Wie kein zweiter Vertreter der Kritischen Theorie vermochte Herbert Marcuse (1898-1979) zu polarisieren: Während seine Anhängerschaft, vornehmlich die akademische Jugend in den USA und Westdeutschland, ihn bewunderte und als Mentor der studentischen 68er Bewegung vereinnahmte, war er bei seinen Kritikern mehr als umstritten. Und selbst enge Freunde oder Weggefährten fanden immer wieder Reibungspunkte bzw. sahen sich gezwungen, Marcuses oft missverstandene Gesellschaftsdiagnosen zu erklären, mitunter auch zu relativieren. Viele seiner Gegner nahmen ihren Hauptanstoß daran, dass der unkonventionelle Querdenker durch seine Thesen zur Ikone des geistigen Widerstands wurde – und das ausgerechnet gegen eine für ihre Begriffe in nie da gewesenem Maße freiheitliche Gesellschaft.
Geleitet von der Grundannahme, dass Marcuse den „Befund einer totalitären Technokratie [...] für die kapitalistische und sozialistische Industriegesellschaft glei-chermaßen konstatiert“(1), ist es das Anliegen dieser Arbeit, die Bilder nachzuzeichnen, die Marcuse von der sowjetischen Gesellschaft auf der einen und den westlichen Gesellschaften auf der anderen Seite entwirft, um faktische wie tendenzielle Gemeinsamkeiten herauszustellen. Im Mittelpunkt der stark textorientierten Untersuchung und jeweils stellvertretend für die Analyse eines der beiden weltweit vorherrschenden Gesellschaftssysteme in den 1950er/1960er Jahren stehen „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus“(2) sowie „Der eindimensionale Mensch“(3), deren englischsprachige Erstauflagen 1957 bzw. 1964 publiziert wurden.
Die konkrete Fragestellung lautet: Inwiefern zeigt Marcuse Analogien oder Parallelen hinsichtlich totalitärer Tendenzen in der historischen Wirklichkeit, Ausgestaltung und Fortentwicklung der von ihm untersuchten Gesellschaftssysteme auf? Wie begründet er diese? Und reichen seine Befunde aus, um sowjetischen Kommunismus und westlichen Kapitalismus trotz ihrer antagonistischen Ausrichtung tatsächlich als „zwei Seiten derselben Medaille“ zu charakterisieren?
(1) Möll, Marc-Pierre: Kulturkritik von Herbert Marcuse. Totalitarismustheoretisches Denken von links. In: Aufklärung und Kritik, 1/2004, S. 7.
(2) Vgl. Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1974.
(3) Vgl. Ders.: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Problemstellung
- Aufbau
- Forschungsstand
- Analyse der sowjetischen Gesellschaft
- Der Kommunismus und seine anomalen Existenzbedingungen
- „Neue Rationalität“ und innere Widersprüche des Sowjetstaats
- Perspektiven einer sozialistischen Demokratie in der UdSSR
- Analyse der westlichen Gesellschaft
- Die Sphären der „falschen“ Freiheit
- Die Ohnmacht der Opposition
- Verewigungstendenzen des Systems
- Vergleich
- Frappierende Gemeinsamkeiten
- Entscheidende Unterschiede
- Auswege? - Prognosen zur gesellschaftlichen Entwicklung
- Kritik
- Schlussbetrachtung
- Fazit
- Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Bilder zu zeichnen, die Herbert Marcuse von der sowjetischen Gesellschaft einerseits und den westlichen Gesellschaften andererseits entwirft. Dabei sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gesellschaftssysteme im Fokus stehen.
- Die Analyse der Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus
- Die Kritik an der „falschen“ Freiheit in der westlichen Gesellschaft
- Die Identifizierung von totalitären Tendenzen in beiden Systemen
- Die Rolle der „neuen Rationalität“ im Sowjetstaat
- Die Ohnmacht der Opposition in der westlichen Gesellschaft
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel behandelt die Problemstellung der Arbeit und legt den Fokus auf Marcuse als kritischen Denker der „totalitären Technokratie“ in beiden Gesellschaftssystemen.
Kapitel zwei analysiert den sowjetischen Marxismus und beleuchtet die „neue Rationalität“ als Reaktion auf die inneren Widersprüche des Sowjetstaates.
Kapitel drei setzt sich mit der Analyse der westlichen Gesellschaft auseinander und beschreibt die Sphären der „falschen“ Freiheit, die durch die Eindimensionalität der modernen Industriegesellschaft entstehen.
Das vierte Kapitel vergleicht die von Marcuse skizzierten Gesellschaftsbilder anhand verschiedener Kriterien und stellt die frappierenden Gemeinsamkeiten sowie die entscheidenden Unterschiede heraus.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter dieser Arbeit sind Herbert Marcuse, Kritische Theorie, Totalitarismus, sowjetischer Marxismus, „neue Rationalität“, Eindimensionalität, „falsche“ Freiheit, westliche Gesellschaft, Vergleich, Gemeinsamkeiten, Unterschiede.
- Arbeit zitieren
- B.A. Frank Bodenschatz (Autor:in), 2012, Sowjetische und westliche Industriegesellschaft bei Herbert Marcuse: Zwei Seiten derselben Medaille, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212105