Die Daily Telegraph-Affäre (1908) - Untersuchung eines Medienskandals


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

21 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Zur Funktion und den Folgen von Skandalen

3. Darstellung des Falls
3.1. Entstehungsgeschichte des Interviews
3.2. Inhalt des Interviews

4. Analyse des Falls
4.1. Reaktionen auf das Interview
4.2. Vorgeschichte und politischer Hintergrund
4.2.1. Die Situation in Deutschland unter Wilhelm II
4.2.2. Das Verhältnis zwischen Kaiser und Reichskanzler
4.3. Verlaufstrukturen des Skandals
4.3.1. Verhalten des Kaisers
4.3.2. Verhalten Bülows
4.4. Wer war verantwortlich?
4.5. Steigerung und schnelles Ende

5. Erklärungssätze

6. Fazit

7. Quellen und Literaturliste

1. Einleitung

Am 28. Oktober 1908 veröffentlichte das Londoner Massenblatt „Daily Telegraph“ ein Interview mit dem deutschen Kaiser, Wilhelm II., welches auf einer Indiskretion des pensionierten englischen Diplomaten Edward Stuart Wortley beruhte. Es entstand auf der Grundlage mehrerer gemeinsamer Gespräche, die im Nachhinein zu einem Artikel zusammengefasst worden sind, und in denen der Kaiser seine Bemühungen um ein gutes deutsch-britisches Verhältnis, Frieden und Freundschaft beteuerte, um die schlechten Beziehungen zu England zu verbessern. Durch den sprachlichen Stil, sowie Kritik, Empörung und Amüsement im Ausland, und mündete für Deutschland in einer schweren innenpolitischen Verfassungskrise und Bedrohung für die Monarchie.

Ziel dieser Hausarbeit ist es, das Fallbeispiel „Daily-Telegraph-Affäre“, auf skandaltheoretische Gesichtspunkte hin zu untersuchen. Hierbei werden die politischen, sowie gesellschaftlichen Hintergründe und Handlungsebenen auf denen sich die Krise abspielte berücksichtigt, sowie die Folgen vor der Frage nach der Funktionalität von Skandalen, als politisches Steuerungselement untersucht.

Nach theoretischer Einführung in die Skandaltheorie, die die Grundlage der Untersuchung darstellen wird, wird zunächst ein Überblick über den Gegenstand des Skandals - das Interview im Daily-Telegraph - geschaffen, sowie dessen Entstehung dargestellt, um anhand der politischen und gesellschaftlichen Vorgeschichte und konstitutionellen Struktur der Zeit, die Reaktionen der Öffentlichkeit und Politik auf das Interview, sowie die weiteren Verlaufstrukturen des Falls zu untersuchen. Im Abschluss-Kapitel wird die Funktionalität des Skandals, unter Berücksichtigung der vorigen Untersuchungen, analysiert und ausgewertet.

2. Zur Funktion und den Folgen von Skandalen

Die wenigsten Skandale enden in einer Revolution, wie in einem Artikel von Sighard Neckel in der Wochenzeitung „Das Parlament“1 beschrieben wird. Somit sind sie nur selten der Auslöser einer gänzlichen Neuordnung. Dennoch haben Skandale eine wichtige politische Funktion, die oft zu Veränderungen und Anpassung an zeitgemäße Strukturen führt, und die den schwerfälligen Wahlen überlegen ist. Sie gehören somit zu einer gesunden politischen Situation dazu, und fungieren in demokratischen

Gesellschaften als regelmäßiges Kontrollorgan der Macht. Sie dienen als Katalysatoren um aufgestauten Frust abzulassen und politische „Verträge“ neu auszuhandeln.

Von Klaus Laermann wird, in seinem Artikel „Die grässliche Bescherung“, eine Analogie in der Funktion des Skandals, zu der des Witzes gezogen. Wobei sich beim Skandal zwar keine Freude und Überraschung in positiver Form entlädt, jedoch eine „oft nicht minder befreiende Entrüstung“ über die Zustände der Herrschersituation.2 Der Skandal durchquert die vorgegebenen Normen und Erwartungshaltungen und trifft damit den allgemeinen empfindlichen „Nerv der Zeit“ kollektiver Gefühle,3 wodurch sich Empörung bei einem großen Publikum - der Öffentlichkeit - erzeugt.

Hierbei kommt der Entwicklung moderner Massenmedien, eine wachsende Bedeutung zu, da sie verstärkte Ausdrucksmöglichkeit für die Demonstration des öffentlichen Protestes bieten.4 Denn ohne Publikum kann sich kein Vorfall, so empörend er auch sein mag, zum Skandal auswachsen. Ebenso wie in Witzen, müssen mindestens drei Parteien beteiligt sein. Im Falle des Skandals sind dies Skandalierer, Skandalierter und das empörte Publikum.

Je mehr Menschen Empörung zeigen, umso stärker ist der Skandal als Druckmittel für eine Veränderung der Gegebenheiten, und Neuaushandlung politischer Situationen oder bestehender Organisationen einsetzbar, um die „Mächtigen“ unter Zugzwang zu setzen. Somit fungieren Skandale auch als Korrektiv der Macht.5 Es werden nicht mehr haltbare Defizite und Handlungen aufgedeckt und mit Erschrecken registriert.6 Die Wahrheit kommt ans Licht und kann nicht mehr verschwiegen werden. Oft geschieht dies in einer schrittweisen Anstauung von Unzufriedenheit und Frust, durch Häufung skandalöser Vorfälle.

Der Skandalierte wird entblößt, vor den Augen der Öffentlichkeit, und somit die Legitimation seiner Macht in Frage gestellt. Wie Laermann anmerkt, ist der Skandal damit auch ein Revolutionsersatz, und ein Ventil eines sozialen Überdrucks, der weniger die Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse zur Folge hat, jedoch eine Auswechslung der Führungskräfte bewirken kann.7

Wie sich diese Theorie auf den Fall der Daily-Telegraph-Affäre übertragen lässt, wird in den nächsten Kapiteln ausführlicher untersucht.

3. Darstellung des Falls

3.1. Entstehungsgeschichte des Interviews

Im Anschluss an einen einwöchigen Staatsbesuch, im November 1907 auf Schloss Windsor, in London, verbrachte Kaiser Wilhelm II. drei Wochen auf Highcliffe Castle, an der Südküste Englands, als Gast des in Ruhestand lebenden Obersten und Brigade-Kommandeurs Edward Stuart Wortley. Wie der Historiker Volker Ullrich in seiner Ausführung über die Daily-Telegraph-Affäre8 berichtet, wurden in dieser Zeit ausführliche politische Kamingespräche geführt. Während des Kaisermanövers im Elsass, im August 1908, als diesmal Wortley zu Gast war, wurden die Gespräche fortgesetzt. Hier soll auch die Idee für die Veröffentlichung der Gesprächsinhalte entstanden sein, wobei nicht geklärt ist, von wem der beiden diese Idee angeregt wurde.9

In den folgenden Monaten werden die Gespräche von Wortley, der sich als selbsternannten Förderer deutsch-englischer Beziehungen darstellt, zu einem Interviewartikel verarbeitet. Vor Veröffentlichung wird der Text Wilhelm II. jedoch zur Prüfung und Bitte um Erlassen der Imprimatur, zugeschickt. Dieser liest ihn, und segnet ihn ab, versehen mit dem Kommentar, der Artikel sei gut geschrieben und seine Worte wahrheitsgemäß wiedergegeben.10

Auf Anraten seiner Umgebung und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, ohne Rücksprache mit seinem Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow eigene Entscheidungen zu fällen, verhält sich der Kaiser diesmal verfassungsmäßig korrekt und leitet den Text, vor Veröffentlichung, an seinen Reichskanzler weiter, mit der Anweisung zur vertraulichen Prüfung des Inhalts und Freigabe zum Druck.11 Bülow gibt später an, den Text nie gelesen zu haben: Aufgrund seines Kuraufenthalts in Norderney und der Bosnienkrise, die ihn beansprucht, sendet er den Artikel ungelesen einem Referenten im Auswärtigen Amt zu, damit er dort vom zuständigen Staatssekretär von Schoen, geprüft würde. Da sich dieser ebenfalls im Urlaub befindet, landet der Text beim stellvertretenden Staatssekretär, Wilhelm Stemrich, der ihn jedoch wiederum weiterleitet an den Vortragenden Rat in der Politischen Abteilung, Geheimrat Reinhold Klehmet. Hier wird der Text zwar formell, aber nicht auf seinen Inhalt und die politische Opportunität hin geprüft, da man sich hierfür nicht zuständig fühlte, und mit nur kleineren formalen Korrekturen an Bülow zurückgesendet. Ohne den Text, nach eigenen Angaben, nochmals geprüft zu haben, gibt dieser die Änderungen für seine eigenen aus, und den Artikel zur Veröffentlichung frei.12

3.2. Inhalt des Interviews

Das Interview erscheint am 28. Oktober 1908, im Boulevard-Blatt „Daily Telegraph“ und löst eine Welle der Empörung, Bestürzung und Scham aus:

„Ihr Engländer seid verrückt, verrückt, verrückt wie die Märzhasen“, klagt Wilhelm II., denn anstatt zu begreifen, dass er ihnen nur ein Freund sein möchte, werden seine stetigen Bemühungen um Frieden und ein gutes Verhältnis, sowie seine englandfreundlichen Handlungen missverstanden, fehlinterpretiert und nur mit Argwohn und Misstrauen belohnt. Nach einer Reihe von Friedens- und Freundschaftsbeteuerungen erklärt er, dass er mit seiner Einstellung zu England, selbst im eigenen Land in der Minderheit sei.13 Es folgen Aufzählungen einer Reihe von Handlungen, die seine Englandfreundlichkeit beweisen sollen. Hier erklärt er zunächst, dass während des Südafrikanischen Krieges, zwar die Berichterstattung und öffentliche Meinung Deutschlands England feindlich gesinnt war, nicht jedoch er selbst, dass er sich also in einer Minderheit von Freunden Englands, in seinem eigenen Volk zähle. Zu sehen sei dies, da er während des Burenkrieges, entgegen den Wünschen der Öffentlichkeit, die Europakommission der Buren scheitern ließ und die Bildung eines anti-britischen Kontinentalbundes zwischen Russland, Frankreich und Deutschland verhindert, und England somit gegen Verlust und Demütigung verteidigt habe. Diese Bemerkung musste das deutsche Publikum verwundern und empören, da doch er selbst es war, der die englandfeindliche Stimmung anheizte, z.B. durch ein Glückwunschtelegramm (3. Januar 1896) an den Präsidenten der Burenrepublik Paulus Krüger (1825-1904), indem er ihm zum erfolgreichen Widerstand gegen englische Angriffe gratulierte, und welches in England zu breiter öffentlicher Kritik führte. Diese Tatsache lässt er hier jedoch völlig unbeachtet. Als weiteren „Beweis“ seiner Freundschaft erklärt er, aufgrund eines an ihn gerichteten Hilfegesuchs seiner Großmutter, der englischen Königin Viktoria, habe er in Zusammenarbeit mit dem deutschen Generalstab, einen Feldzugsplan zur Bekämpfung der Buren ausgearbeitet und England zugeschickt. Dieser habe dann auch dem tatsächlichen Vorgehen gegen die Buren entsprochen und zum Erfolg geführt - womit er andeutet, dass der Sieg eigentlich ihm zu verdanken sei.14 Wie in einer späteren Reichstagsdebatte, am 10. November 1908, beklagt wurde, hatte er damit den Stolz der Engländer verletzt,15 jedoch auch das deutsche Militär schockiert, da ein derartiger Plan nicht bekannt war.

Die deutsche Flotten- und Kolonialpolitik, Wilhelms Steckenpferd, und die seit ihrem Baubeginn 1898 das Verhältnis zu Großbritannien schwer belastete, sei nach Angaben des Kaisers, nicht als Bedrohung gegen England gerichtet, sondern vielmehr als Vorsichtsmassnahme für Entwicklungen im Pazifik und Fernen Osten gedacht - für ein gemeinsames Vorgehen mit England, in Übersee.16 Mit dieser Darstellung beleidigte er nicht nur den gesunden Menschenverstand der Briten, sondern brachte auch die Weltmacht Japan gegen sich auf, und verletzte die jahrelangen Bemühungen um Frieden.17

4. Analyse des Falls

4.1. Reaktionen auf das Interview

Das Interview wurde zunächst mit Ungläubigkeit aufgenommen, und man hielt es für einen schlechten Scherz. Doch der Kaiser hatte ein gutes Gewissen, da er streng verfassungsmäßig gehandelt hatte.18

Der Historiker Erich Eyck merkte hierzu an: „Wenn ein Preis für den ausgesetzt gewesen wäre, der es fertig gebrachte, in einem Atem möglichst viele Menschen und Völker gleichzeitig vor den Kopf zu stoßen, der Verfasser dieses Interviews hätte ihn sich verdient.“19

[...]


1 Vgl. Neckel, S. 3

2 Vgl. Laermann, S. 159

3 Vgl. hierzu auch Beule/Hondrich, S. 145

4 Ebd.

5 Vgl. Laermann, S. 166

6 Vgl. Beule/Hondrich, S. 144

7 Laermann, S. 169

8 Ullrich, S. 42

9 ebd.

10 Ebd. Und andere müssen rein

11 Vgl. Ullrich, S. 41ff. sowie Schüssler, S. 78f.

12 Ullrich, S. 42f.

13 Wie Baronin von Spitzemberg, eine kluge Beobachterin des politischen Lebens in Berlin, es in ihrem Tagebuch formulierte, fand dies grosse Bestürzung, denn es waren die Herren von der Wilhelmstrasse selbst, vor allem Bülow, der in „unverantwortlicher Torheit oder Gewissenlosigkeit (…) politische Ohnmacht und Isolierung verbrochen hat.“ Die Freundschaftsangebote Englands wiederholt ablehnte, „(…) während das deutsche Volk instinktmäßig die Freundschaft mit England sucht, mit dem vereint wir Herren der Welt wären.“ (Vierhaus, S. 32)

14 Vgl. Ullrich, S. 40

15 Reichstagsdebatte 158, S. 5374 C)

16 Die deutsche Übersetzung des Interviews wurde der Internetseite: http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/innenpolitik/telegraph/index.html entnommen.

17 Vgl. Ullrich, S. 40

18 Vgl. Schüssler, S. 78

19 Vgl. Eyck, S. 493

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Daily Telegraph-Affäre (1908) - Untersuchung eines Medienskandals
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Neure Geschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar: Arena der Enthüllungen. Politische Skandale im Medienzeitalter, 1870-2001
Note
gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
21
Katalognummer
V21331
ISBN (eBook)
9783638249751
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Daily, Telegraph-Affäre, Untersuchung, Medienskandals, Hauptseminar, Arena, Enthüllungen, Politische, Skandale, Medienzeitalter
Arbeit zitieren
Tanja Zwillsperger (Autor:in), 2002, Die Daily Telegraph-Affäre (1908) - Untersuchung eines Medienskandals, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21331

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