Erinnern und Geschichte(n) schreiben. Erzählstrategien in Bettina Balákas "Eisflüstern"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Bruch mit Chronologie : Chaotischer Einsatz unterschiedlicher Zeitebenen?
2.1 Kapitelanordnung: Antisequenzielle Disposition
2.2 Kapitelaufbau: Erinnern und Reflektieren als Handlung

3. Konvergenz der Handlung: Erzählstränge verknüpfen

4. Subjektivität und Geschichte: Fremde Stimmen im Erzählertext

5. Legitimation und Integration: ‚ man ‘ als identitätsstiftendes Erzählinstrument

6. Schluss: Zusammenfassung

7. Bibliografie

1. Einleitung

Bettina Balákas Roman Eisflüstern mag an der Oberfläche als klassische Kriminalgeschichte identifiziert werden: Es gibt Morde, es gibt Ermittler und am Ende ist der Mörder enttarnt und unschädlich gemacht. Im Kern geht es aber nicht um die Aufdeckung einer schrecklichen Verbrechensserie, sondern um die Aufdeckung einer in weiten Teilen viel schrecklicheren Vergangenheit dieser Serie und aller von ihr direkt oder indirekt Betroffenen. Die eigentliche Werkaussage ist nämlich die, „dass die Gegenwart immer von der Vergangenheit bestimmt, wenn nicht gar eingeholt wird“1. Die für den narratologisch orientierten Literaturwissenschaftler zentrale Frage ist nun, wie sich der Themenkomplex ‚Vergangenheit und Geschichte - kollektiv und individuell‘ in seinem Substrat Erinnerung konkret im Text niederschlägt und wie seine Wirkungsmacht im Jetzt. Kürzer: Wie funktioniert Erinnerung auf formaler und sprachlicher Erzählebene? Wie gestaltet sich im Gesamtnarrativ die Präsenz des Vergangenen auch in der Gegenwart?

2. Bruch mit Chronologie : Chaotischer Einsatz unterschiedlicher Zeitebenen?

Beschränkt man sich nicht nur auf tatsächliche, im Erzählmoment aktuelle Handlung2, so findet sich in der meisten Prosaliteratur mehr als eine Zeitebene: Analepsen in Form von Binnenerzählungen und Erinnerungen sind beinahe unverzichtbar, wenn es um die Abbildung des Lebens geht. Im hier behandelten Roman ist das Erinnern von so zentraler Bedeutung, dass der Eindruck entsteht, nicht die Kriminalgeschichte der Rahmenhandlung stehe im Mittelpunkt, sondern das bereits Geschehene, das Geschehene also sei die eigentliche Handlung. Um das Wirken dieser vergangenen Ereignisse zu verstehen und sich Klarheit bei der narratologischen Analyse zu verschaffen, ist es dienlich, die Zeiten, von denen erzählt wird grob zu periodisieren. Der Aspekt, unter dem die hier gewählte Periodisierung (Abb. 1) erfolgt, sind individuelle Erlebnisse und Entwicklungsstufen des Protagonisten Balthasar Beck. Seine Erinnerungen bekommen den meisten Platz im Roman zugesprochen und der für ihn persönlich größte Einschnitt ist zugleich auch der größte für beinahe alle Personen seiner Generation - nicht nur seines Landes: der Beginn des Ersten Weltkrieges. Mit ‚Gegenwart‘ ist die Zeit der Rahmenhandlung, also der Mordserie und Ermittlungsgeschichte gemeint.

Abb. 1: Zeitebenen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In den beiden nun folgenden Abschnitten soll näher auf die Anordnung der Kapitel in Eisflüstern und deren Wirkung und den inneren Aufbau dieser eingegangen werden.

2.1 Kapitelanordnung: Antisequenzielle Disposition

Wie die Überschrift zu Punkt 2 bereits verrät, sind die Kapitel im Roman nicht chronologisch gereiht. Einen Überblick soll Abbildung 2 geben.

Abb. 2: Kapitel nach Zeitebenen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

GRAU = reine Vergangenheitskapitel

Die grau unterlegten Kapitel spielen sich nur in der Vergangenheit aus Sicht des gerade nach Wien zurückgekehrten Protagonisten Beck ab. Sie werden nicht oder nur in kürzester Form (Kap. 27) wie die anderen Kapitel, die Vergangenes erzählen (s. 2.2), aus der Gegenwart der Rahmenhandlung begonnen, um dann auf der Zeitleiste zurück zu gehen, sondern exponieren die Vergangenheit wie einen Monolithen, wodurch sie besondere Schwere bekommt. Diese auf den ersten Blick oft wie deplatziert wirkenden Einschübe kommen aus dem Nichts und schieben die aktuelle Handlung aus dem sich dem zu Ende neigenden Jahr 1922 brachial zur Seite - z.B. zerschneidet das Vergangenheitskapitel 15, das eine traumatische Flussüberquerung in aller Grausamkeit darstellt, die inhaltlich an sich direkt aneinandergrenzenden Kapitel 14 und 16 -, wenngleich sie auch erklären, warum die Personen in ihrer Gegenwart handeln wie sie handeln und sind wie sie sind. Kapitel 18 als Ausnahme schließt an das Ende des vorherigen (aber eben in der Vergangenheit!) an, markiert jedoch ebenso einen Meilenstein in der Vergangenheit: Nachdem Marianne, Becks Ehefrau, aus der homosexuellen Beziehung zu einer Freundin lernt, sich egoistischer zu verhalten („Zum Teufel, dachte Marianne, ich muss Geld verdienen wie ein Mann, also kann ich auch aufs Direkte zugehen.“, 52%3 ) und über das Lesen der bis dato unberührten

Tagebücher Becks erkennen muss, dass ihr sich im Krieg befindlicher Gatte Interesse an ihrer eigenen Schwester zeigte, als er schon mit ihr angebandelt hatte, gerät sie in Rage („Es war eine schwierige Situation, wenn man einen Mann hätte umbringen können, dieser aber womöglich gerade von einem anderen umgebracht wurde.“, 54%) und ist dennoch erfreut, da ihr Mann sich schlussendlich für sie entschieden hat. Dies ist prägend für ihr Verhalten nach der Zusammenführung der Familie und wohl auch entscheidend für dessen Reüssieren. Kapitel 23 ist eine Reaktion auf das Ende des vorangegangenen: Nachdem Beck von seiner Frau auf seine Vergangenheit als Kämpfer für die Rote Armee nach Zusammenbruch des Kaiserreichs angesprochen wird, schildert eine auktoriale Erzählinstanz nun in medias res, was sich nach Kriegsende und -gefangenschaft in der Ferne abgespielt hat. Hier wird unverblümt ein wunder Punkt des ehemals kaisertreuen Offiziers Beck thematisiert. Von größter Wichtigkeit - wie sich später herausstellt - für die Lösung des Kriminalfalls ist das eingangs schon erwähnte 27. Kapitel: Die Wiedergabe der Vergangenheit liefert den Grund für die Morde. Im letzten reinen Vergangenheitskapitel (31) wird ein weiterer Brocken aus Becks Erinnerung zu Tage gefördert, nämlich der Besuch der „österreichische[n] Walhalla“ (89%) vulgo der Gedenkstätte Heldenberg. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass hier eigentlich Becks Hinrichtung stattfinden soll, aber auch, da in Zusammenhang mit diesem Ort ein anderer, ständig schwelender Konflikt im Leben des Protagonisten Beck augenscheinlich wird. Als Sohn eines Antisemiten („Wie jeder vernünftige Antisemit war auch Becks Vater […] bereit gewesen, die eine oder andere Ausnahme zu machen.“, 89%) hat er eine Jüdin geheiratet und mit dieser ein Kind gezeugt, was ihm beispielsweise auch die Verachtung seines Arbeitskollegen Ritschl einbringt. Wenn auch ein kritischer und misstrauischer Geist, so spürt Beck doch die Verlockungen des trivialen Glaubens an eine Überlegenheit qua Abstammung, als er mit Ritschl im Weinhaus sitzt und, bereits ein wenig angetrunken, durch die Reden seines Kollegen manipuliert zu sein scheint: „[Er] fühlte den Sog in sich, mit einem Schlag wichtig und bedeutsam zu werden und plötzlich über den von Marianne verehrten ››Geistesgrößen‹‹ zu stehen - zumindest über jenen, die jüdischer Herkunft waren.“ (Kap. 21, 62%)

Es wird deutlich, dass die Platzierung der beschriebenen Kapitel eine Aussage über das Funktionieren von Erinnerung und damit auch das Verhalten von Erinnerungen macht. Erinnerung ist nicht kontrollierbar und Erinnerungen sind oft unbequem - wenn auch provozierbar, so doch nicht selbstbestimmt, sondern fremdinduziert. Vergangenheit liegt nicht regungslos hinter der Person, die sie erlebt hat, sondern sie wirkt in die Gegenwart, im Positiven wie im Negativen. Der Einsatz solch uneingeleiteter Erinnerungsstücke verschärft den Effekt der Erinnerung, das Geschehene wird unmittelbarer und damit wirkungsvoller für den Leser. Die Mischung der Zeitebenen evoziert eine ganz andere Wirkung als die historisch ordentliche Sequenz der Ereignisse, weshalb auch die Kapitel in ihrer inneren Struktur ähnlich aufgebaut sind.

2.2 Kapitelaufbau: Erinnern und Reflektieren als Handlung

Der narratologische Begriff der Pause wird dann eingesetzt, wenn die eigentliche Handlung innehält, so z.B. bei Raumbeschreibungen: Es geschieht etwas, das den Leser Zeit kostet, während die Uhr der Geschichte still steht. Eisflüstern bietet zwar nicht viele solcher Beschreibungen, jedoch umso mehr Erinnerungs- und Reflexionsexkursionen, in denen die Rahmenhandlung ebenfalls pausiert bzw. der Blick von ihr genommen wird, wenngleich sie auch weiterfortschreitet. Das Kapitel 7, Gespinste, soll hier exemplarisch auf solche Ausflüge in die Vergangenheit hin untersucht werden. In der Gegenwart dieses Textabschnitts kommen Beck und seine Begleiter gerade am Friedhof der Namenlosen an und wollen den kurz vor Erreichen Wiens verstorbenen Kameraden Sesta bestatten. Die erzählte Zeit umfasst einen Nachmittag und Abend, sie wird - natürlich und auch üblich - gerafft, die Erzähl- bzw. Lesezeit beträgt in aller Regel nur einige Minuten. Die Rückblicke in Becks Vergangenheit und seine Überlegungen jedoch werden gedehnt: Zwar sind die Passagen an beispielsweise die gemeinsame Zeit mit Marianne oder den Tod der eigenen Mutter kurz gehalten, aber höchstwahrscheinlich in ihrer Ausführung von größerer Dauer als der eigentliche Moment der aufblitzenden Reminiszenz4, der Vorstellung in Bild und Gefühl beim Protagonisten Beck. Die Vergangenheit bekommt somit buchstäblich und im übertragenen Sinn mehr Raum zugestanden.

[...]


1 Maria-Regina Knecht, S. 154.

2 Dies könnte beispielsweise bei der Komposition unterschiedlicher Tagebücher aus verschiedenen Generationen oder Epochen der Fall sein.

3 Alle Zitate mit Prozentangaben stammen aus der Primärliteratur. Da die für diese Arbeit verwendete Ausgabe von Eisflüstern für den Kindle-Ebookreader keinen Verweis auf die Seitenzahl einer Druckausgabe anbietet, wird diese relative Angabe genutzt.

4 Hierfür wäre die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, den Bettina Baláka an anderer Stelle (Überlegungen Ritschls unter Stress, Kap. 20, 59% und 60%) in Eisflüstern zu verwenden weiß, angebrachter.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Erinnern und Geschichte(n) schreiben. Erzählstrategien in Bettina Balákas "Eisflüstern"
Hochschule
Universität Wien  (Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
22
Katalognummer
V212642
ISBN (eBook)
9783656410201
ISBN (Buch)
9783656412823
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Narratologie, Bettina, Balaka, Eisflüstern, Erzähltheorie
Arbeit zitieren
B.A. Peter Mußler (Autor:in), 2013, Erinnern und Geschichte(n) schreiben. Erzählstrategien in Bettina Balákas "Eisflüstern", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212642

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