Leseprobe
Inhaltsübersicht
0. Einleitung
1. Poetik und Bedeutung des Dichters
2. Formale Gestaltung
3. Themen und ihre Bearbeitung
3a. Identität – Unendlichkeit – Vergänglichkeit
3b. Licht – Dunkelheit – Wasser
4. Ungaretti und die Moderne
5. Abschlussbemerkung
6. Bibliographie
0. Einleitung
Thema dieser Hausarbeit sollen die Gedichte Giuseppe Ungarettis Gedichtbandes L’Allegria sein. Ungaretti, der 1888 in Alexandria geboren wurde, studierte von 1912-1914 an der Sorbonne in Paris. Er nahm für das Herkunftsland seiner Eltern, für Italien am 1.Weltkrieg teil.
1916 erschienen seine ersten Gedichte unter dem Titel Il porto sepolto. 1919 wurden diese in einer weitere Sammlung unter dem Titel Allegria di Naufragi publiziert. Beide Sammlungen enthielten zwischen 1914 und 1919 entstandene Gedichte. 1931 erschienen diese gemeinsam unter dem Titel l’Allegria. Das von Ungaretti hierbei angewandte Verfahren der Abstraktion bei der Reduktion des Titels knüpft an Mallarmé an, einem französischen Symbolisten, und ähnlich wie bei diesem soll somit eine Annäherung konkreter Situationen an eine absolute Dimension erreicht werden. Ungaretti erweist sich hier nachträglich, wie bereits in den Gedichten, als für seine Zeit moderner Dichter und geht technisch teilweise sogar einen Schritt weiter als die französischen Dichter der Moderne. L’Allegria konstituiert darüber hinaus in einer späteren Publikation, der Vita di un Uomo, das erste Kapitel, und stellt in einem reflexiven Akt die erste Jahreszeit, den Frühling eines Mannes oder auch eines Menschen (eine der Abstraktion entgegenkommende Übersetzung) dar, biografisch wie auch künstlerisch. Beides, ethische Reife wie künstlerische Entwicklung nämlich standen für Ungaretti in engem Zusammenhang. Ungaretti selber betrachtete die Sammlung auch als eine Art Kriegsagebuch, was von Orts- und Zeitangaben unterstrichen wird und hatte die Intention, sie zu einer schönen Biografie seiner Person zu gestalten. 1970 starb Ungaretti in Rom.
Auf den folgenden Seiten möchte ich unter Berücksichtigung einzelner Gedichte auf die Poetik Ungarettis, die auch als poetica della parola bezeichnet wird, eingehen, auf die Themen/ Motive und Inhalte und ihre spezifische Gestaltung. In einem letzten Schritt möchte ich versuchen, Ungarettis Poesie in Beziehung zum Crepuscolarismo, Futurismo und Ermetismo zu setzen.
1. Poetik und Bedeutung des Dichters
Über das dichterische Verfahren und die Bedeutung, die ein Dichter Worten und Texten zuschreibt, erfährt man am ehesten etwas aus poetologischen Schriften. Das können ihrerseits poetisch gestaltete Texte sein wie z.B. Gedichte oder Essays. Ich werde mich an die Gedichte und die Sekundärliteratur halten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese beiden Gedichte werden häufig als die zu diesem Thema aussagekräftigsten herangezogen, da in ihnen explizit etwas über Poesie ausgesagt wird.
Ohne auf eine Interpretation der Metapher des verschütteten Hafens (z.B. biografisch als heimatliches Alexandria, psychologisch als freigesetzte Schaffenskraft oder kulturell als Bewusstwerdung der eigenen Tradition und Ursprünge, absolut oder historisch) und den Assoziationen (Reisen, Dichten, Krieg führen, archäologisches Forschen), die sie hervorruft, einzugehen, ist zu bemerken, dass zwischen Dichter und lyrischem Ich hier offenbar ein Unterschied gemacht wird.
Wenn das Ich nicht der Dichter ist, so könnte es der Leser sein, sogar die gleiche Person, die zuvor noch gedichtet hat, für den die Poesie immer aufs neue Rätsel aufgibt und ein geheimnistragendes Nichts ist. Die Unterscheidung könnte aber auch von einer allgemeinen Betrachtung aller Dichter hin zur konkreten Situation des eigenen Dichterseins führen.
In jedem Fall enthalten die beiden Strophen eine zeitliche Dimension in der der Schaffensprozess und nachträgliche Betrachtung des Geschaffenen enthalten ist.
In dem Gedicht Commiato wird das Nichts präzisiert. Die Welt, die Menschheit, das eigene Leben sind Dichtung und andererseits werden sie durch ein einzelnes Wort evoziert „fioriti dalla parola“. Metzlers Literaturlexikon trägt der in einer Zeile vereinzelten „propria vita“ Rechnung: „Welt und Menschheit finden Konsistenz und Bedeutung nur im Ich dem sie unterworfen werden, um als Wort zu erblühen.“[1]
Die Dichtung bringt eine Klarheit, die an geschliffenes Glas erinnert und führt zu einem Staunen über eine Erkenntnis, der eine gewisse Zeit der Reife vorangegangen ist. Während dieser Reifezeit, der Gärung, die keiner weiteren Zutaten bedarf, herrscht innere Stille, und wenn dann das die Essenz beinhaltende Wort auftaucht, so bewirkt es tiefgreifende Veränderungen im Leben des lyrischen Ichs. Leben und Dichtung sind also eng miteinander verbunden und dem einzelnen Wort kommt ein überragender Wert und eine beinahe magische Bedeutung im Sinne einer suggestiv die Welt und Weltsicht verändernden Kraft zu.
Die Suche nach dem Wort (oder vielmehr das Warten, nämlich das Warten auf die Offenbarung des Wortes) ist eine Suche nach der parola essenziale, daher wird Ungarettis Poetik oft als poetica della parola bezeichnet.
Eine Aussage zur Dichtungstheorie, deren Wirkung auf dem einzelnem poetischen Worte beruht, macht Ungaretti in den Ragioni di una Poesia von 1949. So schreibt er, daß ihm „davanti alla crisi d’un linguaggio, davanti all’invecchiamento d’una lingua, cioè al minacciato perire d’una civiltà“ daran gelegen war,„di cercare ragioni di una possibile speranza nel cuore della storia stessa; di cercarle, cioè nel valore della parola.”[2] Noyer-Weidner zeigt anhand dieses Ausschnittes, dass Ungaretti sein Dichtungskonzept historisch rechtfertigt. Italien stand vor einer Kultur- und einer Sprachkrise. Durch eine Erneuerung der Dichtersprache und Neubewertung des einzelnen Wortes könnte sie überwunden werden. Das Wesen des Wortes, nach dem Ungaretti suchte, war die ursprüngliche Reinheit und Unschuld und die wiederhergestellte Jungfräulichkeit.
Seine Theorie und seine Praxis brachten ihn in den Ruf, ein „Revolutionär der Dichtungssprache zu sein, die bis dahin von den hymnischen Klängen eines D’Annunzios oder den sanften Versen eines Pascolis bestimmt war.“[3]
Wenn auch die Betonung der Wichtigkeit des einzelnen Wortes seine Vereinzelung erahnen lässt, so sagt sie im Grunde nichts aus über die dichterische Praxis, ein Regelwerk oder das Verhältnis zwischen Wort/ Syntax/ Vers. Eine Untersuchung der Gedichte selber offenbart die Praxis.
Das Gedicht Il Porto sepolto zeigt, nach Angelika Baader, auch die Bedeutung des Dichters und das für Ungarettis Schaffen essenzielle Motiv des Gedächtnisses. Der Gedichtband wurde „unter dem Zeichen des Andenkens“[4] geschrieben. Der Bezug auf einen Toten und die Widmung an einen Lebenden bilden die Klammer des Gedichtbandes. Die Gedichte sind Mittler. Die Dichtung bewahrt persönliche Erinnerungen und transformiert sie durch Weitergeben in Überpersönliches. Der Dichter bringt aus dem Ferment des persönlich Erlebten Gesänge hervor, die sich in alle Winde zerstreuen und allgemein werden. „Für Ungaretti [ist] das Gedicht eine Stätte der Vermittlung zwischen Lebenden und Toten, Ort der Zusammenkunft von Tradiertem und Künftigem [...].“[5]
2. Formale Gestaltung
Ungarettis Gedichten wie z.B. Mattina, Eterno oder Girovago und Casa mia oder Dannazione in l’Allegria fallen insbesondere durch ihre äußere Struktur auf. Die Gedichte sind auf bis zu zwei Verse, Strophen auf einen einzigen Vers, Verse selbst bis auf ein einsilbiges Worte verkürzt. Zu diesem Phänomen findet man in der Literatur oft zwei Worte: Fragment und Vertikalismus.
Die minimale Form des Fragments wurde bereits von anderen Dichtern, deren poetologischer Grundgedanke die Idee der Reinigung und Konzentration des Wortes und ein auf das Wesentliche konzentrierter Stil war, fruchtbar gemacht. Ungaretti experimentierte diese Form ins Extreme. Lentzen führt die Form auf die poetica della parola, also darauf zurück, dass mit einem minimalen Sprachaufwand ein „Maximum an Aussage“[6] erreicht werden soll. Allerdings kann dieses Minimum nicht das einzelne Wort sein. Zwar erscheint dies bei Mattina plausibel, doch das liegt viel mehr daran, dass in diesem Gedicht ein einzelnes Wort bereits eine beinahe unvorstellbare Dimension an Aussagekraft erreicht.
Diese Aussagekraft wird allerdings durch das Zusammenspiel der Wort noch gesteigert. Auch in Eterno ist nicht das einzelne Wort das sinnschwerste, sondern der gesamte Gedanke in seiner verbalen Zusammenstellung.
[...]
[1] Metzlers italienische Literaturgeschichte. S.347.
[2] Zitiert nach: Alfred Noyer-Weidner: Zur Frage der „Poetik des Wortes“ in Ungarettis l’Allegria. S.8.
[3] Michael Marschall von Bieberstein: Ich suche ein unschuldiges Land. S.285.
[4] Baader, Angelika: Unschuld und Gedächtnis. S.25.
[5] Lenzen, Manfred: Italienische Lyrik des 20.Jahrhunderts. S. 94
[6] Baader, Angelika: Unschuld und Gedächtnis. S.26.