Leseprobe
Inhalt:
1.Hinführung
2. Begrifflichkeit selbstverletzenden Verhaltens
3. Formen selbstverletzenden Verhaltens
4. Funktionen selbstverletzenden Verhaltens
5. Ursachen selbstverletzenden Verhaltens
6. Fazit
Literatur
1. Hinführung:
Im Jahr 2002 verletzten sich etwa 200000 Menschen in Deutschland mittels brennender Zigaretten, Messern, Rasierklingen oder Glasscherben selbst, fügten sich mit anderen Gegenständen oder nur mit Hilfe ihres eigenen Körpers selbst Wunden zu. Selbstverletzendes Verhalten ist in den letzten Jahren vor allem bei Mädchen und jungen Frauen im Alter von 16-30 Jahren immer mehr zum Thema geworden. Daher sind pädagogische Fachkräfte in allen Bereichen mit diesem Thema konfrontiert . Nicht nur in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sondern auch in Schulen, Heimen oder pädagogischen Beratungsstellen befinden sich Betreuer, Lehrer und pädagogisches Fachpersonal mit jungen Erwachsenen, die selbstverletzendes Verhalten aufweisen, in Kontakt [1]. Selbstverletzung ist nicht gezielt suizidales Handeln, kann jedoch indirekt den Tod nach sich ziehen, da die verletzenden Handlungen oft unkontrolliert oder unwissend bezüglich der daraus folgenden Gefahr ausgeführt werden. Zudem können suizidale Impulse ohne generelle Tötungsabsicht zum Tode führen. Auch besteht ein Infektions- und Ansteckungsrisiko , da im Affekt zu unsterilen Verletzungsmaterialien gegriffen wird und/ oder offene Wunden nicht ausreichend versorgt werden [2]. Selbstverletzendes Verhalten besitzt viele Erscheinungsformen und tritt innerhalb vieler verschiedener psychischer Störungen und Behinderungen auf. Häufig sind die Erscheinungsformen erschreckend und setzen HelferInnen vor eine schwierige Aufgabe. Die Klassifikation des Störungsbildes ist jedoch aufgrund der Komplexität des Handlungsfeldes nicht immer eindeutig und auch über den Ursachenkomplex sind sich Forscher nicht einig. Ob selbstverletzendes Verhalten als eigenes Störungsbild oder als Stresssymptom zu behandeln ist, ist nicht eindeutig geklärt [3].
2. Begrifflichkeit selbstverletzenden Verhaltens:
Selbstverletzendes Verhalten kann in direkter oder indirekter Form vorliegen. Indirekte Formen sind etwa die Verweigerung von Nahrung und Wasser oder wichtigen Medikamenten, chronischer Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch oder auch ungesunde Ernährung, riskantes Verhalten beim Sport oder ungeschützter Sexualverkehr. Hierbei sind die Grenzen zur Pathologie jedoch fließend.
Im folgenden Text werde ich mich auf die direkten Formen der Selbstverletzung beziehen. Selbstverletzung muss zudem nicht zwangsläufig Ausdruck einer psychischen Störung sein, sondern kann auch gesellschaftlich akzeptiert oder, je nach Kultur, auch verpflichtend sein. In fast allen menschlichen Kulturen finden sich Rituale der Selbstverletzung, die Traditionen oder Überzeugungen einer Gemeinschaft widerspiegeln sollen. Bereiche der ritualisierten Selbstverletzung sind neben dem Körperschmuck auch Gesundheit und Heilung, Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Übergangsrituale der Adoleszenz sowie religiöse Riten. Zum Körperschmuck zählen Tätowierungen, Narben und Piercings. Auch das Anlegen von schweren Messingringen um die Hälse thailändischer Frauen oder das Einbinden der Füße, wie es in China üblich war, sind körperliche Veränderungen, die eine erhöhte Ästhetik zum Ziel haben. Auch Zahnspangen oder plastisch-chirurgische Korrekturen werden zu dieser Kategorie gezählt. In manchen Regionen sind Narben oder Tätowierungen jedoch nicht nur Körperschmuck, sondern symbolisieren auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und stellen ein wichtiges Merkmal der sozialen Identität dar. Auch Subgruppen können auf diese Weise ihre Verbundenheit offenbaren, indem sie etwa spezifische Tätowierungen tragen. In manchen Gegenden ist es zudem üblich, Jugendliche Übergangsritualen der Adoleszenz auszusetzen.
Auf diese Weise werden sie in die Erwachsenenwelt aufgenommen, erwerben neue soziale Rollen und einen neuen Status und zeigen zugleich, dass sie die Regeln der Gesellschaft akzeptieren. Solche Übergangsrituale sind etwa das Ausschlagen von Zähnen. Religiöse Rituale und spirituelle Handlungen sind etwa das Auspeitschen oder Geißeln des eigenen Körpers, wie es in manchen Kulturen üblich ist. Da solche Handlungen jedoch in ihrer Ausführung kontrolliert, sozial akzeptiert und in einen kulturellen Kontext eingebettet sind, werden sie nach Levenkorn (1998) [4] nicht als selbstverletzendes Verhalten im engeren Sinne angesehen. Die Terminologie selbstverletzenden Verhaltens ist im Wesentlichen uneindeutig, da das Störungsbild oft lediglich als Symptom mehrerer Syndrome genannt und verstanden wird. Eine griffige Definition findet sich nach Petermann/ Winkel: „Selbstverletzendes Verhalten ist gleichbedeutend mit einer funktionell motivierten Verletzung oder Beschädigung des eigenen Körpers, die in direkter und offener Form geschieht, sozial nicht akzeptiert ist und nicht mit suizidalen Absichten einhergeht.“ (Petermann/ Winkel. Selbstverletzendes Verhalten. S. 23)
3. Formen selbstverletzenden Verhaltens:
Die Erscheinungsformen selbstverletzenden Verhaltens sind vielfältig und können sich über den ganzen Körper erstrecken. Als Instrumente der Selbstverletzung können fast alle Gegenstände genutzt werden, ob körpereigen, wie Nägel und Zähne, oder körperuneigen. Die Verletzungen werden zumeist der Haut an den Gliedmaßen zugefügt.
Die Art und Weise der Verletzungen erstreckt sich hierbei über Beißen, Kratzen, Nadelstiche bis hin zu Verbrennungen und Verbrühungen. Oft ist der Anblick des Blutes entscheidend, sodass die Verletzungen zugefügt werden, bis Blut austritt. Eine mögliche Begründung hierfür wäre die Wirksamkeit der eigenen Handlung, die auf diese Weise sichtbar wird. Nach einer Studie (Briere & Gil, 1998) [5] ist das Schneiden der Haut die häufigste Form der Selbstverletzung, aber auch das Beißen auf die Innenseiten des Mundes und Sich-Kratzen sind beliebte Formen der Verletzung. Die Verletzung der Geschlechtsorgane tritt allgemein sehr selten auf. Während der Selbstverletzung wird von den Betroffenen meist kein Schmerzempfinden registriert, was mit der Freisetzung körpereigener Endorphine erklärt werden kann, die der Körper bei übermäßigem Stress produziert. Das Schmerzempfinden kehrt zurück, wenn die Wirkung der Endorphine nachgelassen hat. Das kann von einigen Minuten bis hin zu mehreren Tagen dauern. Eine weitere Erklärung ist, dass die körperlichen Schmerzen durch einen dissoziierten Zustand des Betroffenen während der Selbstverletzung überdeckt werden. Manche Patienten erleben den Schmerz jedoch durchaus als real, präferieren ihn jedoch dem seelischen Schmerz gegenüber, der hierdurch nicht mehr vordergründig wahrgenommen wird. Die meisten Betroffenen sind weiblich und haben eine oder mehrere verschiedene Methoden der Selbstverletzung, die sie wiederholt anwenden. Die Patienten verhalten sich im Erwachsenen- sowie im Jugendalter ähnlich und verletzen mit ähnlicher Vorliebe die gleichen Körperareale. Unterscheiden lassen sich neben dem Verletzungsort auch der Schweregrad und die Regelmäßigkeit der Verletzung. Die Formen reichen von leichter Selbstverletzung, die sich mit dem Ausreißen von Haaren, dem Schlagen mit der Hand an den Kopf, dem Sich-Beißen oder Kneifen beschreiben lässt, bis hin zu schweren Formen, bei denen die Betroffenen ihren Kopf gegen die Wand schlagen oder versuchen, sich selbst Knochen zu brechen.
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[1] vgl.: Schneider. „…damit ich mich spüre…“, S. 9
[2] vgl.: Schneider. „…damit ich mich spüre…“, S. 11
[3] vgl.:Petermann/ Winkel. Selbstverletzendes Verhalten. S. 52. Begrifflichkeit selbstverletzenden Verhaltens:
[4] vgl.: Levenkron, S. Cutting, Understanding and overcoming self-mutilation in Petermann/ Winkel. Selbstverletzendes Verhalten. S. 23
[5] vgl.: Briere & Gil. Self mutilation…, S. 614