Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den eingeführten Reformen im Berliner Bildungswesen, die als Antwort auf die relativ schlechten Ergebnisse der Schüler bei Vergleichsstudien, wie z.B. der PISA-Studie, eingeführt wurden.
Einerseits werden Veränderungen der schulischen Arbeit in der Grundschule beschrieben. Andererseits erfolgt eine deskriptive Darlegung der nunmehr vorhandenen Oberschulstruktur und den Konsequenzen, die aus den Veränderungen beim Wechsel von der Grundschule an die weiterführende Schulform heraus resultieren.
Das empirische Material wurde über einen längeren Zeitraum hinweg mittels Interviews und Gruppendiskussionen erhoben. Aufgrund der relativ geringen befragten Personenzahl, handelt es sich primär um subjektive Einschätzungen, die zur Beantwortung der Frage nach der Chancengleichheit beim Übergang von der Grundschule an die weiterführende, allgemeinbildende Schulform herangezogen wurden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historischer Hintergrund
2.1 Bildungsexpansion
3 Begriffsdefinition
3.1 Chancengleichheit im Bildungswesen
3.1.1 Schulische Arbeit - Chancengleichheit und Lernprozesse
3.1.2 Leistung und Leistungsbewertung – Binnendifferenzierung
3.1.3 Chancengleichheit beim Übergang – Einflussfaktoren
3.1.4 Strukturreform – Chancengleichheit und Zweigliedrigkeit
3.1.5 Schlussbetrachtung – Chancengleichheit
4 Teil I – Grundschule
4.1 Reformmaßnahmen in der Grundschule
4.2 Grundschule und Grundschulreform
4.3 Flexible Schulanfangsphase – Heterogenität der Schüler
4.4 Binnendifferenzierung – Individualisierung des Lernens
4.5 Schlussbetrachtung – Reformmaßnahmen in der Grundschule
5 Teil II – weiterführende Schulformen der Sekundarstufe I
5.1 Schulstrukturreform der weiterführenden Schulen
5.2 Integrierte Sekundarschule (ISS)
5.3 Gymnasium
5.4 Auswahlverfahren und Aufnahmekriterien bei Übernachfrage
5.5 Schlussbetrachtung - Reform der weiterführenden Schulen
6 Fragestellung und Thesen
6.1 Thesen zur Chancengleichheit im Berliner Bildungswesen
7 Methodisches Vorgehen
7.1 Vorgehensweise und Zugang zu den befragten Personen
7.2 Erhebungszeitraum
7.3 Interviewpartner und Teilnehmer der Gruppendiskussion
7.4 Erhebungsmethode – Experteninterview
7.5 Erhebungsmethode – Gruppendiskussion
7.6 Auswertungsmethode
8 Ergebnisse der Erhebungen und Auswertung
8.1 Schulische Arbeit Chancengleichheit und Lernprozesse aus der LehrerperspektiveS
8.2 Leistung und Leistungsbewertung – Binnendifferenzierung
8.3 Chancengleichheit beim Übergang aus der Elternperspektive
8.4 Strukturreform – Chancengleichheit durch Zweigliedrigkeit
9 Fazit
Literaturverzeichnis
11 Anhang
11.1 Tabelle I – Aufnahmekriterien Schulen mit gymnasialer Oberstufe
11.2 Tabelle II – Aufnahmekriterien Schulen ohne gymnasiale Oberstufe
1. Einleitung
Die vorliegende Masterarbeit zu dem Thema „Konsequenzen der Berliner Schulreform für die Chancengleichheit beim Übergang von der Grundschule an die weiterführende, allgemeinbildende Schulform“ befasst sich mit den Veränderungen schulischer Bildungsarbeit in der Grundschule durch die Bildungsreform und den Auswirkungen, die daraus für die Chancengleichheit beim Übergang an ein Gymnasium oder an eine Integrierte Sekundarschule resultieren.
Auf die schlechten Ergebnisse der Berliner Schüler bei den internationalen Vergleichsstudien wie zum Beispiel PISA, TMSS, IGLU etc., reagierte Berlin mit tief greifenden Reformen des Bildungssystems. Die Ergebnisse der PISA-Studien haben wiederholt hervorgehoben, dass die deutschen „Schüler in den Ergebnissen im internationalen Vergleich in den Bereichen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften unterdurchschnittlich abschnitten“ (Allmendinger / Nikolai 2006:32). Weiterhin „hängen die Bildungschancen für eine höhere Schulausbildung an Gymnasien für Jugendliche stark von der sozialen Herkunft ab“ (Becker 2006:29). Die in Deutschland bereits „in den 1960-er Jahren einsetzende und bis jetzt andauernde Bildungsexpansion“ führte zwar zu „zunehmender Bildungsbeteiligung in allen sozialen Schichten“, jedoch wurde „weder die soziale Ungleichheit von Bildungschancen abgebaut noch die Struktur der Zugangschancen zum Gymnasium verbessert oder gar die Struktur der Vererbung von Bildungsabschlüssen geändert“ (Becker 2006:29).
Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeit wird in Zukunft noch mehr hoch qualifizierte Arbeitskräfte erfordern. „Jugendliche aus bildungsfernen Schichten, mit Migrationshintergrund und mit niedrigen Bildungsabschlüssen, drohen sich zu einer neuen Bildungsunterschicht zusammenzuballen“ (Allmendinger / Nikolai 2006:35). Weiterhin „ist der durchschnittliche Anteil der Kinder aus „bildungsnahen Schichten“, die ein Gymnasium besuchen, viermal so hoch wie der Anteil der Kinder aus Facharbeiter- oder Migrantenfamilien“ (Allmendinger / Nikolai 2006:33). Dieser Aspekt bestärkt die Vermutung, dass „die soziale Herkunft, wie auch der Migrationshintergrund der Jugendlichen mitentscheidend für deren Bildungskarriere ist“ (Allmendinger / Nikolai 2006:34).
Demzufolge müssten „in den Schulen die Rahmenbedingungen für eine individuelle, intensive Förderung der Schülerinnen und Schüler verbessert werden, so dass Bildungsbarrieren im Bildungswesen langfristig verringert und soziale Ausgrenzungen verhindert werden können“ (Allmendinger / Nikolai 2006:37). Es ist zwar „ein deutlicher Rückgang der Ungleichheit im Bereich der Realschule eingetreten, jedoch ist die soziale Homogenität an den Hauptschulen gestiegen“ (Becker 2006:39). „Der Hauptschulbesuch wurde zum askriptiven Merkmal für Benachteiligung, da der Besuch dieser Schulform zum einen als ein Indiz der sozialen Herkunft und zum anderen für schulisches Versagen gewertet wird“ (Becker 2006:48). Die Schulstrukturreform in Berlin ist folglich die Reaktion darauf. In Berlin sollen mittels der Zusammenlegung der Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu Integrierten Sekundarschulen „soziale Ungleichheiten in den verschiedenen Bildungsbereichen wie zum Beispiel durch die Stigmatisierung der Hauptschulen behoben und eine Chancengleichheit im allgemeinbildenden, weiterführenden Bildungswesen für alle Schüler hergestellt werden“ (Kussau / Brüsemeister: 2007:22). Es wurden demzufolge „Reformen initiiert, die den hervorgetretenen Mängeln des Schulwesens begegnen und diese verbessern“ (Fuchs 2009:7). Die Reformen richten sich einerseits auf „inhaltlich-curriculare und methodische Veränderungen“, ebenso auf die „Organisations- und Gestaltungsprinzipien von Schule und Unterricht“, z.B. in der Berliner Grundschule und andererseits auf eine „strukturelle Umgestaltung des Schulwesens der weiterführenden Schulformen“ aus (Fuchs 2009:7, 8).
Ich werde mich in der Arbeit im ersten Teil auf die Grundschule beziehen und deskriptiv die Veränderungen der „inhaltlich-curricularen und Methodischen Veränderungen schulischer Bildungsarbeit anführen. Dieses ist meines Erachtens von Relevanz, da dort bereits ab dem ersten Tag der Schulzeit die Voraussetzungen und die Grundlagen für den schulischen Erfolg, durch die Vermittlung der Grund- bzw. Basiskenntnisse, gelegt werden. Die Individualisierung des Lernens soll von Anfang an jedes Kind zu individuellen Leistungen motivieren. Es stellt sich jedoch die Frage, ob bereits benachteiligte und leistungsschwache Kinder durch die Freiheit der Lernformen noch stärker benachteiligt werden. Es besteht das Risiko, dass auch Kinder, die eigentlich das Potenzial zu guten Leistungen hätten, durch die angebotenen Freiheiten des Wissensrwerbs und Arbeitens ebenfalls in ihrem Leistungsniveau sinken und sich dadurch Leistungsdefizite auf- und ausbauen. Von einer anderen Perspektive betrachtet ist es interessant zu beobachten, ob die Schüler durch die veränderten Lernbedingungen und Methoden, u.a. durch Individualisierung des Lernens, Selbstmotivation und eigenständiges Arbeiten von dem ersten Tag in der Grundschule in heterogenen Lerngruppen bessere schulische Leistungen erreichen werden. Gerade die Auswirkungen der schulischen Bildung und die erbrachten Leistungen sind neben der sozialen Herkunft Faktoren, die in die Übergangsentscheidung nach der sechsjährigen Grundschulzeit einfließen und die Chancengleichheit beim Übergang bedingen.
Durch die Schulreform wurde ebenfalls die Struktur der weiterführenden Oberschulen von der Vier- zur Zweigliedrigkeit geändert, so dass die Schüler nur noch zwischen dem leistungsorientierten Gymnasium und der praxisorientierten, auf dem individualisierten Lernen ausgerichteten Integrierten Sekundarschule wählen können. Beim Übergang der Schüler von der Grundschule auf die weiterführenden Oberschulen, sind in erster Linie die Noten ausschlaggebend, um an die gewünschte Schulform zu gelangen. Anhand meines empirischen Materials, möchte ich herausarbeiten, welche Faktoren auf die Chancengleichheit einwirken und ob durch die Individualisierung des Lernens wie auch den veränderten Aufnahmekriterien, alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft, gleiche Chancen haben, an die für sie bestmögliche Schulform zu wechseln. Aus diesem Grund lautet die Fragestellung der vorliegenden Arbeit:
Welche Auswirkungen haben die Veränderungen der schulischen Bildungsarbeit, durch die Reformmaßnahmen in der Grundschule, auf die Chancengleichheit beim Übergang von der Grundschule an die weiterführende, allgemeinbildende Schulform?
Historischer Hintergrund - Im ersten Schritt wird die historische Entwicklung der Bildungsexpansion seit den 1960-er Jahren skizziert und die Forderungen nach mehr Chancengleichheit im Bildungswesen erklärt.
Begriffsdefinition - Nachfolgend wird der Begriff der Chancengleichheit diskutiert und die Bedeutung der Chancengleichheit im Bildungswesen erläutert. Es soll zum Einen der Begriff der Chancengleichheit eingegrenzt werden. Zum Anderen werde ich versuchen darzulegen, durch welche Maßnahmen Chancengleichheit erzeugt werden soll, wie diese sich auswirken können oder welche Faktoren der Chancengleichheit im Bildungswesen entgegenwirken. Des Weiteren dient dieses Kapitel zur Kategoriesierung der Ergebnisse wie auch der Thesenbildung und stellt die Grundlage für die Diskussion über die Folgen der Bildungsreform für die Chancengleichheit beim Übergang von der Grundschule an das weiterführende Gymnasium oder an die Integrierten Sekundarschulen dar.
Teil I – Grundschule – Die Veränderungen durch die Reformmaßnahmen habe ich in zwei Teile untergliedert. Teil I bezieht sich auf die Veränderungen in der Grundschule. Es erfolgt die Beschreibung der Grundschule, der dortigen Reformmaßnahmen wie auch die Darstellung von einzelnen veränderten Elementen, wie zum Beispiel die Schulanfangsphase und die Arbeitsweise der Binnendifferenzierung. Es ist davon auszugehen, dass diese Veränderungen sich auf die Arbeitsweise, das Lernverhalten und den Wissenserwerb der Kinder auswirken. Die genaue Darstellung dieser Elemente dient nachfolgend der Beantwortung der Frage: „Welche Auswirkungen haben die Reformmaßnahmen für die Chancengleichheit der Kinder beim Übergang von der Grundschule an die weiterführende, allgemeinbildende Schulform?“ Die Schüler sollen zwar individueller im eigenen Rhythmus lernen, allerdings werden die Noten beim Übergang immer wichtiger.
Teil II – weiterführende Schulformen der Sekundarstufe I – Der Teil II geht auf die veränderte Struktur der weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I ein. Im Zuge der Reformmaßnahmen in Berlin wurde das Bildungssystem von der Viergliedrigkeit zu einem zweigliedrigen Schulsystem umgewandelt. Berlin ist das erste Bundesland, in dem die Real-, Haupt- und Gesamtschulen zur Integrierten Sekundarschule fusioniert wurden. Die Eltern haben ab dem Schuljahr 2011/2012 nur noch die Wahl zwischen den Integrierten Sekundarschulen, an denen alle Kinder zusammen unterrichtet werden und dem Gymnasium. Da die Schulform der Integrierten Sekundarschule „neu“ ist, werde ich diese in Anlehnung an das Schulgesetz näher erklären und die Zielsetzung wie auch Arbeitsweise darlegen. Anschließend wird das Gymnasium angeführt. Da diese Schulform in der Arbeitsweise von den Reformmaßnahmen weitestgehend unberührt blieb, habe ich mich bei der Darstellung auf eine kurze Skizzierung beschränkt. Näher anführen werde ich den Aspekt, dass die Probezeit an den Gymnasien verändert wurde. Des Weiteren wird das neu eingeführte Auswahl- bzw. Aufnahmeverfahren beschrieben. Für die Eltern und Kinder, die sich am Übergang von der Grundschule befinden, sind diese Veränderungen des Auswahlverfahrens sehr wichtig, da der Notendurchschnitt als Aufnahmekriterium an übernachgefragten Schulen beider Schulformen von sehr großer Bedeutung ist. Durch die Festlegung eines bestimmten Notendurchschnitts wird der Zugang zum Gymnasium und zu beliebten Integrierten Sekundarschulen erschwert.
Methodisches Vorgehen - Im Anschluss an den theoretischen Rahmen erfolgt die Beschreibung der methodischen Vorgehensweise bei der Erhebung meines Materials und abschließend die Begründung meiner Vorgehens- und Auswertungsweise.
Fragestellung und These – Aus dem theoretischen Material haben sich für mich einige zentrale Fragen bezüglich der Chancengleichheit im Allgemeinen und im Besonderen hinsichtlich des Übergangs an die weiterführende Schule gestellt, die in diesem Kapitel angeführt und als Thesen formuliert werden.
Auswertung der Ergebnisse - Letztlich erfolgt die Auswertung der Ergebnisse aus der Perspektive der Akteure. Anhand der Interviews und der Gruppendiskussionen soll die Fragestellung der Arbeit beantwortet und diskutiert werden. Die angeführten Beschreibungen und Begriffsdefinitionen sollen die Argumentation stützen.
Fazit – In einem Fazit fasse ich zur Beantwortung der Fragestellung einige relevante Ergebnisse zusammen.
Da nur relativ wenige Personen zu unterschiedlichen Erhebungsmomenten befragt wurden, sind die Ergebnisse nicht als allgemeingültig bzw. repräsentativ anzusehen.
Des Weiteren wurden die aktuellen Entwicklungen, Neuerungen oder Veränderungen im Berliner Schulsystem wie auch jene in Bezug auf die Aufnahmekriterien etc. in der vorliegenden Arbeit nicht zusätzlich eingefügt bzw. um diese ergänzt.
Es gilt grundsätzlich in dieser Arbeit für alle Funktionen natürlicher Personen die absolute Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der Lesbarkeit halber wird jedoch nur die männliche Form verwendet.
2. Historischer Hintergrund
2.1. Bildungsexpansion
„Der Begriff der Bildungsexpansion (…) bezeichnet den Ausbau der sekundären Bereiche des Bildungswesens“ (Geißler 2002:334) und den Zugang zu diesen Institutionen. Hieraus resultiert, dass „immer mehr Menschen mittlere und höhere Bildungsabschlüsse erwerben“ können (Geißler 2002:334). Der Zugang zu besser qualifizierenden Bildungsabschlüssen bzw. höheren Bildungsgängen wurde sozial durchlässiger.
Von Helmut Schelsky wurde „bereits in den 1950-er Jahren die Bedeutung der Schulbildung für den zukünftigen Sozialstatus und die Lebenschancen eines Menschens hervorgehoben“ (Geißler 2002:342). Schelsky zufolge ist „die Schule, die erste zentrale, soziale Dirigierungsstelle für die soziale Sicherheit, den zukünftigen Rang‘ und Positionierung in der Gesellschaft“, sowie für „die späteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ (Geißler 2002:342).
Durch die Entwicklungen im Bildungswesen und der zunehmenden Wahrnehmung der „deutschen Bildungskatastrophe“ in den 1960-er Jahren trat die Frage nach „Bildungschancen, Chancengleichheit und soziale Ungleichheit in den Fokus der öffentlichen Bildungsdebatten“ (Schäfers 2004:142; 145; Geißler 2002:335). Vor allem wurde „das Ausmaß der vermittelten Bildung und der damit zusammenhängenden Ungleichheit der Bildungschancen“ stark kritisiert (Hradil 1999:153). Zu den Brennpunkten gehörte der „Zusammenhang zwischen den Bildungschancen und der sozialen Herkunft“ (Hradil 1999:161). Insbesondere in den „Schriften von Georg Picht (1964) und Ralf Dahrendorf (1965) wurden die Forderungen nach mehr Bildung mit der Forderung nach mehr Chancengleichheit im Bildungswesen verknüpft“ (Hradil 1999:153).
Trotz der vielen Veränderungen und der zunehmenden Durchlässigkeit des Bildungswesens, dokumentieren die internationalen Vergleichsstudien weiterhin die schwachen Leistungen der Schüler. „Die Verbesserung der Bildungsteilhabe und Teilnahme an höher qualifizierenden Bildungsgängen, wie auch die Anhebung der Leistungsergebnisse der Schüler, wurde zum primären Ziel der (föderativen) Bildungspolitik“ (Schäfers 2004:142).
Gerade in einer „industriellen Gesellschaft und wissenschaftlichen Zivilisation“ (Helmut Schelsky 1979:465), nimmt „Bildung einen sehr hohen Stellenwert ein“ (Schäfers 2004:145; Geißler 2002:340). „Verwissenschaftlichung, Technisierung und Spezialisierung einer komplexen Gesellschaft bedingt den zunehmenden Qualifikationsbedarf der Bevölkerung“ (Geißler 2002:340). Zudem werden „in den meisten Berufsfeldern heute mittlere oder höhere Schlabschlüsse für den Zugang zu bestimmten Berufspositionen gefordert, für die früher niedrige Abschlüsse ausreichten“ (Geißler 2002:343; Hradil 1999:148). Die Entwicklung ist an der veränderten Wertigkeit des Real- und Hauptschulabschlusses zu erkennen. Während „ursprünglich der Hauptschulabschluss die Bildungsqualifikation des Durchschnittsbürgers definierte, repräsentiert dieser nun nur noch die Mindestqualifikation“ (Schulze 2005:373). Insofern entwicklete sich die Hauptschule zur „negativbewerteten, problematischen und stigmatisierten Restschule.“ Gleichermaßen erhielt der „Mittlere Schulabschluss eine neue Wertigkeit, nämlich die der kulturellen Mindestanforderung, die früher dem Hauptschulabschluss oblag“ (Schulze 2005:373).
In Deutschland „hielt die Bildungsexpansion im Schulsystem bis Mitte der 1990-er Jahre an“, obwohl der Fokus nicht mehr nach besseren Bildungschancen im Vordergrund stand (Geißler 2002:335). Aufgrund der „weiterhin schlechten Ergebnisse der nationalen und internationalen Vergleichsstudien und durch den zunehmenden Mangel an qualifizierten Fachkräften und Spezialisten in diversen Bereichen des Arbeitsmarktes, nimmt die Problematik der Bildungschancen, Chancengleichheit und soziale Selektivität im Bildungswesen wieder an Aktualität zu“ (Geißler 2002:336). Es werden zunehmend mehr ausbildungsfähige Schulabgänger mit mittleren bzw. höheren Schulabschlüssen benötigt, um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken.
Die Veränderungen des Bildungswesens erzeugten „in den letzten zwei Jahrzehnten eine Verbesserung der Bildungschancen für Kinder aus fast allen sozialen Schichten. Dieses bezieht sich in erster Linie auf die mittleren Schulabschlüsse. In Anbetracht auf die höheren Bildungsabschlüsse blieben jedoch die Chancenunterschiede zwischen den Schichten bestehen“ (Schäfers 2004:145). „Ferner ist eine „Vergrößerung der ‚Chancenabstände‘ zwischen priveligierten und benachteiligten Gruppen zu erkennen (Geißler 2002:347)“ (Schäfers 2004:145). Es ist davon auszugehen, dass weiterhin „ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Wahrnehmung von Bildungschancen“ besteht (Schäfers 2004:145).
Trotz der Bildungsexpansion und der zunehmenden Durchlässigkeit des Bildungssystems hat nach wie vor „ein Kind aus einem Akademikerhaushalt gegenüber einem Kind aus einem Facharbeiterhaushalt bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und erbrachten Fachleistungen in Deutschland eine 2,96 mal so große Chance, ein Gymnasium statt eine andere Schulform zu besuchen (Demmer 2002)“ (Schäfers 2004:145; Geißler 2002:356; vgl. Hradil 1999:163). „Diese Realität wurde von der PISA-Studie belegt. Gleiches gilt für die Tatsache, dass in Deutschland ein schichtspezifisches Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem vorliegt (OECD 2001)“ (Schäfers 2004:145; Geißler 2002:355).
Die Bildungsexpansion ist nicht nur als „Reaktion eines steigenden Wissens-, Qualifikations- oder Bildungsbedarfs anzusehen“ (Geißler 2002:341). Sie wird ebenfalls durch die „Konkurrenz der Menschen um Statussicherung und sozialen Aufstieg durch Bildung“ bedingt (Geißler 2002:341). Vor diesem Hintergrund betrachtet ist es nachvollziehbar, dass versucht wird, den „individuellen Nutzen für den eigenen Sozialstatus aus einem Bildungsvorsprung“ zu erzielen (…) und diesen Vorsprung durch weitere Bildungsanstrengungen zu halten, wenn andere ihr Bildungsniveau verbessern“ (Geißler 2002:341). In einer modernen Gesellschaft ist Bildung folglich „weiterhin eine wichtige Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Chancen wahrzunehmen, soziale Risiken zu minimieren und die Position zu sichern“ (Geißler 2002:343). Von diesem Kontext ausgehend, ist „die Frage nach der sozialen Auslese durch das Bildungssystem weiterhin von erheblicher Bedeutung“ (Geißler 2002:345).
In Bezug auf die „soziale Platzierung, soziale Auslese und schulische Bildung besteht ein enger Zusammenhang zur Herkunftsfamilie, da diese eine ‚zentrale soziale Dirigierungsstelle‘ für Sozialchancen ist“ (Geißler 2002:344). Hiermit ist gemeint, dass „die Familie, wie auch deren soziale Herkunft, den Bildungserfolg und -verlauf der Kinder entscheidend beeinflusst“ (Geißler 2002:344) und in den Leistungsbemühungen der Kinder unterstützend oder hemmend einwirkt. Eltern aus höheren Schichten „verfügen über ein ausgeprägteres pädagogisches Selbstbewusstsein, motivieren die Kinder zu guten Leistungen“ (…) und „lassen sich nicht von ihren höheren Bildungszielen durch mäßige Lehrerempfehlungen abbringen“ (Geißler 2002:357). „Elterliche Erziehungseinflüsse sind also für die erfolgreiche Schulausbildung der Kinder von großer Bedeutung“ (Neidhardt 1975:84). Zudem versuchen diese Eltern vielfach auch „die Chancen der Kinder durch engen Kontakt zur Schule und durch Mitwirkung in Schulgremien, zu verbessern“ (Geißler 2002:357). In den unteren Schichten verhindern zumeist die „pädagogische Unsicherheit, das Desinteresse und die Unwissenheit über mögliche Bildungswege, wie auch eine Distanz zu höherer Bildung, dass vorhandene Leistungspotenziale der Kinder ausgeschöpft werden“ (vgl. Neidhardt 1975:85). Hiermit ist gemeint, dass Kinder aus diesen sozial schwächeren Familien nicht die ausreichende Unterstützung erhalten, um bessere Leistungen zu erzielen, so dass sie vielfach von den Lehrern unter ihrem eigentlichen Leistungspotenzial bewertet werden. Um gute Leistungen zu erlangen, brauchen Kinder Aufmerksamkeit, ein lernfreundliches Umfeld, Anreize und Motivation. Demzufolge hängt „die soziale Auslese in der Schule auch mit den Leistungsunterschieden zwischen den Kindern aus verschiedenen Schichten zusammen“ (Geißler 2002:356). Ein weiterer Faktor, dass „Kinder aus unteren Schichten z.B. das Gymnasium trotz guten schulischen Leistungen nicht besuchen, liegt mit daran, dass deren Eltern sich nicht in der Lage sehen, dem Kind die höhere Schulbildung zu finanzieren, z.B. durch unterstützende Nachhilfestunden“ (Neidhardt 1975:85). Es ist wahrscheinlich, dass „ein Kind aus einer höheren, bildungsnahen Schicht trotz schlechterer bzw. schwächerer schulischen Leistungen ein Gymnasium besucht, als ein Kind aus einer bildungsfernen bzw. sozialschwachen Familie mit besseren Grundschulleistungen“ (vgl. Neidhardt 1975:84, 86). Eine derartige „soziale, leistungsunabhängige Auslese wird insbesondere bei dem Übergang von der Grundschule an eine weiterführende Schule wirksam“ (Geißler 2002:356). Letzteres ist eventuell dadurch bedingt, dass Eltern höherer Schichten eine bestimmte Vorstellung über die schulische Ausbildung ihrer Kinder haben, die dem eigentlichen Eignungs-, Begabungs- und Leistungsstand nicht entsprechen. Hiermit ist gemeint, dass Eltern ihr Kind auch mit schlechteren schulischen Leistungen und ohne eine Gymnasialempfehlung an einem Gymnasium anmelden würden, da diese Schulform mehr ihren Vorstellungen entspricht. Ebenso beinhaltet die Wahl einer höheren Schulform, z.B. die Wahl des Gymnasiums, auch „Gründe der sozialen Sicherheit, des sozialen Aufstiegs oder der Bewahrung des sozialen Ranges der Familie“ (Schelsky 1975:99).
Schlußendlich ist zu konstatieren, dass „der Widerstand der oberen Schichten gegen den sozialen Abstieg ihrer Kinder stärker ausgeprägt ist, als der Wille der Unterschichten zum sozialen Aufstieg“, z.B. durch den Besuch eines Gymnasiums (Geißler 2002:357).
Auf der institutionellen Schulebene existiert von Seiten der Grundschullehrer ebenfalls ein leistungsunabhängiger Filter. Zwar versuchen die Lehrkörper jeden „Schüler ‚objektiv‘ zu bewerten“, allerdings wird die Bewertung oft durch „leistungsunabhängige Kriterien“ beeinflusst, so dass „eine leistungsunabhängige soziale Auslese erfolgt und sich negativ auf die Grundschulempfehlung der Kinder unterer sozialer Schichten auswirkt“ (Geißler 2002:357). „Es droht mit dem Zensurenurteil des Lehrers immer das Zuklappen der Tür zu den Vorzimmern der Chancenvergabe“ (Beck 1986:247). Demnach ist davon auszugehen, dass für das Kind von der Bewertung und Einschätzung des Lehrers abhängt, ob es die Empfehlung für das Gymnasium erhält.
Die Bildungsexpansion hat vordergründig die Bildungschancen für alle Schichten erheblich erhöht. Jedoch erfolgte nur eine Umverteilung der Chancen. Den Zugang zu einer höheren Schulbildung, z.B. zu einem Gymnasium, zu erhalten, „ist weiterhin sehr ungleich verteilt“ (Geißler 2002:350). Es wurden lediglich „Chancenunterschiede zwischen den Schichten beim Erwerb der mittleren Bildungsabschlüsse reduziert“ (Geißler 2002:350). Zwar bestehen durch die Bildungsexpansion „mehr Bildungschancen, aber weniger Bildungsgerechtigkeit“ (Geißler 2002:361; Geißler 2008:75). Die mit der Bildungsexpansion einhergehenden „Forderungen nach Chancengleichheit an bessere und höhere Bildungsgänge wurden nur teilweise erfüllt“, die „Forderung nach mehr Bildung, wurde hingegen verwirklicht“ (Hradil 1999:154). Gerade die Ergebnisse der PISA-Studie hat die „öffentliche Illusion der Chancengleichheit gestört“ (Geißler 2002:362, 363), da gezeigt wurde, dass weiterhin Schüler bestimmter Schichten im Bildungssystem benachteiligt sind und werden. Obwohl Anstrengungen unternommen werden, „Chancengleichheit im Bildungswesen für alle herzustellen, auch oder gerade beim Übergang von der Grundschule, ist Bildung immer mit Selektion verbunden“ (Beck 1986:129). Diese Selektion erfolgt auch dann, wenn „Aufstieg durch Bildung“ illusionär in einem durchlässigen Schulsystem für alle möglich sein soll und „Bildung als ein notwendiges Mittel gegen den Abstieg verwandelt wird“ (Beck 1986:129).
Durch die Einführung der Integrierten Sekundarschule, die alle Schüler zu einem höchstmöglichen Schulabschluss (Berufsbildungsreife nach Klasse 9, erweiterte Berufsbildungsreife, Mittlererschualbschluss MSA und Allgemeine Hochschulreife nach dreizehn Schuljahren) führen soll, wurde die Illusion der Chancengleichheit des Bildungszugangs wie auch die Illusion der Gleichwertigkeit des Bildungsganges für alle verstärkt. Die Schulbildung ist an diesen neuen Institutionen primär praxisorientiert und baut auf einem niedrigeren allgemeinbildenden Niveau auf. Es sei zu erwähnen, dass die Schüler an der Integrierten Sekundarschule in den Kernfächern weniger Unterrichtswochenstunden haben, als die Schüler an den Gymnasien. Den Zugang zu einem leistungsorientierten Gymnasium zu erhalten, kann als selektive Sicherung gegen den Abstieg betrachtet und als soziale Platzierung angesehen werden.
Das Bildungssystem in Berlin wurde in den letzten Jahren stark reformiert. Mangelhafte Kenntnisse und Leistungsstände der Schüler, Stigmatisierung der Hauptschule und Schulabgänger ohne Schulabschluss führten zu den Reformmaßnahmen in der Grundschule wie auch im Oberschulbereich. Von dem viergliedrigen Schulsystem wurde Abstand genommen und die Gesamt-, Haupt- und Realschule abgeschafft. Als weiterführende Schulformen stehen den Schülern und Eltern nur noch das Gymnasium und die Integrierte Sekundarschule zur Wahl. Im Sinne der Chancengleichheit soll damit erwirkt werden, dass alle Schüler, unabhängig von ihrem Leistungsstand, zu einem berufsqualifizierenden Schulabschluss geführt werden, mit der Option, bei entsprechenden Leistungen auch das Abitur absolvieren zu können. Die Schüler sollen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die Möglichkeit erhalten, einen höchstmöglichen Abschluss zu erlangen (siehe Kapitel 5.1). Ob durch die Zweigliedrigkeit des Bildungsbereichs der Sekundarstufe I Chancengleichheit und gleichwertige Bildungsabschlüsse erzeugt wird, ist in der Entwicklung zu beobachten.
3. Begriffsdefinition
3.1. Chancengleichheit im Bildungswesen
Die komplexe Thematik der Chancengleichheit im Bildungswesen und wie diese hergestellt werden soll, wird „spätestens seit der Bildungsexpansion in der Öffentlichkeit viel diskutiert und auch unterschiedlich interpretiert“ (Geißler 2008:72). In diesem Abschnitt wird der Begriff der Chancengleichheit im Bildungswesen näher eingegrenzt. Es wird betrachtet, welche Faktoren Chancengleichheit erzeugen oder auch beeinträchtigen können.
Vom theoretischen Ansatz her wird das meritokratische Modell der Chancengleichheit herangezogen, das sich an dem „Leistungsprinzip“ des Bildungswesens orientiert und konträrer Weise gleichzeitig die „Institutionalisierung und Reproduktion ungleicher Bildungschancen legitimiert“ (Berger / Kahlert 2008:9). „Dem meritokratischen Modell der Chancengleichheit liegt das Prinzip ‚allen nach ihren Fähigkeiten und Leistungen‘ zugrunde. Chancengleichheit orientiert sich am Leistungsprinzip: Allen soll die gleiche Chance auf eine Bildungskarriere garantiert werden, die ihren individuellen Fähigkeiten und Leistungen entspricht; soziale Kriterien wie Herkunft, Geschlecht und Ethnie dürfen beim Bildungsverlauf - unabhängig von Fähigkeiten und Leistungen - keine Rolle spielen“ (Geißler 2008:72). Diesem entspricht auch die Definition der Chancengleichheit von Stefan Hradil: „Chancengleichheit besteht dann, wenn allen, unabhängig von leistungsfremden Merkmalen, wie z.B. von Bildung, Prestige und Geld der Eltern, von Geschlecht, Wohnort, ‚Beziehungen‘, Religion, Hautfarbe, politischer Einstellung, persönlicher Bekanntschaft oder Familienzugehörigkeit, die gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und Leistungsbestätigung eingeräumt wird“ (Hradil 1999:149). Hiermit ist gemeint, dass alle Schüler die gleichen Möglichkeiten erhalten, sich unabhängig von der sozialen Herkunft, Wissen anzueignen und Leistungen zu erbringen. Aufgrund der individuell erbrachten Leistungen, sollte jeder Schüler eine angemessene Empfehlung von den Lehrern erhalten, um an der für ihn bestmöglichen und geeignetesten Schulform der Sekundarstufe I den Bildungsgang fortzusetzen. Somit verspricht das meritokratische Modell der Chancengleichheit, „dass sich alle Schüler durch die entsprechende Leistung einen angemessenen Platz ‚verdienen‘ können“, sofern sie das wollen (Vester 2008:39).
Anders formuliert bedeutet Chancengleichheit im Bildungswesen, dass „Bildung und der Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen nach der Grundschule“, wie z.B. zu einem Gymnasium, und der Erwerb von höheren Bildungsabschlüssen „nicht mehr nur einigen Mitgliedern der höheren Gesellschaftsgruppen vorbehalten sein darf“ (Solga 2008:22). Diesbezüglich sollte der Zugang zum Gymnasium und zu höheren Schulabschlüssen auch für Kinder aus sozial schwachen Familien mit gleich guten Leistungen existieren, so dass jedes Kind die Möglichkeit erhält, aufgrund seiner Leistung und Leistungsfähigkeit die „bestmögliche Bildung wahrzunehmen, die dem individuellen Talent, der Begabung, der Leistungsfähigkeit und der Intelligenz entspricht (Bell 1994:692)“ (Solga 2008:22). Gemäß dem meritokratischen Modell „herrscht prinzipiell dann Chancengleichheit, wenn die Kinder aller Herkunftsgruppen den Zugang zu bestimmten Schulen, z.B. zu dem Gymnasium, allein durch Leistungswettbewerb erreichen können“ (Vester 2008:39).
Durch die Einführung des Losverfahrens wurde in Berlin versucht, dieses Leistungsprinzip etwas zu lockern und die Selektion beim Zugang an die Schule zu verringern. 30% der angemeldeten Schüler werden in die Schule gelost. Somit erfolgt z.B. an den Gymnasien und an den Integrierten Sekundarschulen zunächst zu 60% die Auswahl nach Leistung, danach die Losung der restlichen Schüler. Ziel des Losverfahrens ist, einerseits eine soziale Auslese vorzunehmen und andererseits schwächeren Schülern die Möglichkeit zu geben, ihr Leistungspotenzial in der Probezeit eines Schuljahres zu beweisen. Auf diese Weise erhält jeder Schüler, der sich an einem Gymnasium anmeldet, die gleiche Chance aufgenommen zu werden. Durch die Zweigliedrigkeit und den Noten als Auswahlkriterium neben den Schulspezifischen Aufnahmekriterien, erfolgt zum einen eine „Auslese nach Leistung“ an den Gymnasien und Integrierten Sekundarschulen mit festgesetztem Notendurchschnitt und zum anderen eine „indirekte soziale Auslese“ aufgrund der Zeugnisse des Sozialverhaltens und der Beurteilung der Förderprognose (Geißler 2002:333). Während die leistungsorientierte und soziale Auslese zuvor auf vier Schulformen ausgerichtet war und sich die Schüler auf diese vier verteilten, ist die Selektion jetzt nur noch auf zwei Schulformen ausgerichtet, dem Gymnasium und der Integrierten Sekundarschule. Da die Plätze an den Gymnasien begrenzt sind, ist anzunehmen, dass eine Selektion nach Leistung erfolgt und die Zugangschancen nicht für alle Schüler gleich sein werden. Durch die begrenzte Zahl an Gymnasialplätzen erfolgt gleichzeitig eine gewisse Form von sozialer Auslese und Statussicherung von Familien.
Die Unsicherheit bezüglich der neu eingeführten Integrierten Sekundarschule verstärkt das Bestreben danach, einen Platz am Gymnasium auch ohne entsprechende Förderprognose zu erhalten. Die Zugangsbemühungen zu den Gymnasien könnte eine Abgrenzung von der „breiten Masse“ an den Integrierten Sekundarschulen vermuten lassen. Ausgehend davon, wird „soziale Auslese im Bildungssystem zum Problem, wenn Auslese und Platzierung von der Norm der Chancengleichheit her betrachtet wird“ (Geißler 2002:334). „Echte Chancengleichheit in Bezug auf den Zugang zu einem leistungsorientierten Gymnasium würde bedeuten, dass allein die erbrachten individuellen und im Zeugnis dokumentierten Leistungen des Einzelnen entscheiden“ (Ramseier / Brühwiler 2003:5).
3.1.1. Schulische Arbeit - Chancengleichheit und Lernprozesse
Durch die Veränderungen der schulischen Bildungsarbeit, z.B. mittels der Binnendifferenzierung und dem individualisierten Lernen, wird in Berlin versucht, Chancengleichheit bezüglich des Wissenserwerbs und des jahrgangsentsprechenden Leistungsstands für alle Kinder herzustellen. Es wird die Zielsetzung verfolgt, bei der schulischen Bildungsarbeit die unterschiedlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten der Kinder, ebenfalls die variierenden Leistungsstände, zu berücksichtigen. Jedes Kind soll auf seinem individuellen Niveau dazu angeregt werden, entsprechende Leistungen erbringen zu können.
Aufgrund der unterschiedlichen Formen der Bildungsarbeit in den Grundschulen, dem variierenden Potenzial bzw. Motivation der Lehrer und der Unterschiedlichkeit der Kinder, ist es allerdings schwierig, die Leistung eines jeden Schülers in Bildungseinrichtungen zu verallgemeinern. Einflüsse wie die der Familie, des Umfeldes, der kognitiven Fähigkeiten, der Motivation etc. wirken auf die Leistungsentwicklung des jeweiligen Schülers ein. Daher wird die Chancengleichheit im Bildungswesen nicht inhaltlich anhand der „Übereinstimmung mit der jeweiligen individuellen Leistung“, (…), sondern „formal als Fehlen von bestimmten unerwünschten, leistungsfremden Einflüssen auf die Bildungserfolge“ bestimmt (Hradil 1999:149). Die Lernprozesse in den Bildungsinstitutionen sind zumeist so gestaltet, dass der „schulische Erfolg von den Leistungen und der Lernmotivation der Kinder abhängt, die wiederum durch die Unterstützung der Eltern geprägt werden“ (Solga 2008:19). Gerade durch die „individualisierte Arbeitsweise in der Grundschule haben die Lehrer nicht mehr nur die Aufgabe der homogenen Wissensvermittlung, sondern auch die der Leistungsdifferenzierung und der individuellen Bewertung“ (Solga 2008:20). Es soll weiterhin auf die heterogenen Kenntnisstände und Leistungsniveaus in den jeweiligen Lerngruppen bzw. Klassenverbänden eingegangen werden, so dass jedes Kind in seinem Rhythmus lernen kann. Die Differenzierung des Grundschulunterrichts in verschiedene Leistungsniveaus soll bewirken, dass jedes Kind die gleichen Bildungschancen erhält. Durch die Individualisierung und der Binnendifferenzierung des Lernprozesses bestehen am Ende der Grundschulzeit innerhalb einer Klasse viele unterschiedliche Leistungsstufen. Es ist davon auszugehen, dass nicht alle Kinder richtig bewertet oder auch nicht alle ihrem Leistungspotenzial entsprechend gefördert werden. „Dieses ist mitunter durch die Strukturen der Bildungsinstitutionen begründet und liegt auch an den Familien und deren sozialstrukturellen Einbettung“ (Geißler 2008:96). Für einen Lehrer alleine ist es nur schwer möglich, jedes Kind in seinen Leistungen angemessen zu fördern und zu fordern. „Die Bildungsinstitutionen sind also nicht in der Lage, die Leistungspotenziale der Schüler optimal zu entwickeln und in angemessene Übergänge umzusetzen“ (Geißler 2008:96).
Der Umgang mit der Heterogenität der Voraussetzungen der Kinder, deren Leistungsniveaus und dem individualisierten Lernen bedeutet für die Lehrer bei der Bewertung, dass sie nur die gezeigten, von ihnen wahrgenommenen oder dokumentierten Leistungen der Kinder bewerten können, ungeachtet, ob das Kind zu besseren Leistungen fähig wäre oder ob die Eltern dem Kind beim Lernprozess bzw. bei den Hausarbeiten geholfen haben (Solga 2008:20). Grundlegend gilt, „dass das Interesse der Eltern und die Kompetenz der Lehrer, auch bei unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen der Kinder, auf deren Leistungserbringung und -entwicklung motivierend oder hemmend einwirken und somit die Bildungschancen beeinflussen“ (Solga 2008:21).
3.1.2. Leistung und Leistungsbewertung – Binnendifferenzierung
Des Weiteren wird bei Chancengleichheit im Bildungswesen davon ausgegangen, dass zum einen „individuelle Ungleichheiten hinsichtlich der Leistungsfähigkeit und -willigkeit bestehen“, sich aber zum anderen „in allen sozialen Gruppen gleich große Leistungspotenziale befinden“ (Hradil 1999:150). Es wird „heutzutage anerkannt, dass Intelligenz und Leistungsfähigkeit nicht nur durch soziale Umweltfaktoren beeinflusst werden, sondern zu einem erheblichen Anteil genetisch bedingt ist“ (Ramseier / Brühwiler 2003:3). Ausgehend von der jeweiligen individuell unterschiedlichen genetischen Ausstattung des Schülers wird die „Ausbildung von Persönlichkeitseigenschaften, wie soziale und kognitive Kompetenzen, Selbstständigkeit, Belastungsresistenz oder Ehrgeiz individuell verschieden von dem Lehrer gesteuert“ (Solga 2008:24). „Leistungsfähigkeit und Leistung sind beim Erwerb von Kompetenzen und bei Übergangsentscheidungen durchaus wichtig“ (…) „Es spielen jedoch auch leistungsunabhängige Faktoren bei der schulischen Auslese weiterhin eine Rolle“, so dass die „schulische Selektion nicht durchgehend dem meritokratischen Prinzip ‚Auslese durch Leistung‘ folgt“, sondern von „sozialen Kriterien beeinflusst wird“ (Geißler 2008:77; vgl. Solga 2008:21).
Neben den vorab erwähnten Faktoren, wirkt sich auch die „Zusammensetzung der Schüler innerhalb einer Klasse bzw. einer Schule auf die Entwicklung der Leistungsfähigkeit aus“ (Ramseier / Brühwiller 2003:2). Die soziale Zusammensetzung der Grundschulklasse kann ebenfalls „Auswirkungen auf die Benotungs- und Empfehlungsvergabepraxis der Lehrer haben“. Zudem kann „die soziale Zusammensetzung die Mitarbeits- und Verhaltensnormen der Schüler maßgeblich beeinflussen“, was wiederum in die Lehrerbeurteilung einwirkt (Neumann et al. 2010:232).
3.1.3. Chancengleichheit beim Übergang - Einflussfaktoren
Am Ende der Grundschulzeit erhalten die Kinder entsprechend der erbrachten Leistungen von der Grundschule die Empfehlung für den Besuch des Gymnasiums oder der Integrierten Sekundarschule. In Bezug auf die Übergangsempfehlung ist davon auszugehen, dass die Lehrer nicht nur die kognitiven Leistungen und Kompetenzen der Schüler bewerten. Von Relevanz für die Übergangsempfehlung des Lehrers sind neben den erbrachten Leistungen auch die Persönlichkeit, das Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten des Kindes und indirekt auch die soziale Herkunft. Denn „Übergänge sind nie exklusiv kompetenzgetrieben, sondern an diesen Schaltstellen abhängig von den Bewertungen der Lehrer und Eltern, für die vermeintlichen Leistungspotenziale der Kinder“ (Solga 2008:30).
Mit der Übergangsempfehlung wird von den Lehrkörpern die Einschätzung dokumentiert, ob „die Fähigkeiten vorhanden sind, an einem Gymnasium den Leistungsanforderungen gerecht zu werden“ (Dravenau / Groh-Samberg 2008:108). Es ist auch weiterhin davon auszugehen, dass „die Auslese nach Leistung bei Kindern aus unteren Schichten an Gymnasien erheblich schärfer greift, während das Leistungsprinzip gegenüber Kindern aus der Mitte oder von ‚Oben‘ in Familien und Schule lockerer gehandhabt wird“ (Geißler 2008:78).
Chancengleichheit beim Übergang bezieht sich also auf mehrere Faktoren. Hierzu gehören die erbrachten Leistungen des Schülers, die Bewertung der Lehrer, die individuelle Entscheidung der Eltern und auch die neuen Zugangskriterien zu den Gymnasien und zu übernachgefragten Integrierten Sekundarschulen. Mit der Einführung der neuen Aufnahmekriterien, d.h. primär mit der Festlegung eines Notendurchschnitts an jeder weiterführenden Schule, vergrößern sich die Zugangschancen durch dokumentierte sehr gute Leistungen. Des Weiteren ist zu vermuten, dass die übernachgefragten Integrierten Sekundarschulen ebenfalls nach dem Leistungsprinzip ihre Schüler aussuchen werden und dass ferner eine indirekte soziale Selektion der Schüler erfolgt. Chancengleichheit wäre erreicht, wenn jeder Schüler aufgrund der eigenen Leistungen und unabhängig von sozialen Faktoren, Zugang zu der für ihn bestmöglichen weiterführenden Schulart erhalten würde, um dort, wie bereits eingehend erklärt wurde, den höchstmöglichen Schulabschluss zu machen. „Allerdings werden leistungsunabhängige Chancenunterschiede in den Schulen nicht kompensiert, sondern verstärkt, da in das Lehrerurteil auch soziale Kriterien einwirken, die nicht mit dem Leistungspotenzial des Kindes zu tun haben“ (Geißler 2008:78). So gehören beispielsweise „mangelnde Schulbildung der Eltern, fehlende oder falsche Bildungsaspirationen, schlechte häusliche Lernbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten zu den Kriterien, die auch bei guten Schülern die Gymnasialempfehlung in Frage stellen (Gomalla / Radtke 2002:272)“ (Dravenau / Groh-Samberg 2008:113). Würden diese Faktoren in die Übergangsempfehlung nicht mit einfließen, wäre eine Chancengleichheit nach Leistung eventuell gegeben.
3.1.4. Strukturreform – Chancengleichheit durch Zweigliedrigkeit
Abhängig von der Gliederung des Bildungssystems in Schulen mit unterschiedlichen Leistungsanforderungen, „differieren die Schullaufbahnen, Selektionsprozesse und somit die Chancengleichheit der Schüler“ (Ramseier / Brühwieler 2003:4). Durch das viergliedrige Schulsystem in Berlin wurden die Schüler nach der sechsten Klasse der Grundschule in leistungsabhängige Schulzweige eingeteilt, durch die gewissermaßen die zu erreichenden Bildungsabschlüsse vorgegeben wurden. Mittels der Zusammenlegung der Haupt-, Real- und Gesamtschulen in Berlin, „soll eine unerwünschte soziale Siebung“ vermieden und eine Möglichkeit gegeben werden, „jeden offiziellen Schulabschluss, unabhängig von der individuellen Ausgangslage und sozialen Herkunft“ gemäß der allgemeinen berliner Bildungsstandards, zu erlangen (Geißler 2002:333). Mit dem Versuch der Herstellung von Chancengleichheit durch die Zweigliedrigkeit und der Möglichkeit, jeden Schulabschluss erreichen zu können, wird nicht bezweckt, dass die „Bildungsgrade der Gesellschaftsmitglieder angeglichen“ werden, sondern es richtet sich primär auf die „Abschaffung von Bildungsprivilegien, die sich durch soziale Ungleichheiten erklären lassen“ (Hradil 1999:150). Die Einführung der Integrierten Sekundarschule bedeutet, dass jedes Kind die Chance bzw. Möglichkeit erhält, bei entsprechenden Leistungen jeden möglichen Schulabschluss erlangen zu können. Denn „wer tüchtig und leistungsfähig ist, setzt sich durch“ (Geißler 2008:76). Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt ist, auf welchem Leistungsniveau der Unterricht der Integrierten Sekundarschulen erfolgt, könnte vermutet werden, dass „ein ‚Mehr‘ an Chancengleichheit nur mit der Absenkung des Leistungsniveaus erreicht wird“ (Geißler 2008:76).
3.1.5. Schlussbetrachtung der Chancengleichheit
Die theoretischen Betrachtungen ergaben, dass Chancengleichheit im Bildungswesen dann existent wäre, wenn alle Schüler von Beginn der Grundschulzeit die gleichen individuellen Voraussetzungen hätten und das Gleiche zur gleichen Zeit lernen würden, so dass auf der Basis gleicher Grundkenntnisse gleichwertige Leistungen erbracht werden könnten. Dann hätten sie die gleichen Chancen für einen erfolgreichen Schulverlauf, unabhängig von der sozialen Herkunft. Da jedoch jedes Kind in seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschiedlich ist, sind die Voraussetzungen nicht mehr gleich. Zudem bedingen äußere soziale Faktoren, individuelle Motivationen, Eltern, Lehrer, die schulische Arbeitsmethoden und die Schülerzusammensetzung etc. die Leistungsentfaltung, so dass unterschiedliche Chancen bestehen und auch immer bestehen bleiben. Chancengleichheit in der Grundschule und beim Übergang entsteht nicht durch individualisierte schulische Arbeit und durch die Freiheit, dass sich ein Kind im eigenen Rhythmus Wissen aneignet. Dieses ist darin begründet, dass ein Kind im Grundschulalter noch nicht frei, selbstständig und von sich aus lernt, sondern Anleitung des Lehrers und bestimmte Stimuli benötigt, die es zum Lernen und Erbringen von Leistungen motiviert, z.B. bedingt durch das Bildungsniveau und der Bildungsnähe des Elternhauses. Es besteht die Vermutung, dass Kinder, die frei wählen können, wann sie was wie erarbeiten können, sich die einfacheren Sachen heraussuchen, die ihrem eigentlichen Leistungspotenzial nicht immer entsprechen und ohne unterstützenden Einfluss, nur das Minimale erarbeiten bzw. lernen. Dadurch werden lediglich Leistungsdifferenzen und Differenzen der Grundkenntnisse verstärkt. Des Weiteren tritt deutlich hervor, dass die Rolle der Eltern, für die Chancen und Leistungen immer wichtiger werden. Ebenfalls ist anzunehmen, dass es für den Lehrer schwierig ist, in einer relativ großen, heterogen zusammengesetzten Klasse jedes einzelne Kind zu guten Leistungen und strukturiertem Arbeiten bzw. Lernen zu motivieren und anhand der erbrachten Leistungen richtig zu bewerten. Dieses könnte sich schwerwiegend auf die Übergangsempfehlung auswirken. In einem Bildungssystem, das nach Leistung selektiert, haben die Schüler mit den besten Noten, leistungsorientierten Eltern und motivierten Lehrern die besten Chancen, eine sehr gute Übergangsempfehlung zu erhalten und auch die gewählte Schule bzw. Schulform besuchen zu können.
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- Arbeit zitieren
- Andrea Roy (Autor:in), 2011, Die Berliner Schulreform und Chancengleichheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212039