Musikalische Gruppenimprovisation in der Sozialpädagogik. Wesen, Wirkung und Möglichkeiten


Diplomarbeit, 1993

70 Seiten, Note: 2


Leseprobe


G L I E D E R U N G

1. Einleitung

2. Was ist Musik?
2.1. Die Gestalt der Musik nach Hegi
2.1.1. Der Rhythmus
2.1.2. Der Klang
2.1.3. Die Melodie
2.1.4. Die Dynamik
2.1.5. Die Form
2.2. Musikimprovisation und auditive
Wahrnehmung

3. Was ist Improvisation?
3.1. Improvisation in verschiedenen
Musikidiomen
3.1.1. Improvisation in der abendländischen
Klassik
3.1.2. Improvisation im Jazz
3.1.3. Improvisation in der elektronischen Musik
3.1.4. Improvisation in der indischen Klassik
3.1.5. Improvisation im Flamenco
3.1.6. Zusammenfassung
3.2. Improvisation in der Musikpädagogik
3.2.1. Geschichtlicher Exkurs
3.2.2. Improvisation aus pädagogischer Sicht
3.3. Improvisation am Beispiel CAN

4. Was ist musikalische Gruppenimpro-
visation?
4.1. Exemplarischer Ablauf von Musikimpro-
visation unter Einbeziehung spiel- und reflexions­relevanter Faktoren
4.2. Die Dimensionen der Gruppenimprovisation
nach Kapteina
4.2.1. Die ästhetische Dimension
4.2.2. Die pädagogische Dimension
4.2.3. Die politische Dimension
4.2.4. Die sozialpsychologische Dimension
4.2.5. Die tiefenpsychologische Dimension
4.2.6. Die spirituelle Dimension

5. Musikimprovisation in der Sozial-
pädagogik
5.1. Musikimprovisation mit Kindern
5.2. Musikimprovisation mit Jugendlichen
5.3. Musikimprovisation mit Suchtkranken
5.4. Musikimprovisation mit behinderten
Menschen
5.5. Musikimprovisation mit alten Menschen
5.6. Musikimprovisation mit Familien
5.7. Musikimprovisation in der Ausbildung

6. Schlußbemerkungen

7. Literaturverzeichnis

Vorbemerkung

Soweit es sich nicht vermeiden ließ, bin ich in mei­ner Arbeit der traditionellen 'männlichen' Schreib­weise gefolgt, auch wenn damit oft beide Geschlechter gemeint sind. In diesen Fällen waren für mich Lesbar­keit und die persönliche Sicherheit im Ausdruck wichtiger als sprachliche Gleichberech­tigung.

Bedanken möchte ich mich bei Ferdinand Leist, dessen Seminare meine Liebe für das Thema Musikimprovisation weckten, bei Almut Seidel für ihre kompetente Bera­tung, bei Karin Buselmeier, Andreas Mlynek, Christoph Korn und Elka Aurora.

Ich danke David, Thomas und Felix für ihre Hilfe in P7, Martina, Ole und meinem Vater für die Benutzung ihrer Computer und ganz besonders Ines.

1. Einleitung

Über die Bedeutung und Wichtigkeit von freier Musik gibt es ver­schiedene Ansichten. Gerade im Zuge der weiteren Verschulung des Studiums an dieser FH gerät diese Kunstform - zusammen mit anderen Bestandteilen des Lernbereichs Ästhetik und Kommunikation - in die Schußlinie mancher DozentInnen. Andererseits erlebt die Arbeit mit Musik seit Jahren einen kontinuier­lichen Aufwind, von der Anerkennung der Möglichkeiten und Wirkungen freier Musik in Animation, Pädagogik und Therapie im Großen bis hinunter zu stei­genden (bzw. beständig hohen) Besuchszahlen in Improvisa­tions­seminaren. Natürlich ist die Musikimprovisation (MI) nur ein Teil der neuen Wege in der Sozial­pädagogik, doch paßt sie wiederum zu jener noch relativ jungen Hörbewegung in unserer Kultur (vgl. BEHRENDT, 1985).

Ein Indikator dieser Entwicklung ist die weitere Vergrößerung und Professionalisierung des Zusatz­studiums 'Sozialpädagogische Musiktherapie' an dieser FH, in dessen Studienordnung die körper­liche, seeli­sche, soziale und kulturelle Wirkung von Musik auf­ge­zeigt wird (vgl. Studienordnung Sozialpädagogische Musik­therapie, 3).

Meine Intention ist es, mit dieser Arbeit einen möglichst breiten Einblick in dieses nicht einfache Thema geben zu können. Nicht nur, daß das Studienfach Sozialpädagogik eine aus verschiedenen Wissenschaften wie Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Recht u.a. bestehende Profession ist, also nicht eindeutig de­finierbar, so ist auch Musik etwas, was sich mit Worten schwer beschreiben läßt. Deshalb stelle ich Fragen, die ich aus verschiedenen Sicht­weisen heraus zu beantworten suche. So frage ich als erstes einen Gestalttherapeuten nach dem Wesen von Musik und gehe auf ihr zen­trales Wahrnehmungsorgan ein. Dann wird Wesen, Geschichte und Bedeutung der Improvisation aus der 'Sicht' von Musikern und Pädagogen heraus zu be­schreiben versucht. Nicht stellen werde ich die Frage 'Was ist eine Gruppe?', doch werden Zusammenhänge - gerade die Bedeutung von Kommunikation - immer wieder auftauchen.

Im vierten Kapitel wird dann die musikalische Grup­penimpro­visation näher beschrieben; zum einen anhand meiner Seminar­erfahrungen an dieser FH von 1990-93, zum anderen durch die Beschreibung der von Kapteina aufgestellten Dimensionen der GI. Die Abkürzungen MI und GI werde ich im übrigen synonym verwenden, da es hier immer um die von einer Gruppe improvisierte Musik geht. Das letzte große Kapitel stellt dann den Bezug zur sozial­pädagogischen Praxis und Lehre her. Anhand verschiedener Bereiche werden Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Einsatzes von MI dargestellt. Ihre Wirkung ist im jeweiligen Zusammenhang während der ganzen Arbeit Thema.

2. Was ist Musik ?

2.1. Die Gestalt der Musik nach Hegi

Im folgenden erkläre ich die Bestandteile eines Gan­zen in fünf Teilgebieten. Da diagnostische Hinweise und künstlerische Bauelemente miteinander verknüpft sind, beschreibt Hegi diese Zusammenhänge "im Rhyth­mus als Körper- und Zeiterfahrung, im Klang als Ge­fühlsraum, in der Melodie als Linie des Ausdrucks, in der Dynamik als Kraft der Verwandlung und in der Form als Abgrenzung und Zusammenfassung." (S. 24)

2.1.1. Der Rhythmus

Wir leben inmitten von unzähligen Rhythmen, die uns meistens als solche gar nicht bewußt sind: "Alle le­bendigen Abläufe haben ihre eigenen rhythmischen Muster. Das Einfachste, der Zweiertakt, ist mit der Rhythmik des Gehens und des Herzschlages verbunden. Das andere universale Grundmuster, der Dreiertakt, entstammt der Rhythmik des Atmens. Diese Körper- und Zahlenlogik ist der Grund dafür, daß es keine anderen Rhythmen als Zweier und Dreier gibt. Alle anderen sind Spielformen oder Kombinationen davon." (HEGI, 32)

Rhythmus bezeichnet immer eine Ganzheit, die viele andere Begriffe miteinschließt: Puls, Schlag (Beat), Takt, Metrum, Groove, Vibration, ... oder Zeit, Epoche, Zyklus, Periode u.a.m.

Es gibt auf dieser Welt verschiedene Rhythmus-Kultu­ren. In der unsrigen herrscht der 2er- bzw. 4er-Rhythmus vor, sogenannte gerade Rhythmen, der 3er ist uns etwas fremder, 5er-, 7er-, 10er-, 11er-Rhythmen existieren für die meisten westlichen Menschen nicht, während sie in Indonesien zur Volksmusik, genauer: dem Gamelan, gehören.

"Jeder Rhythmus hat seinen persönlichen Charakter - ebenso hat jede Person ihren charakteristischen Rhythmus." (HEGI, 33) Doch haben - laut HEGI - Men­schen in industrialisierten Ländern die Verbindung zu dem Ur-Rhythmus (der sich aus Arbeitsabläufen und Fortbewegungsarten bzw. der kulturellen Entsprechung Tanz entwickelt hat) und vor allem zu ihrem persön­lichen Rhythmus verloren; so besteht ein Zusammenhang zwischen Störungen im rhythmischen Lebensablauf und modernen Zivilisationskrankheiten: "All die mensch­lichen Schicksale wie beispielsweise Fettleibigkeit, Herzkrankkeiten, Atem- und Gefühlsflachheit, Schlaf­störungen, Sucht, Depression und Suizidalität sind vergleichbar mit einer Trommel, deren Fell so lange gegen ihre eigene Schwingung geschlagen wird, bis dieses reißt. Die Trommel existiert noch, aber sie klingt nicht mehr." (HEGI, 35)

Ein neuer Lebensrhythmus muß gefunden werden, das Wunschziel bildet eine geschlossene rhythmische Ge­stalt, die - umgangssprachlich gesagt - 'gut drauf' ist, was bedeutet: "... auf einem guten, pulsierenden oder gemeinsamen rhythmischen Gefühl sein, eine Zeit in Gestalt erleben, die Energie gibt und trägt. Rhythmus ist Zeit-Gestalt, die Erlebbarkeit der Zeit schlechthin." (HEGI, 36)

"Rhythmus ist Leben." (HEGI, 32)

2.1.2. Der Klang

Der Klang ist ehrlich - Worte lügen und verführen, meint Fritz PERLS; so ehrlich, daß er schon als ver­räterisch bezeichnet werden kann. Doch was ist Klang? Technisch betrachtet entsteht er durch zueinander in Beziehung gesetzte Schwingungen von Tönen und ihren Obertönen, durch das Zusammen­schwingen verschiedener Töne. Auf jedem Ton baut eine Obertonleiter auf, und das Vorhandensein und die Ausprägung der Obertöne bestimmt die Klangfarbe - derselbe Ton, auf zwei ver­schiedenen Instrumenten gespielt, klingt verschieden.

Die Obertonleiter wird gebildet, indem eine Saite durch alle natürlichen Zahlen von zwei an aufsteigend geteilt wird. Das heißt: durch Halbierung bildet sich die Oktave, durch Dritteln die Quint, Vierteln die Quart usw. Interessant, daß auf der ganzen Welt die fünf bis sechs einfachsten Schwingungsverhältnisse (Intervalle) als harmonisch, beruhigend, schön, eben klingend empfunden werden; wobei wir heute Intervalle genießen, die vor Jahrhunderten in unserem Kultur­kreis als Mißklang empfunden wurden (vgl. BEHRENDT, 1990). Nicht zu vergessen, die von Johannes KEPLER gefundene Analogie zwischen den einfachen Zahlenver­hältnissen des goldenen Schnittes, des Obertongebäu­des und den Körperproportionen des Menschen sowie den Verhältnissen der Abstände unserer Planeten voneinan­der.

"Klang ist ein amorphes Ereignis. Er ist trotz seiner genauen physikalischen Bestimmbarkeit in seiner Er­scheinung formlos." (HEGI, 75) Er ist "(...) ein im­materielles, unstoffliches Phänomen, schwierig faßbar wie Energie oder Äther." (HEGI, 86) "Klang ist nur im Moment, er ist dauernd prozeßhaft in Veränderung. (...) er läßt sich nur empfinden, fühlen: Klang ist Gefühl!" (HEGI, 75)

Das unmittelbarste Medium des Menschen ist die Stimme. Sie steht jederzeit zur Verfügung. Und: jede Stimme klingt anders. Das lateinische per-sona wird linguistisch von 'durch die Maske hindurchklingen' hergeleitet, frei ausgelegt mit 'durch den Klang' übersetzt. HEGI kommt nach weiteren Überlegungen zum Schluß: "Die Stimme eines Menschen ist die am direk­testen klingende Verbindung zwischen seiner inneren und äußeren Welt." (S. 8o)

Vokale sind, mit Hilfe des Konsonantengerüstes, die Klangträger der menschlichen Stimme. Ihre heilende Kraft ist seit Jahrtausenden bekannt. Die Grundlage vokalisierten Ausdrucks und der Stimme überhaupt ist der Atem. Er wird in drei Phasen unterteilt:

1. "Die Einatmung ist der Akt des Aufnehmens, der Nahrung, des Füllens und Erfüllens (...) der pas­siv-reaktive und geistig-intuitive Aspekt der At­mung." (HEGI, 85)
2. "Die Ausatmung ist der Akt des Weggebens, des Her­auslassens, des kreativen Produkts, des Leerens und Ausleerens (...) der aktive und materiell pro­duktive Aspekt der Atmung." (HEGI, 85)
3. "Die Atempause ist der Akt des Nichts (...) der Gegenpol zur Aufnahme und Abgabe, zur Bewegung des Zulassens und Loslassens." (HEGI, 85) Sie wird meist völlig unterschätzt oder gar vergessen, ist jedoch so wichtig wie ihre Gegenpole Aufnahme und Abgabe, bedeutet "eine Grenzerfahrung zwischen Le­ben und Tod und steht für sein lassen." (HEGI, 85)

"Atemstörungen sind meistens psychosomatisch mit Be­hinderungen der persönlichen Fähigkeit verknüpft, zu­zulassen, loszulassen und seinzulassen." (HEGI, 86)

In diese Zusammenhänge gehören auch die Begriffe Aura (als räumliche Dimension unseres Atems) und Stimmung (als ungreifbare Realität des Moments und unteilbare Einheit).

Notwendig ist noch, zwischen Klang und Harmonie, Re­sonanz und Konsonanz zu differenzieren: "Die Harmonie der freien Improvisation besteht in Stimmigkeit, Ehrlichkeit, Echtheit und Direktheit, egal ob im Gu­ten oder im Bösen." (HEGI, 82) Disharmonisch klingt z.B. eine Stimme, die geübte Freundlichkeit ausdrückt und Wut meint.

Resonanz heißt wörtlich wiederklingen und bedeutet antworten, gehört werden, verstanden werden. Reso­nanzmangel kann zu sozialer Isolation, innerer Verar­mung und Depression führen. "Die Fähigkeit zur Konso­nanz ist die Fähigkeit im Zusammenspiel (...) in die­selbe Schwingung gehen und sich als Teil eines Ganzen verhalten zu können." (HEGI, 82) Ihr "Verlust fördert (...) den Ehrgeiz und den Zwang, andere zu übertref­fen." (HEGI, 83)

Der Klang ist ein bedeutendes Medium in der Musikthe­rapie. Therapie ist: "Der Prozeß einer heilenden In­tegration, des Zusammenspielens von Stimmung und Ausdruck oder des Auffindens von Kontakt zwischen Gefühl und Handlung (...) . Dieser Prozeß führt oft über das Gegenteil von Harmonie, die Entropie, das Chaos und die Unordnung." (HEGI, 93) Hier sind Klänge wichtig, denn: "Klangerfahrungen sind Gefühlserfah­rungen, und diese erweitern die Toleranz für Anderes und Neues (vgl. FRIEDEMANN 1973)." (HEGI, 94) In der Improvisation lernt die Spielende, "die Eigenartig­keit des eigenen Klangs zu entdecken." (HEGI, 94)

"Die Musiktherapie will jeden Menschen ein Stück mehr seinem eigenen Künstler näherbringen. Künstler ist, wer seine Eigenart in Klang ausdrücken kann. Wer hin­gegen bloß virtuose Rhythmen und Melodien umzusetzen vermag, bleibt ein Techniker." (HEGI, 94)

2.1.3. Die Melodie

Es gibt eine archaische Verbindung zwischen Musik und Sprache, doch ob Melodiezeichen zu Wörtern führten oder Wortbildungen Melodien auslösten ist ungeklärt. In primitiven Sprachkulturen hat die Sprachmelodie eine größere Bedeutung als in sogenannten zivilisier­ten Sprachen, ja, sie wird bei uns teilweise völlig verdrängt; bestes Beispiel sind die Nachrichten in Radio und Fernsehen: dort wird die reine Information "so hoch bewertet, daß dabei die subjektive Betonung verschwindet." (HEGI, 98)

Lebendige Melodie besteht nicht im Auf und Ab einer Tonfolge, sondern entsteht durch "die Betonung, das Hervorheben von wichtigen und das Zurücksetzen von unwichtigen Tönen, das Anheben und Absenken der Stim­me, die Wiederholung oder das Weglassen, die Ent­scheidung für eine Bedeutung, die Emotionalisierung einer betimmten Stelle (...)" (HEGI, 98f)

"Melodie drückt musikalisch eine Meinung aus."(HEGI, 99) "Sie erzählt Haltungen, Traditionen, Weisheiten, sie drückt Phantasie, Vorstellungskraft, Bilder aus, sie vermittelt Überzeugung, Leidenschaft, Glauben, und sie gibt einer Musikkultur Gesicht." (HEGI, 100)

"Ein Elementarteil einer Melodie ist ein Intervall, der Sprung von einem Ton zu einem zweiten." (HEGI, 118) Der Charakter der Intervalle gibt Aufschluß über die Melodie, die auch im Hinblick auf Kontraste wie Verlauf (auf-ab), Dynamik (laut-leise), Ausdehnung (eng-weit) und Tempo (langsam-schnell) als auch Überraschungen wie Wiederholung, Tonraumwechsel, Taktwechsel und Spiegelung untersucht werden kann, die Rückschlüsse auf die Psyche des Improvisierenden zulassen.

"Die Musiktherapie hat im Melodienverständnis die einzigartige Chance, Meinungen, Ansichten, Haltungen usw., die aus der unbewußten oder verschütteten Tiefe der Empfindung kommen und meist indirekt, analog aus­gedrückt werden, zu hören und sie ins reale Bewußt­sein zu übersetzen." (HEGI, 104) Vor allem das Melo­dienspiel vermag in der MI die verschüttete Fähigkeit wieder entdecken zu helfen, der eigenen inneren Musik zuzuhören und "die Ware Musik in den Prozeß Musik zurüchzuverwandeln." (HEGI, 114)

"Eine Melodie (Meinung) haben und sie gleichzeitig sein, in ihr leben und spüren, was die Bewegung und Betonung der Melodie jetzt bedeutet, das ist Be­wußtheit." (HEGI, 114)

2.1.4. Die Dynamik

"Dynamik bezeichnet das Spiel von sich gegenüberste­henden Kräften. Sie ist Bewegung der Kräfte, gegen­einander, ineinander, voneinander weg." (HEGI, 126) Dynamische Kräfte wirken in allen bisher behandelten Hörplätzen musikalischen Geschehens "als Bewegungen der Stärke, der Wirkung, der Dichte, der Spannung, der Energie und der Pause."(HEGI, 126f) Betrachtet werden hier vor allem drei dynamische Faktoren: Tempo, Lautstärke und als deren Gegenpol: die Pause, die nicht bloß ein Zwischenraum von zwei Ereignissen ist, sondern selbst ein Ereignis. Pausen sind für die Musik ebenso wichtig wie die Musik selbst.

Tempo und Lautstärke können in ein Quadrantenschema eingetragen werden und Tendenzen der Willensäußerung zeigen. Denn: "Dynamik ist die Kraft des Wunsches oder der Wille zur Bewegung und Verwandlung." (HEGI, 129) Die Dynamik von 'laut, aber langsam' deutet auf eine gewisse Schwerfälligkeit hin bzw. drückt düstere Spannung, Widerstand, Macht, Vollendung oder Potenz aus. 'Laut und schnell' weist auf Beweglichkeit, Un­geduld, Druck, Dominanz, Kraft, Angriff als auch Steigerung, Dichte, Intensität, Ende und Höhepunkt hin. 'Schnell, aber leise' verrät Aufmerksamkeit, Präsenz, Aufregung, gespannte Erwartung, Gewandheit, aber auch Mißtrauen, Gewappnet-Sein, ängstliches Agieren, zurückgehaltene Aggression, Unruhe, An­spruch, Anfänge. 'Langsam und leise' belegt Zurück­haltung, Vorsicht, Hemmung, Trauer, Sensibilität, aber auch Ruhe, Versenkung, Endlosigkeit, Raum, Zärtlichkeit.

Dynamik ist wie der Klang ein situationsabhängiger Prozeß. Sie belebt und färbt den Ausdruck der Musik. "und sie eröffnet fast grenzenlose Veränderungs- und Erweiterungsmöglichkeiten von bestehenden Mustern." (HEGI, 130f)

2.1.5. Die Form

Die Form ist das Äußere, der Rahmen, das Gefäß. Sie ist vielgestaltig und wandelbar: "Es gibt feste und bewegliche, aufgelöste und verhärtete, entstehende und zerfallende, aufgebrochene und geschlossene, in­nere und äußere Eigenschaften einer Form." (HEGI, 134) Auch die Formlosigkeit ist eine Form und so hat jede Freiheit eine Form, allerdings eine wandelbare, so auch die freie Improvisation, wo die Form selbst ein Bestandteil dessen ist, mit was gespielt wird.

Ein Patient ist in Formen gefangen, in verhärteten Formen seiner unerfüllten Bedürfnisse, der dann vom kranken zum heilbaren Patienten wird, wenn er bereit ist, diese Formen aufzugeben und den Inhalt, wie er jetzt ist, anzusehen. "Ein gelingender Therapieprozeß verwandelt Kranke zu Patienten und diese zu schöpfe­rischen Menschen." (HEGI, 137)

Nach SCHÖNBERG und KANDINSKY wäre ein ständiger Wech­sel zwischen Spontaneität und Form nötig, um einen lebendigen Prozeß in Gang zu halten. Oder anders for­muliert: "Eine fixierte Form stirbt ab, weil sie ihre Wandelbarkeit ausschließt und eine zwanghaft freie Improvisation erstickt in ihrer eigenen Widersprüch­lichkeit." (HEGI, 138)

Fast kriminell ist der Anspruch an die Musik, fehler­los sein zu müssen, wodurch Menschen das Spielen verleidet, eine lebenswichtige Ausdrucksmöglichkeit geraubt und sie so zum Konsumenten verurteilt sind. Denn: "Das Entdecken, das Fehlermachen und das Lernen gehören zusammen, sie gehen ineinander über. (...)Es gibt in der Improvisation keine falsche Bewegung, es gibt sinnvolle und sinnlose, effektvolle und kräf­teraubende, gewollte und ungewollte Bewegungen. Aber auch sinnlose, kräfteraubende und ungewollte Bewe­gungen geben Hinweise oder sind Auslöser für neue Ideen, sind Anfangspunkte lebendiger Improvisation." (HEGI, 139) Die aus Angst erfolgte Abblockung einer Bewegung führt zur Unbeweglichkeit. Schöne oder in­teressante Formen können zur Gewohnheit werden, die als gute Gewohnheiten das Leben erleichtern, als schlechte - sprich Sucht - zerstören können.

Im Rahmen dieses Kapiteln ist es auch notwendig, auf die Formen des methodischen Handwerks einzugehen. Zentrales Wahrnehmungsorgan für Musik ist das Ohr (darüber mehr in Kapitel 2.2.), das über zwei Wahr­nehmungsarten oder Aufnahmeformen verfügt. Zum einen kann es ganz im akustischen Geschehen drin sein, zum anderen kann es entweder voraushören, d.h. mit der Einatmung (Inspiration) nach innen hören, auf innere Stimmen und Melodien, oder es kann nachhören, was HEGI als die nachvollziehende, integrierende Form des Hörens bezeichnet, die durch die Fähigkeit gelingt, nach außen zu hören, auf die Umgebung, die äußere Natur. Letzteres ist notwendig in gruppendynamischen Prozessen, das Nach-innen-hören bei Solos, Dialogen oder Erzählungen.

Von Methode oder Wirkung her gesehen, unterscheiden wir so drei Kategorien von Improvisationsformen:

1. Die Beziehungs-Improvisation, die alle Spielformen umfaßt, deren Leitfaden oder Ablaufmuster die Be­ziehung der Spieler untereinander betrifft.
2. Die themenzentrierte Improvisation, die Themen aus dem Umfeld oder Innenleben der Spieler vertieft.
3. Die übungszentrierte Improvisation, die die Musik selbst thematisiert und in der "die spielende Per­son die Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung zu­gunsten eines Musikerlebnisses aufgeben kann." (HEGI, 144)

Improvisation bewegt sich immer im Spannungsfeld Ord­nung-Chaos, wobei das Chaos erfinderisch und risi­kobereit macht, während die Ordnung die nötige Sicherheit vermittelt, Zufälle und Einfälle überhaupt zuzulassen. "Die derbe Schönheit des Chaos, die vermittelnde Provokation der Ordnung und die antrei­bende Selbstverständlichkeit des Zufalls sind drei gleichwertige Form-Muster der Improvisation, die Eckpfeiler eines Freiraumes, in dem Formen wandelbar bleiben." (HEGI, 144)

Lebensformen beeinflussen als Verarbeitungs- und Bestätigungsversuch die jeweiligen Improvisations­stile, so daß Improvisation nicht nur Ausdruck inne­rer Verhältnisse einer spielenden Person ist, sondern auch ihrer politisch-gesellschaftlichen Lebensbe­dingungen. Vergangene Erfahrungsmuster werden ausge­drückt im Augenblick und: "Die Improvisation ist durch ihre Symbolgestalt der Wirklichkeit so etwas wie ein Treibhaus der Phantasie. Wer improvisiert, spielt sich nicht nur von der tätigen Phantasie frei, sondern setzt auch neue in Gang. Diese prägt, mehr als wir uns bewußt sind, die zukünftigen Gefühle, Ge­danken und Handlungen." (HEGI, 147)

2.2. Musikimprovisation und auditive Wahrnehmung

Musik und Sprache sind - physikalisch gesehen - Schwingungen bzw. Schallwellen. Besäße der Mensch nicht die Fähigkeit sie wahrzunehmen, gäbe es in sei­ner Kultur keine Musik. Ihre Existenz und Erzeugung ist untrennbar verbunden mit der Fähigkeit des Hö­rens. Joachim Ernst BEHRENDT trifft in seinem akusti­schen Werk 'Vom Hören der Welt' folgende Feststel­lungen über das menschliche Ohr:

- In ihm befindet sich zusätzlich zur Wahrnehmungs­fähigkeit der Gleichgewichtssinn
- Die Bandbreite des Hörbereichs ist zehnmal größer als die des menschlichen Auges, zudem mißt das Ohr genauer, denn
- Die Meßfähigkeit, die Mathematik liegt in ihm ver­borgen
- Die dichteste und höchste Konzentration von Nerven­endungen im menschlichen Körper befindet sich in der Cochlea des Innenohres
- Lauscht man der menschlichen Sprache nach, findet man die große Bedeutung des Hörens
- Das Ohr ist beim menschlichen Embryo das erste Sin­nesorgan, das fertig ausgebildet ist und zu arbei­ten beginnt, und der letzte Sinn, der 'aufhört', wenn ein Mensch stirbt
- Es läßt sich nicht - wie zum Beispiel das Auge - einfach verschließen

Dennoch ist das Auge der Sinn, mit dem der moderne Mensch 70-80% seiner Informationsaufnahme vornimmt, wobei ich klarstellen muß: Ich plädiere in dieser Ar­beit niemals für eine Dominanz der Ohren, sondern für ein Gleichgewicht der Wahrnehmung. Denn dies ist heutzutage nicht mehr gegeben, das Ohr ist zum bloßen Diener des Auges geworden.

Sprachlich läßt sich die auditive Wahrnehmung auf zwei Begriffe aufteilen: das Hören, als passiver Akt, sowie das Horchen, als aktive Form. Gerade beim westlichen Menschen wird das Ohr fast nur noch für ersteres gebraucht und ist, stärker noch als die an­deren Sinne, der Umweltverschmutzung ausgesetzt - in Form von Lärm oder Dauerberieselung durch 'Musik', die nicht der Seele von MusikerInnen entspringt, son­dern unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten konzipiert und eingesetzt wird.

Wie schwierig ist es in all dem, wieder seinen eige­nen Klang zu vernehmen oder den des Lebens? Der Mensch muß dazu wieder die Bedeutung der Musik und seines Hörsinnes erkennen, indem er seine Ohren aktiv zu gebrauchen lernt. Dadurch daß man selbst Musik macht, beginnt man verstärkt sich selbst zuzuhören und - durch improvisierte Musik - sich selbst wahrzu­nehmen und zu entdecken. Deshalb auch die Wichtigkeit des Recordings: Beim Abhören einer Improvisation hört man genauer nach, man horcht.

Durch Improvisation mit einer Gruppe von Menschen kann man lernen, auch andere verstärkt wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, was unabdingbar ist für Kommunika­tion. Wenn man alleine improvisiert, kommuniziert man mit sich selbst, in der Gruppenimprovisation findet Kommunikation untereinander statt. Diplom-Psachologe Klaus Sommer vom Tomatis-Institut Heidelberg sagte bei einem Vortag an der FH Frankfurt am 19.01.94: "Leben bedeutet Kommunikation", was mich zu dem Ge­danken führt: Wer mit anderen improvisiert, steigert die Kommunikation oder läßt sie überhaupt erst stattfinden, beginnt also in solchen Augenblicken intensiver zu leben.

[...]

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Musikalische Gruppenimprovisation in der Sozialpädagogik. Wesen, Wirkung und Möglichkeiten
Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main
Note
2
Autor
Jahr
1993
Seiten
70
Katalognummer
V212920
ISBN (eBook)
9783656409892
ISBN (Buch)
9783656411741
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Musik, Improvisation, Musikimprovisation
Arbeit zitieren
Frank Doerr (Autor:in), 1993, Musikalische Gruppenimprovisation in der Sozialpädagogik. Wesen, Wirkung und Möglichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212920

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