Die Vorschrift findet jedoch nur auf Jugendliche, nicht auf Heranwachsende Anwendung. Dies ergibt sich im Umkehrschluß aus § 109 JGG.[28]

Die Untersuchungshaft stellt insofern eine Besonderheit dar, da sie eine vorläufige richterliche Entscheidung vor der eigentlichen rechtskräftigen Verurteilung ist. Sie ist also Freiheitsentziehung ohne Verurteilung, allein auf den Verdacht der Ausübung einer Straftat hin. Sie ist jedoch verfassungskonform, da, wie in Art. 104 GG gefordert, die Entscheidung über den Haftbefehl allein ein Richter treffen kann. Weitere vorläufige richterliche Maßnahmen stellen vorläufige Anordnungen über die Erziehung nach § 71 JGG sowie die Unterbringung zur Beobachtung nach § 73 JGG dar. Diese Maßnahmen sind ebenfalls freiheitsentziehend.

Das Ziel der genannten Paragraphen ist es, „rechtzeitige Anordnungen zu treffen, entweder zum Zwecke der Erziehung (§ 71 Abs. 1, Abs. 2 [JGG]), um die Wiederholung von Straftaten zu verhindern (§ 71 Abs. 2; § 72 [JGG] i. V. m. § 112a StPO), zur Sicherung des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung (§ 72 [JGG] i. V. m. § 112 Strafprozeßordnung [StPO]) oder um eine sachverständige Entscheidungsgrundlage zu erhalten (§ 73 [JGG]).“[29] Ostendorf merkt kritisch an, daß die Gefahr einer Verdachtsstrafe nicht zu leugnen sei.[30]

Das 1. Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG) vom Dezember 1990 führte wichtige Neuerungen ein: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus § 72 Abs. 1 JGG wurde im Hinblick auf jugendspezifische Anforderungen konkretisiert sowie die Voraussetzungen für die Untersuchungshaft bei unter-16-jährigen (Abs. 2) erhöht. Diese Entwicklung liegt in der Tatsache begründet, daß die Verhängung von Untersuchungshaft die vorläufige Zwangsmaßnahme ist, die am stärksten in die Rechte des Bürgers eingreift. Bei Jugendlichen geht man zusätzlich von einer besonderen Belastung durch die Untersuchungshaft aus. Die Gründe dafür liegen in den fehlenden Möglichkeiten der Erziehung während der Inhaftierung, der leichten Beeinflußbarkeit Jugendlicher durch „erfahrene Straftäter“, und dem Fehlen von Bewältigungsmöglichkeiten in emotional belastenden Situationen aufgrund mangelnder Lebenserfahrung. Außerdem sind Jugendliche wegen ihrer geringeren Verbalisationsfähigkeit und dem Informationsmangel in Rechtsfragen gegenüber älteren Strafgefangenen schlechter gestellt.[31] Im Haftbefehl müssen daher die Gründe ausgeführt werden, weshalb andere Maßnahmen der Jugendhilfe nicht ausreichen, um das angestrebte Ziel zu erreichen und weshalb Untersuchungshaft im entsprechenden Fall nicht unverhältnismäßig ist. In der Begründung zum 1. JGGÄndG heißt es hierzu: „Diese Forderung des Gesetzes beruht in erster Linie auf erzieherischen Bedenken gegen die Verhängung und Vollstreckung von Untersuchungshaft wegen der negativen Folgen einer Inhaftierung. Gerade bei jugendlichen Gefangenen, die aufgrund ihrer noch in der Entwicklung begriffenen Persönlichkeit kaum in der Lage sind, die belastenden Situationen während der Untersuchungshaft, insbesondere die Trennung von der gewohnten sozialen Umwelt zu verarbeiten, werden die nachteiligen Folgen von Untersuchungshaft deutlich. Unter der räumlichen Unfreiheit leiden junge Menschen besonders stark, weil sie in eine Lebensphase fällt, die durch das Streben nach Entfaltung und Eigenständigkeit charakterisiert ist. Abgesehen von der Gefahr krimineller Ansteckung können die Folgen von Identitätsverlusten bis hin zu dauerhaften Störungen der seelischen Entwicklung reichen.“[32]

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sieht vor, daß Untersuchungshaft „notwendig, geeignet und angemessen im Hinblick auf ihr Ziel »Sicherung des Strafverfahrens und Strafvollstreckung«“[33] sein muß. Eisenberg schreibt, daß „U-Haft nur angeordnet und vollstreckt werden kann, wenn sie im Hinblick auf die Bedeutung der Sache […] und der zu erwartenden Rechtsfolgen angemessen erscheint […]; generalpräventive Erwägungen sind unzulässig.“[34] Untersuchungshaft ist dann nicht notwendig, wenn andere Maßnahmen, wie eine vorläufige Anordnung über die Erziehung nach § 71 JGG (z. B. die Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe), eine Betreuungsweisung nach § 10 JGG oder ein ernsthaftes Gespräch zwischen Richter und Angeklagtem(r) mit entsprechenden Zusagen, möglich sind. Die vordergründige Geeignetheit der Untersuchungshaft, die Durchführung des Strafverfahrens zu sichern, kann laut Ostendorf nicht geleugnet werden.[35] Es ist jedoch vielmehr die hintergründige Geeignetheit zu betrachten. Dagegen spricht u. a. wenn die negativen Folgen (Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung, Abbruch sozialer Beziehungen, Kontakte zu kriminellem Milieu usw.) durch etwaige positive Einwirkungen nicht mehr ausgeglichen werden können.[36] Untersuchungshaft ist dann unangemessen, wenn ihre Dauer in keinem angemessen Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und wenn keine Jugendstrafe zu erwarten ist.

§ 72 JGG nimmt hinsichtlich der Haftgründe Bezug auf § 112 StPO. Demnach sind die materiellen Voraussetzungen für Untersuchungshaft dringender Tatverdacht und das Bestehen eines Haftgrundes. Ein solcher wäre Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr.

Der dringende Tatverdacht ist in jedem Fall erforderlich, um Untersuchungshaft zu verhängen. Ein Beschuldigter ist dringend tatverdächtig, wenn er mit großer Wahrscheinlichkeit Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Dies ist nur der Fall, wenn die Tat rechtswidrig oder schuldhaft begangen wurde und keine Rechtfertigungsgründe, wie etwa Notwehr bestehen. Der Richter hat ferner zu prüfen, ob eine Verurteilung unter den vorliegenden Tatsachen wahrscheinlich ist. Bloße Vermutung reicht dabei nicht aus.[37]

Flucht liegt vor, wenn ein Beschuldigter sich der Strafverfolgung entzieht oder sich vor den Strafverfolgungsbehörden verbirgt. Ein deutscher Bürger ist flüchtig, wenn er aus dem Ausland nicht zurückkehrt, ein Ausländer ist nicht flüchtig, wenn die Reise in sein Heimatland nicht in Zusammenhang mit der Straftat steht.[38]

Fluchtgefahr ist gegeben, wenn es konkrete Anhaltspunkte gibt, die eine Flucht des Beschuldigten wahrscheinlich machen. Der Richter muß bei der Beurteilung der Fluchtgefahr nicht nur den Tatvorwurf, sondern auch Persönlichkeit, Lebensverhältnisse, Verhalten usw. vor und nach der Tat würdigen. Anhaltspunkte können sein: Häufiger Wohnorts- oder Arbeitsplatzwechsel, instabile Lebensbedingungen, falsche Papiere, fehlen von familiären oder beruflichen Bindungen, gute Beziehungen ins Ausland usw. Der Verdacht der Fluchtgefahr muß auf konkreten Tatsachen beruhen; Mutmaßungen reichen dabei nicht aus.[39] Laut Ostendorf war Flucht bzw. Fluchtgefahr mit 96% im Jahr 1982 bei Erwachsenen und Jugendlichen zusammen der häufigste Grund für Untersuchungshaft.[40]

Unter Verdunkelung versteht man jegliche Einwirkung auf Beweismittel oder Zeugen. Hierunter fallen z. B. die Einflußnahme auf Zeugen, die Vernichtung von Beweismaterial o. ä. Auch hier zählen nur konkrete Tatsachen, nicht die bloße Möglichkeit der Verdunkelung. Indizien für die Gefahr der Verdunkelung sind z. B. Meineid in einem früheren Verfahren oder andere Versuche der Täuschung der Strafverfolgungsbehörden.[41]

Eisenberg merkt hierzu an, daß „bei Prüfung der Voraussetzungen der einzelnen Haftgründe stets etwaigen jugendgemäßen Umständen Rechnung zu tragen [ist], die dem Vorliegen dieses oder jenen Faktors eine andere Bedeutung verleihen, als es bei Erwachsenen üblicherweise der Fall ist.“[42] So ließe sich z. B. bei der Beurteilung der Fluchtgefahr nicht ausschließen, „daß im Einzelfall bestimmte Formen der Ablehnung oder Scheu des Jugendlichen ggü. den zuständigen Verwaltungs- und Justizbehörden zu der Annahme führen, der Beschuldigte sei bemüht, nicht erreichbar zu sein.“[43]

Es sei angemerkt, daß zwischen dem Erziehungsgedanken des JGG und der Wirklichkeit der Untersuchungshaft ein erheblicher Widerspruch besteht.

2.5.3 Jugendstrafe

Die Jugendstrafe ist entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch laut § 17 JGG ausschließlich Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt. Sie ist die intensivste Sanktion des JGG, was auch durch die mit ihr verbundene Eintragung ins Zentralregister deutlich wird. Der Richter kann Jugendstrafe verhängen, wenn der Jugendliche in seiner Tat „schädliche Neigungen“ hat erkennen lassen oder wenn wegen der „Schwere der Schuld“ Strafe erforderlich ist.

Eigene Gefängnisse für Jugendliche sind im JGG seit 1943 vorgesehen. Damals gab es zusätzlich die Jugendstrafe von unbestimmter Dauer, die erst 1990 mit dem 1. JGGÄndG abgeschafft wurde. Änderungen gab es außerdem beim Mindestmaß, das bei Jugendstrafe von bestimmter Dauer drei Monate und bei unbestimmter Dauer neun Monate betrug, sowie bei der Formulierung der Voraussetzungen. So waren die „Größe der Schuld“ und die „schädlichen Neigungen“ vorangestellt. Die unbestimmte Verurteilung war keine nationalsozialistische Erfindung, sondern wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts gefordert. Die heutige Fassung des § 17 JGG ist mit geringfügigen Änderungen seit 1953 in Kraft.[44]

Der Begriff der „schädlichen Neigungen“ ist stark umstritten. Für Ostendorf ist er „selbst schädlich und schnellstens zu ersetzen“[45] Die Kritik bezieht sich insbesondere auf die unterstellte „biologische Zuneigung zum Verbrechen.“[46] Genetische Veranlagung als alleinige Ursache für kriminelles Verhalten wird heute weitestgehend ausgeschlossen. Vielmehr wird der Jugendliche als Opfer einer anlagebedingten oder durch unzulängliche Erziehung oder ungünstige Umwelteinflüsse bedingten charakterlichen Fehlentwicklung gesehen, die es möglichst frühzeitig zu erkennen und zu beeinflussen gilt. Problematisch ist auch der stigmatisierende Effekt des Begriffes. Es besteht die Gefahr, daß straffällige Jugendliche seitens der Gesellschaft schnell als Verbrecher abgestempelt werden. Auf der anderen Seite wird im betroffenen Jugendlichen selbst dieses Persönlichkeitsbild gefördert. Eisenberg kritisiert außerdem die Schwierigkeit der empirischen Erfaßbarkeit, da es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt.[47] Er merkt weiterhin an, daß es nach herrschender Meinung auf die Entstehungszusammenhänge einer Fehlentwicklung nicht ankäme, was bedenklich sei, da nicht geprüft werde, inwieweit dem Jugendlichen hinsichtlich des Vorliegens „schädlicher Neigungen“ ein Schuldvorwurf gemacht werden könne.[48] Alternativ zur gegenwärtigen Formulierung wird von Ostendorf eine „negative Rückfallprognose für erhebliche Straftaten“[49] als Voraussetzung für eine Jugendstrafe gefordert. Diese Formulierung findet sich auch bei Eisenberg.[50] Auf der anderen Seite bietet der Begriff der „schädlichen Neigungen“ jedoch auch die Sicherheit, daß „jugendliche oder verständliche Motivationen keine Grundlage für eine Jugendstrafe bilden.“[51]

Der Begriff der „Schwere der Schuld“ ist ebenso umstritten, da er noch unbestimmter als der Begriff der „schädlichen Neigungen“ ist. Der Wortlaut des Begriffes beinhaltet einen Schuldausgleich, also eine Strafe wegen eines besonders schweren Verbrechens. Dies widerspricht jedoch dem Erziehungsgedanken des JGG, der fordert, daß Jugendstrafe nicht Strafe im eigentlichen Sinne sein soll, sondern erzieherisch auf den Jugendlichen einwirken soll. Ostendorf bemerkt in diesem Zusammenhang, daß „mit dem Primat des Erziehungsgedankens die zweite Anwendungsvoraussetzung für eine Jugendstrafe leerlaufe.“[52]

Eisenberg schreibt, daß „ganz überwiegende Auffassung ist, daß Belange der Generalprävention sowie des Schutzes der Allgemeinheit (Abschreckungsgedanke) ausscheiden. […] ob der Abschreckungsgedanke im einzelnen z. B. dann mittelbar berücksichtigt werden darf, wenn der Jugendliche sich der „ansteckenden“ Wirkung seiner Tat bewußt gewesen ist und dadurch das Maß seiner Schuld erhöht hat, erscheint im Hinblick auf erzieherische Bedürfnisse und Interessen gerade eines solchen Jugendlichen zumindest zweifelhaft.“[53] Laut Ostendorf kann dieses individualpräventive Anspruchsdenken jedoch nicht der generalpräventiven Wirklichkeit des JGG standhalten. Auf diese deute z. B. die Höchststrafe von zehn Jahren hindeutet, die unter erzieherischen Aspekten und auch unter engen Schuldgesichtspunkten schwerlich begründet werden könne. Die Jugendstrafe sei ursprünglich generalpräventiv, als „Ausgleich für die Erschütterung des Rechtsvertrauens durch schwerwiegende Rechtsgüterverletzungen“[54]

Wie bei der Untersuchungshaft (s. 1.5.2) besteht für die Verhängung der Jugendstrafe ein Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser sieht vor, daß Jugendstrafe geeignet, notwendig und angemessen sein muß, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Die Geeignetheit der Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen“ ist laut Ostendorf im Hinblick auf das allgemeine Strafziel der positiven Individualprävention mehr als fragwürdig. Dies zeige sich in der Rückfallquote derjenigen, die aus dem Jugendstrafvollzug entlassen wurden. Nach einer Sekundäranalyse verschiedener empirischer Arbeiten mit unterschiedlichen Kriterien ergab sich eine Rückfallquote von 70% nach einer Jugendstrafe von bestimmter Dauer. Bei einer Definierung des Rückfalls als Eintragung in das Erziehungs- bzw. Strafregister innerhalb von fünf Jahren nach Entlassung aus dem Strafvollzug ergab sich eine Rückfallquote von bis zu 82,3%. Im offenen Vollzug ergaben sich geringere Quoten, wobei diese Personen auch gezielt für den offenen Vollzug ausgewählt werden und daher eine geringere Gefährdung besteht.[55] Auch bei Eisenberg ergibt sich nach Analyse verschiedener Arbeiten eine Rückfallquote von „nicht unter 60%.“[56] Laut Ostendorf müßten, da die Vollzugsgestaltung nicht in den Händen des Richters liege, entsprechende Konsequenzen gezogen werden.[57]

[...]


[1] vgl. Günder, S. 22

[2] Bindel-Kögel, S. 2

[3] Wolffersdorf, Sprau-Kuhlen, S. 341

[4] vgl. Ostendorf, S. 660

[5] vgl. Jugendrecht

[6] vgl. dazu Lösel, Bindel-Kögel

[7] vgl. Bindel-Kögel, S. 120

[8] Münder u. a., S. 365

[9] Hesselberger

[10] Bürgerliches Gesetzbuch

[11] vgl. LJA Brandenburg, S. 6

[12] Bürgerliches Gesetzbuch

[13] vgl. Münder, S. 363

[14] Münder u. a., S. 363

[15] Junge, Lendermann, S. 87ff

[16] Münder u. a., S. 305

[17] vgl. Ostendorf, S. 185f

[18] Ostendorf, S. 181

[19] Eisenberg, S. 219

[20] BGHSt 18, 209 in Ostendorf, S. 181

[21] Ostendorf, S. 151

[22] Ostendorf, S. 151

[23] Eisenberg, S. 224

[24] Ostendorf, S. 186

[25] vgl. Eisenhardt, S. 92 in Ostendorf, S. 155

[26] vgl. Ostendorf, S. 158; Eisenberg, S. 225

[27] vgl. Ostendorf, S. 157; Senatsverwaltung f. Schule, Jugend und Sport Berlin, S. 27f

[28] vgl. Ostendorf, S. 677; Eisenberg, S. 713

[29] Ostendorf, S. 660

[30] vgl. Ostendorf, S. 660

[31] vgl. Lösel, F., Pomplun, O., S. 17

[32] BT-Drucks. 11/5829, S. 30 in Ostendorf, S. 681

[33] Ostendorf, S. 680

[34] Eisenberg, S. 717

[35] vgl. Ostendorf, S. 682

[36] vgl. Ostendorf, S. 682f

[37] vgl. Oetjen, S. 17

[38] vgl. Oetjen, S. 18

[39] vgl. Oetjen, S. 18

[40] vgl. Ostendorf, S. 678

[41] vgl. Oetjen, S. 19

[42] Eisenberg, S. 718

[43] Eisenberg, S. 718

[44] vgl. Ostendorf, S. 189

[45] Ostendorf, S. 197

[46] Ostendorf, S. 197

[47] vgl. Eisenberg, S. 239

[48] vgl. Eisenberg, S. 240

[49] Ostendorf, S. 194

[50] vgl. Eisenberg, S. 240

[51] Ostendorf, S. 197

[52] Ostendorf, S. 199

[53] Eisenberg, S. 232

[54] vgl. Ostendorf, S. 200

[55] vgl. Ostendorf, S. 203

[56] Eisenberg, S. 234

[57] vgl. Ostendorf, S. 205

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft in Berlin und Brandenburg. Unterschiedliche Voraussetzungen und den Wegfall der geschlossenen Heime
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin  (Sozialpädagogik)
Veranstaltung
Ausgewählte Problemfelder aus dem Bereich abweichendes Verhalten
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
78
Katalognummer
V21157
ISBN (eBook)
9783638248389
ISBN (Buch)
9783638715560
Dateigröße
750 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Vergleich, Betrachtung, Einrichtungen, Vermeidung, Untersuchungshaft, Hinblick, Voraussetzungen, Berlin, Brandenburg, Wegfall, Heime, Ausgewählte, Problemfelder, Bereich, Verhalten
Arbeit zitieren
Diplom-Sozialpädagoge Marco Stölk (Autor:in), 2003, Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft in Berlin und Brandenburg. Unterschiedliche Voraussetzungen und den Wegfall der geschlossenen Heime, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21157

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