Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Theoretische Einordnung
1.1 Fragile Staatlichkeit vor dem Hintergrund des historisch-konkreten Staatsbegriffs
1.2 Kernfunktionen eines souveränen leistungsfähigen Staates
1.2.1 Das legitime Gewaltmonopol
1.2.2 Die Herrschaft des Rechts – Rule of Law
1.2.3 Die Bereitstellung existentieller und sozialer Infrastruktur
1.3 Konzeptionalisierung
2. Somalias Geschichte und der Weg vom zerfallenden zum gescheiteten Staat
2.1 Fragile Staatlichkeit und das gestörte Gewaltmonopol
2.2 Die fehlende Rechtsstaatlichkeit in gescheiterten Staaten
2.3 Clanstrukturen als Institutionenersatz?
3. Politische und sozioökonomische Auswirkungen von Staatszerfall
3.1 Geographische Zersplitterung des Staatsgebiets: Somaliland, Puntland und Rumpf-Somalia
3.2 Der Verlust der staatlichen Fähigkeit zur Ressourcenakquirierung und Allokation
3.3 Milizen, Warlords, Schattenökonomie: Piraterie als lukrative Einnahmequelle
3.4 Anarchie und das Recht des Stärkeren als ein Ergebnis fehlender Institutionen und Rechtsstaatlichkeit
Fazit
Abkürzungs- und Abbbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Das Phänomen der Piraterie ist im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wieder verstärkt in den Fokus der internationalen Politik gerückt. Noch zur letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts konnte die Staatengemeinschaft und die Anrainerstaaten des asiatisch-pazifischen Raumes die Piraterie – besonders in der Straße von Malakka - Erfolge beim Zurückdrängen der Piraterie vorweisen. Die größten Gefahren gehen heute hauptsächlich von der Piraterie am Horn von Afrika aus, da sie die internationale Seeschiffahrt und die Warenströme zwischen den ökonomisch immer enger vernetzten Zentren der Weltwirtschaft in Asien, Amerika und Europa einschränkt und die Reedereien zu Umwegen über das Kap der Guten Hoffnung zwingen. Somalias strategisch exponierte Lage am Horn von Afrika ist damit zu erklären, daß Schiffe auf ihrem Weg beispielsweise nach Europa, erst einmal den Golf von Aden und die Meerenge Bab al Mandab passieren müssen, um den Suezkanal und schließlich das Mittelmeer zu erreichen. Ferner sind die wichtigen maritimen Transportsrouten der erdölexportierenden Länder der arabischen Halbinsel durch die Angriffe der somalischen Piraten im Golf von Aden und im Indischen Ozean bedroht. Aus diesem Grund war die internationale Gemeinschaft 2008 gezwungen eine multinationale Flottille zur militärischen Absicherung der Seeschiffahrt abzustellen, um der zunehmenden Zahl von Entführungen und damit verbundenen Lösegeldzahlungen für Ladung und Besatzung Herr zu werden.
Somalia als „Musterbeispiel“ gescheiterter Staatlichkeit (Failed State) erscheint im Failed-States-Index, der unabhängigen US-amerikanischen The-found-for-Peace-Organisation (FFP), seit Jahren an erster Stelle. In der folgenden Arbeit soll u. a. das Phänomen des „Failed State“ untersucht werden. Dabei wird im theoretischen Teil der Begriff des Staates definiert und die historische Genese der Staatlichkeit beschrieben, um danach die Kernfunktionen eines leistungsfähigen Staates herauszuarbeiten. Ziel ist es, die Ursachen und die Zerfallsprozesse in einem peripheren Staat des subsaharischen Raumes offenzulegen, um dann im zweiten Schritt empirisch nachzuweisen, inwieweit das ursächliche Fehlen von staatlichen Strukturen die Piraterie am Horn von Afrika begünstigt hat. Dabei werden im zweiten Teil die wichtigen Indikatoren: das gestörte legitime Gewaltmonopol nach innen und außen, fehlende Rechtsstaatlichkeit sowie die Clanstrukturen in segmentären Gesellschaften kritisch betrachtet und analysiert. Im dritten Teil werden die politischen und sozioökonomischen Auswirkungen gescheiterter Staatlichkeit in Somalia dargelegt, um die strukturellen Voraussetzung für die Entstehung der Piraterie am Horn von Afrika offenzulegen. Denn bis dahin war moderne Piraterie dadurch gekennzeichnet, daß bei Überfällen leicht zu kapernde Schiffe mit kleiner Tonnage ins Visier gerieten und ausgeraubt wurden. Hingegen somalische Piraten bis heute Schiffe größerer Tonnage entführen und die Besatzung als Geiseln nehmen, um größere Lösegeldsummen erpressen zu können.
1. Theoretische Einordnung
Aus soziologischer Perspektive definiert Max Weber den S t a a t[1] als einen politischen Verband innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft, „welcher innerhalb eines bestimmten Gebietes [...] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich [...] beansprucht“ (Weber 1997: 272). Dabei ist die Grundlage eines jeden Staates die Macht[2], die sich darin ausdrückt, daß die Möglichkeit besteht „[...] innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen [...]“(Weber 1980: 28).
Damit sind in der Definition die ersten Kernelemente der Staatlichkeit genannt: Territorialität, staatliches Gewaltmonopol und seine Durchsetzung, die auf Macht beruht und diese voraussetzt. Das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten wird unter dem Begriff der «Herrschaft» oder «Autorität» zusammengefaßt. Bei der traditionellen Herrschaft in absolutistischer Zeit beruft sich die königliche Autorität gegenüber seinen Untertanen bei der Herrschaftsausübung auf das Gottgnadentum. Hingegen bei der charismatischen Herrschaft die Machtausübung kraft individueller Ausstrahlung und Überzeugungskraft vollführt wird, dabei kann der charismatische Führer auch ein Verführer und Demagoge sein. Die moderne Form, die demokratische Herrschaft, kann als Legitimationsherrschaft beschrieben werden, die auf Institutionalisierung und kodifizierte Rechtsstaatlichkeit fußt (Weber 1997: 273f). Dazu bedarf es der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Zur Herrschaftsausübung ist eine hierarchisch strukturierte Exekutive in Form einer nachgeordneten Verwaltungsbürokratie mittels Beamtenschaft erforderlich, die politische Entscheidung durchsetzt und für die notwendigen Staatseinnahmen sorgt. Neben dem Herrschaftsbegriff, der die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten beschreibt, ist die Legitimation von essentieller Bedeutung. Abhängig von Art und Weise der Legitimation, bildet dabei das politische System „bestimmte Strukturen und Mechanismen des Zugangs zu und der Sicherung der Macht aus“ (Merkel 2000: 21), die als normative und institutionelle Binnenstruktur des politischen Systems bezeichnet wird. Regierung, Regime[3] und Staat werden unter dem Oberbegriff «politisches System» zusammengefaßt, welches nach innen und außen wirkt. Ein gestörtes oder defizitäres politisches System in Form fragiler, zerfallender oder gescheiterter Staatlichkeit kann zu unerwünschten Auswirkungen auf das Staatensystem führen.
1.1 Fragile Staatlichkeit vor dem Hintergrund des historisch-konkreten Staatsbegriffs
Da der Begriff des Staates allzuoft unpräzise verwendet wird, muß eine eindeutige wissenschaftliche Trennung zwischen dem transhistorisch-universalen und historisch-konkreten Staatsbegriffs vorgenommen werden (vgl. Münkler 2010: 15). Der heutige institutionelle Flächenstaat ist das historische Ergebnis des Staatenbildungsprozesses in Europa zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert und der darauffolgenden europäischen Expansion und Kolonisation der Welt - daher der historisch-konkrete Staatsbegriff. Hingegen der transhistorisch-universale eine staatliche Ordnung umschreibt, die ohne Territorialität und Institutionalisierung auskommt. Dazu zählt der Personenverbandsstaat der Ritterorden, Kaufmannshansen als auch die antike griechische «polis» und römische «res publica». Außerdem werden imperiale Ordnungen und deren Einflußgebiete, die territorial nicht eindeutig einzuordnen sind, hinzugezählt (vgl. Münkler 2000: 15). Im folgenden 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich von Europa aus der Nationalstaat, dessen Grundlage die nationale Identität ist, wogegen der Territorialstaat auch ohne nationale Identität auskommt. Heutzutage ist der Nationalstaat i. d. R. Synonym für Staatlichkeit.
Entscheidend für das Funktionieren moderner Staatlichkeit ist Souveränität, Territorialität und Loyalität. Nationalität ist hingegen keine Voraussetzung für Staatlichkeit, denn sie basiert lediglich auf gesellschaftlicher Identität, nichtsdestotrotz kann nationale Identität staatsstiftend und staatstragend sein (vgl. ebda.: 16). Mit der Konsolidierung des institutionellen Territorialstaates erlangte der Souveränitätsbegriff Bedeutung für die inneren und äußeren Angelegenheiten eines Staates, seitdem wird von innerer und äußerer Souveränität gesprochen. Mitentscheidend für die Funktionsfähigkeit eines Staates ist der Loyalitätsgrad der Bevölkerung gegenüber den staatlichen Institutionen. Dazu steuert die Verwaltungsadministration, mit der Beamtenschaft als Funktionsträger, einen großen Anteil bei, da sie als institutionelle Verlängerung für die Angelegenheiten des Staatsvolkes respektive Souveräns verantwortlich ist. Je höher der Loyalitätsgrad der Bevölkerung und Beamtenschaft desto größer ist die Bereitschaft notwendige Steuermittel für den Staat zu entrichten und verantwortungsvoll einzusetzen. Im gescheiterten Staat ist die Loyalität zum Staat sukzessive verlorengegangen. Mangelnde Loyalität steht meistens am Anfang des Staatszerfallprozesses, danach zerbricht in aller Regel die innere Souveränität und am Ende steht der Verlust der territorialen Einheit.
Durch die globale Verbreitung des institutionellen Territorialstaates konstituierte sich ein internationales System aus souveränen Staaten, später in suprastaatliche Organisationen, wie den Vereinten Nationen, eingebunden. Schwache, versagende, zerfallende oder gescheiterte Staaten[4] bilden den Gegenpol zur globalen Ordnung, denn deren fragile Strukturen verursachen nicht nur Probleme auf nationaler oder regionaler, sondern auch auf internationaler Ebene (vgl. Schneckener 2006: 9). Anfangs betrachtete man zerfallende bzw. gescheiterte Staaten[5] lediglich als regionales Low-politics-Problem, doch spätestens seit den terroristischen Anschlägen am 11. September 2001 in New York hat sich die Sichtweise diametral gewandelt.
1.2 Kernfunktionen eines souveränen leistungsfähigen Staates
Ein wichtiger Aspekt ist die Unterscheidung zwischen De-facto-Staatlichkeit und De-jure-Staatlichkeit. Neben der zentralen Staatsgewalt nach Weber, gehören Staatsvolk und Staatsgebiet[6] zu den Bestandteilen der De-facto-Staatlichkeit, entscheidend ist jedoch die völkerrechtliche oder De-jure-Staatlichkeit: Ob ein Staat als Staat im internationalen System wahrgenommen wird, hängt von der völkerrechtlichen Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft ab. Nur international anerkannte Staaten können diplomatische Beziehungen unterhalten und Mitglied in internationalen Organisationen werden (Schneckener 2006: 16). Als Idealtypus konsolidierter Staatlichkeit gilt ein Staatswesen, welches demokratische Verfahrensweisen respektiert, Rechtsstaatlichkeit garantiert und ein Mindestmaß an wohlfahrtstaatlicher Absicherung bereitstellt, andernfalls spricht man von weak, failing oder failed states. In diesen Fällen ist die Steuerungsfähigkeit der staatlichen Institutionen eingeschränkt oder nicht mehr gegeben.
1.2.1 Das legitime Gewaltmonopol
Eine stabile Gesellschaftsordnung kann nur unter einem zentralen Gewaltmonopol gedeihen, andernfalls befände sich die Gesellschaft in einem latenten Krisen- und Konfliktzustand, und die Gewährung physischer Sicherheit der Bürger wäre eingeschränkt oder nicht mehr gegeben. Ein gestörtes Gewaltmonopol läßt in aller Regel ein Sicherheitsvakuum entstehen, das nichtstaatlichen Akteuren die Möglichkeit eröffnet, als „Sicherheitsdienstleister“ zu agieren. Dies können Stammes- und Clanführer, Piraten oder Warlords sein (Schneckener 2006: 22), die dann ihre Ordnung auf Gewalt und Unterdrückung gründen. Gescheiterte Staatlichkeit begünstigte in der Vergangenheit die Entstehung terroristischer transnationaler Organisationen, die das friedliche Zusammenleben der Gesellschaft nach innen und die Interaktion mit anderen Staaten im internationalen System nach außen scheitern ließ (vgl. Mair 2004: 101). Mit unkontrollierter Zunahme nichtstaatlicher Akteure besteht die Gefahr, daß das Territorium des Staates in Subeinheiten zerfällt. Das legitime staatliche Gewaltmonopol bildet die Grundlage für das Funktionieren einer horizontalen Gewaltenteilung, besonders zwischen der Exekutive und der Judikative. Ohne funktionierende Exekutive kann der Rechtsstaat nicht die erforderliche Reichweite entwickeln, denn in konsolidierten Staaten kontrollieren und verschränken die Gewalten einander, in zerfallen(d)en Staaten ist die Funktionsweise nicht mehr gegeben.
1.2.2 Die Herrschaft des Rechts – Rule of Law
Nach Robert A. Dahl gehören Partizipation der Bürger zur Bestimmung und Abwahl einer Regierung, sowie der freie Wettbewerb um die Ämter der Macht zu den Mindestkriterien einer Demokratie (2000: 37f). Hinzu kommt die normative Dimension des sozialen Rechtsstaats in einer Demokratie:
„Dieses normative Definitionselement („soziale Demokratie“) ist ebenso wie die beiden formalen Kriterien kontextabhängig und somit veränderbar, gestaltbar und abhängig von sozialen Kräftekonstellationen.“ (Tetzlaff 2004: 155)
Zwar verfügt moderne Herrschaft über das Monopol der Normordnung - wie Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzug – doch ist die Herrschaft an demokratische Institutionen gebunden, die wiederum flexibel an neue Rahmenbedingungen angepaßt werden können. Recht bzw. Rechtsstaatlichkeit hat die Funktion, soziales Verhalten mit allgemeinen, verbindlichen und dauerhaften Regeln zu garantieren. Dadurch übt das Recht soziale Kontrolle aus und sanktioniert ggf. abweichendes Verhalten, um ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft zu ermöglichen. In konsolidierten Demokratien ist Rechtsstaatlichkeit garantiert, in gescheiterten Staaten dagegen ist die institutionelle staatliche Rechtssprechung nicht mehr vorhanden. Dabei kann es in Failed States zu „Schatten“-Rechtssprechung durch nichtstaatliche Autoritäten kommen, wie z. B. durch Scharia-Gerichte im islamischen Kulturkreis oder Rechtssprechung durch Dorfälteste oder Clanführer. Gescheiterte Staatlichkeit bedeutet nicht zwingend, daß Anarchie und Rechtlosigkeit herrscht, vielmehr ist sie dann zu einer fragmentierten Rechtssprechung auf Mikroebene geschrumpft.
Des weiteren benötigt die nationale Ökonomie verläßliche rechtsstaatliche Strukturen, um eine Gesellschaft erfolgreich in den internationalen Warenaustausch einzubinden. Rechtssicherheit bzw. Rechtsstaatlichkeit sind unabdingbar für nachhaltige Entwicklung in den Peripheriestaaten, sie stärkt gleichzeitig die Leistungs- und Selbsthilfefähigkeit in diesen Gesellschaften (vgl. Silberberg 2009: 7). Auf zwischenstaatlicher Ebene werden Konflikte verrechtlich und in geordnete Bahnen gelenkt. Darüber hinaus müssen sich Staaten auf Makroebene an völkerrechtliche Verpflichtungen halten, dies bedeutet, daß Konflikte friedlich ausgetragen werden sollen. Unter Umständen kann die internationale Gemeinschaft mit ihren Institutionen unterstützend und letztinstanzlich für einen Schiedsspruch sorgen. „Das konsequente Zur-Geltung-Bringen des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen [...]“wird unter dem Schlagwort „Rule of Law at the international level“ zusammengefaßt (ebda.: 7). Für nichtstaatliche Gewaltakteure in gescheiterten Staaten gilt, daß keiner mehr über dem Recht steht, fehlende innere Institutionen und Rechtsdurchsetzung werden durch das Völkerrecht ersetzt.
1.2.3 Die Bereitstellung existentieller und sozialer Infrastruktur
In Peripheriestaaten sind Unterentwicklung, ökonomische und soziale Ungleichheiten die Hauptfaktoren, die zu fragiler Staatlichkeit und Staatszerfall führen können. Nicht alle Staaten sind gleichermaßen von diesem Phänomen betroffen. Instabile sozioökonomische Verhältnisse sind schwer auszutarieren, wenn zu wirtschaftlicher Stagnation durch sinkende Rohstoffpreise, eine allgemeine Belastung durch Auslandsverschuldung hinzukommt. Bevölkerungswachstum, Abwandern in die Großstädte, Selbstbereicherung der Eliten und autoritäre Herrschaft gehen einher mit einem Anstieg der Armut breiter Gesellschaftsschichten. Wegen des raschen Anwachsens der urbanen Zentren sind die staatlichen Institutionen mit dem Ausbau der Infrastruktur überfordert, weil notwendige Ressourcen fehlen. Zum anderen dominieren vielfach Formen von Klientelismus und Korruption die staatlichen Institutionen, wodurch die Entwicklung einer Politik des sozialen Ausgleichs verhindert wird (Hein 2005: 7f). Erschwerend kommt die Verschuldungskrise in den meisten Entwicklungsländer in den 80er Jahren hinzu, die eine Folge des Versuchs war, die Modernisierung der ökonomischen Strukturen durch importsubstituierende Industrialisierung (ISI) zu vollziehen.
Die Versuche der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Schuldenproblematik durch neoliberale Reformen in den Griff zu bekommen, schlugen in den meisten Fällen fehl. Vielmehr bewirkten die strukturellen Anpassungsprogramme der Kreditgeber, daß das soziale Ungleichheitgewicht und die Armut zunahmen und das ökonomische ISI-Entwicklungsmodell scheiterte (vgl. ebda.). Die Ausweitung des informellen ökonomischen Sektors und die Marginalisierung breiter urbaner Bevölkerungsschichten führten zu Formen des Überlebens jenseits des Rechtsstaats und zur Ausbreitung verschiedener Formen organisierter Kriminalität. Dazu gehören Schmuggel, Drogenhandel und –anbau, sowie die moderne Form der Piraterie mit der Erpressung von Lösegeld. Schattenökonomie befördert außerdem das Entstehen von Loyalitätsbeziehungen zu nichtstaatlichen Gewaltakteuren, wie religiösen Fundamentalisten oder regionalen Warlords.
Der unterentwickelte Staat muß Beschäftigung und Einkommensquelle gewährleisten und dafür Sorge tragen, daß der globale Güteraustausch reibungslos vonstatten gehen kann.
1.3 Konzeptionalisierung
Die bisher vorgenommene theoretische Einordnung diente dazu, erst eine Definition von Staatlichkeit zu erhalten. Staatlichkeit ist zu einem Konzept gesellschaftlichen Zusammenlebens weltweit geworden. Der S T A A T, als relevantes Subjekt und Objekt, wird zur Analyse politischer und sozioökonomischer Interaktionsprozesse herangezogen, weil er das vorherrschende völkerrechtliche Subjekt (juristische Staatlichkeit) im internationalen System ist und daher eine bestimmte Wirkung auf seine Umwelt entfaltet (vgl. Jackson 2002: 7). Legitimes Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit und die Institutionen bilden das notwendige Gerüst, um eine moderne institutionelle Staatlichkeit entstehen lassen zu können. Die drei Staatsfunktionen bilden ebenso die Funktionalität des Objekts ab. Der konsolidierte Staat hat idealerweise intakte Staatsfunktionen. Sind diese partiell oder vollständig nicht mehr vorhanden, so spricht man a) von gestörter oder fragiler Staatlichkeit; b) ist eine Staatsfunktion nicht mehr vorhanden oder weitere Staatsfunktion(en) beschädigt oder zerstört, dann liegt zerfallende Staatlichkeit vor. Am Ende der Skala c) - als Extremausprägung - ist die gescheiterte Staatlichkeit angesiedelt, wenn alle Funktionen nicht mehr gegeben sind.
Abbildung 1: Kontinuum der Staatlichkeit
Konsolidierter Staat Schwacher Staat Zerfallender Staat Gescheiterter Staat
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung
Im zweiten Teil der Arbeit werden die Staatsfunktionen als unabhängige x-Variablen verwendet, um die abhängige Zielvariable gescheiterte Staatlichkeit in Somalia zu erklären. Im dritten Teil wird der Grad und Zustand der Staatlichkeit verwendet, um das Phänomen Piraterie an den Küsten Somalias zu erklären. Dazu werden folgende Indikatoren verwendet: geographische Lage, das gestörte Gewaltmonopol der Exekutive, die nichtstaatlichen Gewaltakteure/Piraten, die Infrastruktur, die Lage der somalischen Bevölkerung und die Rechtsstaatlichkeit. Danach erfolgt, auf Basis der empirischen Daten des Failed-States-Index und des Piracy Reporting Center (IMB), die Erklärung und Analyse, daß das Phänomen der Piraterie im wesentlichen auf den Staatszerfall zurückzuführen ist. Die dafür zugrunde gelegte Arbeitshypothese lautet: Das Scheitern der Staatlichkeit in Somalia bewirkte maßgeblich die Entstehung der Piraterie am Horn von Afrika.
2. Somalias Geschichte und der Weg vom zerfallenden zum gescheiteten Staat
Der am 1. Juni 1960 entstandene unabhängige Staat Somalia liegt am östlichsten Teil des afrikanischen Kontinents. Das Staatsgebiet mit seiner nordöstlichen Landspitze, dem Horn von Afrika, hat eine Fläche von 637.657 Quadratkilometern; es umfaßt eine Küstenlinie von 1.800 Kilometern und dehnt sich auf 220 - 359 km in Ost-Westrichtung aus. Das Land liegt strategisch exponiert zwischen Ausgang des Roten Meeres, der arabischen Halbinsel im Norden und Indischem Ozean im Osten. Kenia bildet im Süden die Grenze, zudem hat Somalia im Nordwesten und Westen eine lange Binnengrenze zu Äthiopien. Das ehemalige Französisch-Somalia, das heutige Dschibuti, rundet im äußersten Nordwesten, mit seinem schmalen Grenzstreifen, das somalische Staatsgebiet ab. Das heutige Somalia entstand aus dem ehemaligen britischen Protektorat Somaliland im Norden und dem italienischen Einflußgebiet im Osten zwischen Bander Zeila am Golf von Aden und Kismajyu im Süden. Das Hinterland mit dem Siedlungsgebiet der Ogaden gehörte bis 1891 zum äthiopischen Kaiserreich. Die koloniale Vergangenheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist italienisch geprägt, denn ab 1934 bildeten Eritrea, Äthiopien und Somalia das „Africa Orientale Italiana“. Mit der Niederlage Italiens 1941 zerbrach das koloniale Gebilde, Äthiopien erhielt Autonomiestatus, während Eritrea und Somalia zunächst der britischen Militärverwaltung unterstellt waren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die neugegründeten Vereinten Nationen das ehemalige Italienisch-Somaliland 1950 unter Treuhänderschaft Italiens, unter der Bedingung, daß das Land innerhalb von zehn Jahren in die Unabhängigkeit entlassen wird (vgl. (Sheikh/Weber 2010: 18f). Das Ogadengebiet im Binnenland, wo somalischstämmige Nomaden leben, wurde 1954 dem äthiopischen Staatsgebiet angegliedert, die südlichen somalischen Stämme gerieten unter kenianische Hoheit. Im April 1960 beschlossen die politischen Kräfte die somalischen Gebiete im Süden und Norden des Landes zur Republik Somalia zu vereinen. Die gewählten Parlamente der beiden Landesteile bildeten eine Übergangsregierung, die bis zur Wahl der Nationalversammlung im Juli 1961 bestand.
Bei der Ausarbeitung der Verfassung zeigten sich bereits erste Unstimmigkeiten und Ansätze der späteren Konfliktlinien zwischen den einzelnen regionalen Bevölkerungsgruppen. Da die Verfassung größtenteils auf einen Entwurf des Südens zurückging und der Norden noch unter britischem Mandat stand, stimmten bei der Ratifizierung der Verfassung im Juni 1961 im Norden weniger als fünfzig Prozent der Parlamentarier zu, während im anderen Landesteil die Verfassung mehrheitlich angenommen wurde (vgl. Sheikh/Weber: 23f). Die Verfassung sah ein präsidentiell-parlamentarisches Regierungssystem vor, mit einer Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative. Die Rechtsprechung basierte auf britischem und italienischem Rechtssystem, ebenso enthielt es Elemente der islamischen Rechtsordnung - der Scharia. (ebda.: 24). Bereits zu Anfang der Unabhängigkeit entstanden Probleme bei der Zusammenführung der unterschiedlichen Staats- und Verwaltungssysteme, des weiteren konnte keine Einigung erzielt werden, wie eine einheitliche somalische Schriftsprache auszusehen hat. Innerhalb der Institutionen entwickelten sich sehr bald Machtkämpfe aufgrund der unterschiedlichen Clanzugehörigkeiten. Zu den allgemeinen Parlamentswahlen 1969 kam es zu politischen Unruhen, in deren Folge das Militär, unter Führung von General Maxamad Siyaad Barre, gegen die Regierung putschte und die Macht unblutig übernahm (Bakonyi 2011: 95). General Barre leitete Reformen ein, um das Land zu modernisieren, und er lehnte sich sehr eng an die Ideen des Marxismus-Leninismus an. In Zeiten des bipolaren Systemwettbewerbs zwischen den USA und der Sowjetunion verfolgte Somalia den Entwicklungsweg der zentralisierten Planwirtschaft (ebda.).
[...]
[1] Der Begriff «Staat» ist dem lateinischen Wort «status» entlehnt und bedeutet: Stand, Zustand oder Verfassung (Nohlen: 476).
[2] Eine eindeutige präzise Definition liegt nicht vor. Je nach Perspektive gibt es eine handlungstheoretische (wie oben), funktional-strategische oder system-kommunikationstheoretische Definition (ebda: 282f).
[3] Regime definiert Zugänge zur politischen Herrschaft und Machtbeziehung zwischen Eliten und Herrschaftsunterworfenen. Regime sind dauerhafte Formen politischer Herrschaftsorganisation (vgl. Merkel 2000: 63f).
[4] In der wissenschaftlichen Literatur werden Begriffe wie Quasi-Staaten, „Para-Staaten, anomische Staaten, Schattenstaaten oder Netzwerk-Staaten verwendet, die die mangelhafte oder fehlende Funktions- und Steuerungsfähigkeit der Staaten beschreibt (zit. nach Schneckener 2006: 9).“
[5] Gescheiterte Staaten werden im folgenden auch als failed states bezeichnet, zerfallende Staaten entsprechend als failing states.
[6] nach Georg Jellinek in der Allgemeinen Staatslehre von 1895 bilden die drei Elemente: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt den Staat.