Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlegendes zu Heuristiken
a) Automatisches Verhalten und Manipulation
b) Konzept der Bauchentscheidungen nach Gigerenzer
3. Vor - und Nachteile der Anwendung von Heuristiken
a) Vorteile
b) Nachteile
4. Konkrete Beispiele
a) Soziale Bewährtheit
b) Überblick über weitere Prinzipien und Heuristiken
i. Nach Cialdini
ii. Nach Gigerenzer
5. Einordnung und Ausblick
1. Einleitung
Bewusst oder unbewusst sind wir tagtäglich mit den verschiedenen Facetten des menschlichen Verhaltens konfrontiert. Wir alle legen Verhaltensweisen an den Tag, die sich meist ohne großes Nachdenken oder bewusstes Lernen etabliert haben und folgen damit intuitiv vermeintlich verborgenen Regeln, sogenannten Heuristiken, deren Erforschung Gegenstand verschiedener Wissenschaftsdisziplinen ist, insbesondere der Psychologie.
Speziell die Wirtschaftswissenschaften arbeiten mit dem Modell des „homo oeconomicus“ als rational handelnden Nutzenmaximierer, der über alle Informationen verfügt bzw. anstrebt, diese zu erlangen. Auch in unserem gesellschaftlichen Grundverständnis wird - begünstigt durch den Geist der Aufklärung - dem rationalen Handeln und Denken getreu dem Dogma „erst wägen, dann wagen“ ein hoher Stellenwert beigemessen. Die Logik gilt als unübertrefflicher Ratgeber für richtiges und sinnvolles Handeln. Doch oft entbehrt das menschliche Verhalten jeglicher Rationalität. Egal ob im Privat- oder Berufsleben; oft wissen wir uns richtig zu entscheiden, ohne zu verstehen, wie diese Entscheidung zustande kommt. Eine genauere Betrachtung dieser „irrationalen“ Verhaltensweisen führt zu Mustern und Regeln, die sich zumeist nicht auf der Bewusstseinsebene abspielen. Festzuhalten ist aber, dass es sich beispielsweise beim Prozess der Entscheidungsfindung trotz aller „Undurchsichtigkeit“ nicht um Launen oder Zufall handelt[1], sondern dass es für die meisten dieser Phänomene doch Theorien mit sinnvollen Erklärungen gibt, wie diese Arbeit zeigen soll. Oft tauchen in diesem Zusammenhang auch Begriffe wie Intuition und Bauchgefühl / Bauchentscheidung auf, deren Wesen wir gemeinhin wenig mit logisch-maschinell arbeitenden Funktionen verbinden.
Das Ziel dieser Arbeit ist es einige dieser – doch existierenden – hinter der Intuition verborgenen Mechanismen genauer zu beleuchten und damit dem Verständnis der grundlegenden Prinzipien, nach denen Menschen Handeln und Entscheiden, näher zu kommen. Dabei geht es einerseits um Verhalten in sozialen Interaktionen (psychologische Prinzipien), andererseits aber auch um das Lösen verschiedenster kognitiver und sonstiger Aufgaben in unserer Umwelt. Als Beispiele für Letztere seien das Fangen eines fliegenden Balles aus der Luft (nähere Erläuterungen folgen) bzw. die Auswahl einer Marmelade unter vielen ähnlichen im Lebensmittelgeschäft genannt.
Aufbauend auf der Kenntnis dieser Muster und Regeln ergibt sich ein Potenzial zur Manipulation menschlichen Verhaltens durch gezielte Ausnutzung der zugrunde liegenden Mechanismen. Dieser Aspekt soll ebenfalls beleuchtet werden; gerade weil wir in vielen Bereichen unseres Lebens einer permanenten und gezielten Manipulation ausgesetzt sind, z. B. in der Werbung, in Verkaufsgesprächen oder bei der Konfrontation mit Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen; und die Absichten unserer Gegenüber nicht immer hehre sind.
Wir befinden uns also in dem Zwiespalt, einerseits die uns Menschen „eingebauten“ Heuristiken als intuitive Handlungsanleitung getrost verwenden zu können und andererseits deren Gebrauch aufgrund möglicher Manipulation oder Irrtümern kritisch zu hinterfragen. Des Weiteren stellt sich die Frage, wann es besser ist, rational und wann intuitiv zu handeln in Bezug auf die Güte der Ergebnisse der jeweiligen Methode. Diese Arbeit soll das Grundverständnis zur Beantwortung dieser Frage fördern bzw. die Grundproblematik darlegen und anhand einiger Beispiele veranschaulichen.
Die Annäherung erfolgt zunächst über Definitionen und Allgemeinem zu Heuristiken. Über die Vor- und Nachteile der Anwendung dieser „Handlungsmuster“ gelangt die Arbeit schließlich zu konkreteren Beispielen und einer Übersicht verschiedener Prinzipien.
Die Forschungsbereiche der begrenzten Rationalität und der Bauchentscheidungen sind wenig ausgeprägt. Vorreiter in diesen Bereichen ist insbesondere der deutsche Psychologe Gerd Gigerenzer, dessen Buch „Bauchentscheidungen“ einen Teil der Grundlage für diese Arbeit liefert. Der andere Teil basiert auf dem Werk „Psychologie des Überzeugens“ von Robert B. Cialdini, einem amerikanischen Psychologen (Näheres zur verwendeten Literatur siehe Literaturverzeichnis). Zwar bewegen sich die beiden Autoren in einem ähnlichen Bereich und haben durchaus Schnittpunkte, sie behandeln aber nicht das gleiche Thema und betrachten meist verschiedene Aspekte. Hier sollen einige Inhalte beider Autoren verknüpft bzw. gegenübergestellt werden, soweit dies möglich ist.
2. Grundlegendes zu Heuristiken
a) Automatisches Verhalten und Manipulation
Mit dem Begriff Heuristik bezeichnet Gigerenzer „die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen.“[2] Im hiesigen, etwas weiter gefassten Kontext können die folgenden Begriffe weitestgehend synonym verwendet werden: Faustregel, Shortcut, fixes Handlungsmuster, rigides Verhaltensmuster, automatisches Verhalten und mechanische Verhaltenssequenz. Der Bezug zu Gigerenzers Definition ist immer jener, dass eine möglichst gute Entscheidung (à Lösung) durch eine gezwungenermaßen simple Vorgehensweise (à aufgrund begrenzten Wissens und wenig Zeit) getroffen werden muss. Die simple Vorgehensweise entspricht dann einem starren Handlungsmuster, das automatisch abläuft.
Wir sprechen also von Auslösern und Anleitungen für Handlungen oder Entscheidungen, die allesamt nicht bewusst bedacht werden. In der Natur neigen viele Organismen zu automatischem Verhalten: von Menschen über Tiere bis hin zu primitiven Organismen. Entscheidend ist das Bestreben, nicht jeden einzelnen Schritt, jede Bewegung, jede Entscheidung und Handlung bewusst in einem gedanklichen Prozess vorzubereiten und durchzuführen, sondern sich bestimmter Routinen zu bedienen. Doch selbst die Tatsache, dass in diesem Fall eine Routine das Steuer übernommen hat, dringt nicht ins Bewusstsein vor. Philosophisch betrachtet ist diese Beobachtung in Bezug auf den Menschen beachtlich, weil er sich gemäß den „Errungenschaften“ der Aufklärung seines eigenen Verstandes bedienen und nicht kopflos inneren Trieben folgen sollte. Vor diesem Hintergrund sind die Erkenntnisse der beiden Autoren, auf denen diese Arbeit im Wesentlichen beruht, teilweise sehr ernüchternd und verblüffend.
Eine wesentliche Eigenschaft dieser automatischen Verhaltensmuster ist die Existenz eines einzigen Auslösemerkmals, das sogenannte „trigger - feature“, wie Cialdini es nennt. Es ermöglicht dem Organismus, sein Verhalten bzw. eine Entscheidung an einem einzigen Merkmal festzumachen, ohne vorher alle weiteren Informationen eingehend analysiert zu haben. Es lassen sich zwei Motivationen / Ansätze für die Anwendung dieser Verhaltensmuster identifizieren:
1. Zur Aufwandminimierung. Obwohl umfangreiche Informationen für eine Analyse vorhanden sind, beschränkt sich der Organismus gezielt auf die Verarbeitung eines einzelnen Merkmals, welches er aus einer beliebig großen Reizflut herausgreift.
2. Die Situation lässt eine genaue Analyse aufgrund verschiedener Restriktionen nicht zu: Fehlende Informationen, zu wenig Zeit oder andere Unsicherheiten (auch emotionaler Art) verhindern ein vollständiges Bedenken und erfordern bekannte Muster, wie mit so einer Situation umgegangen werden kann.
Es handelt sich so oder so um ein unbewusstes und unreflektiertes Reiz-Reaktions-Muster, dem der Organismus blind folgt. Dieses Muster beschreibt Cialdini mit einer „Klick – Surr“ – Reaktion: Ein Umweltreiz trifft auf den Organismus und ohne Weiteres wird ein „Band“ abgespielt („Surr“) – die fixe Reaktion. Dieses Prinzip ist die Grundlage für die verschiedenen Ausprägungen und Prinzipien, die Cialdini erläutert. Hier drei Beispiele für „Klick – Surr“ – Reaktionen:
- Der Fürsorgeinstinkt bei Truthennen wird durch das „Tschiepen“ der Küken ausgelöst. Das Auslösemerkmal ist das Geräusch („Tschiepen“) der Küken. Versuche haben gezeigt[3], dass auch ein ausgestopftes Stinktier (ein natürlicher Feind der Truthenne) liebevoll bemuttert wird, solange es das typische Geräusch von sich gibt.
- Ein weiteres Beispiel menschlicher Natur ist der Einsatz des Wortes „weil“ beim Hervorbringen einer Bitte[4]. Begründet jemand eine Bitte an eine andere Person mit einem anschließenden Nebensatz, der durch das Wort „weil“ eingeleitet wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Bitte nachgekommen wird höher, als wenn dieser Nebensatz fehlt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Nebensatz inhaltlich neue Information liefert oder nicht. Allein das Wort „weil“ liefert dem Gegenüber einen guten Grund, etwas zu tun. Es legt die Richtigkeit der geforderten Aktion nahe.
- Die Höhe des Preises für ein Produkt ist ein Qualitätssignal bzw. ein Auslösemerkmal für Qualität[5]. Besonders in Situationen, in denen man wenig Ahnung von bestimmten Produkten hat (Unsicherheit), fällt es leicht, sich an dem Stereotyp teuer=gut zu orientieren, um eine Kaufentscheidung zu treffen. Der Preis kann dadurch schnell zum alleinigen Auslösemerkmal werden.
Dieses automatische Verhalten steht im Gegensatz zu kontrolliertem Verhalten, welches sich durch gründliche Analyse aller vorhandenen Informationen auszeichnet, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Ein treffendes Beispiel ist hier die Bilanzmethode, die allen Wahlmöglichkeiten und deren Teilaspekte kardinale Zahlenwerte zuordnet und in einer Gesamtrechnung zu einer klaren Rangfolge kommt.
Laut Gigerenzer lassen sich Menschen durch eine grobe Klassifizierung einer der beiden Vorgehensweisen zuordnen[6]. Es gibt die „Maximierer“, die umfangreiches Suchen und Vergleichen vorziehen, und auf der anderen Seite die „Satisficer“, die nur begrenzt suchen und rasch mit der erst besten Möglichkeit zufrieden sind, die gut genug erscheint. Seine Untersuchungen bescheinigen einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit abhängig vom Typus. Den „Satisficern“ schreibt er die höhere Lebenszufriedenheit zu.
Schließlich stellt sich die Frage, wann welche Vorgehensweise angebracht ist. Rational zwischen den beiden Verhaltensweisen auswählen kann man freilich nur, wenn man über genügend Selbstreflexion und entsprechendes Wissen über die Zusammenhänge verfügt. Ansonsten wendet man automatisch je nach Erfahrung und Situation eine der beiden an. Erfüllt man die vorangegangenen Bedingungen, ergeben sich zwei neue, die erfüllt sein müssen: Man muss gewillt und in der Lage sein, um die analytische Vorgehensweise zu wählen. Es muss also erstens die Motivation gegeben sein und zweitens eine ausreichende Informationsausstattung verbunden mit genügend geistigen Ressourcen, um diese bewältigen zu können. Probleme ergeben sich dann, wenn wir den Rahmenbedingungen unserer heutigen Welt ausgesetzt sind, die sich durch Komplexität und Schnelllebigkeit auszeichnet. Dadurch sind wir oft kognitiv nicht mehr in der Lage, überlegt zu handeln, weil dies sonst einer Überbeanspruchung unserer geistigen Ressourcen gleichkäme oder es schlicht unmöglich machen würde, den Alltag zu bewältigen. Somit sind wir auf die Anwendung von Heuristiken im täglichen Leben gezwungenermaßen angewiesen. Cialdini bringt dies in folgendem Zitat zum Ausdruck:
„Besonders häufig nutzen wir diese Einzelhinweise, wenn wir weder die Lust noch die Zeit, die Energie oder die kognitiven Ressourcen haben, eine komplette Analyse der Situation durchzuführen. In Eile, gestresst, verunsichert, desinteressiert, abgelenkt oder erschöpft neigen wir dazu, nur einen kleinen Teil der zur Verfügung stehenden Information zu beachten.“[7]
Dieses Zitat sagt aus, dass an sich eine vollständige Analyse der Situation wünschenswert und erstrebenswert ist, weil wir intuitiv davon ausgehen, dass dies zu besseren Ergebnissen führt. Dies ist sicherlich richtig für die Situationen, mit denen sich Cialdini beschäftigt: soziale Interaktionen von Angesicht zu Angesicht.
Manipulation von Verhalten
Ein gutes Verständnis der (beschriebenen) Mechanismen ermöglicht ein gezieltes „Hacken“ in den Prozess. Durch gezielte Manipulation bzw. Erzeugung von Auslösemerkmalen lässt sich Einfluss auf das Verhalten anderer Organismen nehmen. Im Folgenden sollen in erster Linie Menschen betrachtet werden. Dabei geht es oft um das Überzeugen einer anderen Person, was dem Kontext von Cialdini entspricht.
Wie kann man sich vor Manipulation schützen? Voraussetzung dafür ist ein gutes Verständnis der Hintergründe und Mechanismen. Erst dann ist man eventuell in der Lage den ‚Autopiloten‘ abzuschalten. Zunächst muss man sich selbst bzw. die Situation von außen betrachten und erkennen können, dass man gerade geneigt ist, sich automatisch zu verhalten. Daraufhin sollte ein Evaluationsprozess beginnen, der bewertet, ob es gerade gut oder schlecht ist, automatisch zu handeln. Es läuft also alles darauf hinaus, die Prozesse auf die Bewusstseinsebene zu heben.
Ausgehend von diesen Grundlagen befasst sich Cialdini in seinem Werk „Psychologie des Überzeugens“ mit verschiedenen konkreten Ausprägungen von automatischem Verhalten, die in Kapitel 4 zur Sprache kommen.
Davor lohnt sich jedoch erst noch die Auseinandersetzung mit Gigerenzers Grundverständnis von Bauchentscheidungen.
[...]
[1] Gigerenzer, Gerd (2007). Bauchentscheidungen. S.26
[2] Gigerenzer, G., Todd, P. M. & the ABC Research Group (1999). Wikipedia (online).
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Heuristik, zitiert nach: Simple heuristics that make us smart.
New York: Oxford University Press. (abgerufen am 10. Oktober 2009)
[3] Cialdini, Robert B. (2007). Die Psychologie des Überzeugens. S.21
[4] Cialdini, Robert B. (2007). Die Psychologie des Überzeugens. S.24
[5] Cialdini, Robert B. (2007). Die Psychologie des Überzeugens. S.20, 25f
[6] Gigerenzer, Gerd (2007). Bauchentscheidungen. S.14f
[7] Cialdini, Robert B. (2007). Die Psychologie des Überzeugens. S.338