Der Klang Sozialer Arbeit: Musikpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen


Diplomarbeit, 2006

72 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Organigramm

2. Einleitung

3. Theoretischer Überblick
3.1. Vom Hören
3.1.1. Der Vorgang des Hörens
3.1.2. Hören macht Sinn
3.1.3. Musik an Gehirn
3.2. Musik und Mensch
3.2.1. Musik im Gehirn
3.2.2. Musik und Kompetenzerwerb
Soziale Kompetenz
Intelligenzentwicklung
Konzentration
Schulische Leistungen
3.2.3. Musik und sozialkommunikative Prozesse
3.2.4. Musik und Sozialisation
Musik und Bildung
Musik und Kultur

4. Praktischer Überblick
4.1. Grundlegende Aspekte
4.1.1. Musizieren
4.1.2. Musik mit Kindern
Singen
Instrumentalspiel
Kinderreime, Kindertänze und Kreisspiele
Musik verstehen
Instrumentalunterricht
4.1.3. Musik mit Jugendlichen
Das Equipment
Die Band
Das Konzert
4.2. Musik-Links
4.3. Musik und Sozialschaffende
4.3.1. Musik im Teamprozess
Biographische Arbeit
Improvisation

5. Schlussbetrachtung

6. Quellenverzeichnis

Zitierte Literatur

Flankierende Literatur

Internetrecherche @

Abbildungsverzeichnis

Verwendete Tonträger in chronologischer Reihenfolge

2. Einleitung

Im Anfang war das Wort. Gott ließ die Welt aus dem Klang seines Wortes entstehen: Gott sprach und es ward. Nicht nur das christliche Weltbild transportiert die Vorstellung, dass die Welt aus Klang entstanden sein soll, auch andere Weltreligionen machen auf diesen Zusammenhang aufmerksam. Selbst in der Wissenschaft sind mit der Urknalltheorie Hinweise zu finden. Jüngste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass der Urknall eigentlich ein Urschrei gewesen ist. Die Schallwellen spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Sternen und Galaxien (Vgl. Becker, @ 01.03.05).

Physikalisch besteht Klang aus Schallschwingungen, psychologisch und pädagogisch transportiert er Information und Erfahrung. Mit all unseren Sinnen nehmen wir wahr, was unser Empfinden und Denken durchdringt. Da wir auch Klangerlebnissen emotionale Bedeutung beimessen, können Klangerfahrungen unsere Befindlichkeit ändern.

Die Nachahmung natürlicher Klänge und deren kulturelle Formung lassen musikalische Erfahrungen zu. Physikalisch betrachtet ist Musik gestaltete, eingeteilte Zeit. „Aus diesem Grund setzt Musik beinahe begriffsnotwendig eine rhythmische Ordnung ihres Rohmaterials (Geräusche, Töne, Klänge) voraus. Außer durch Rhythmus kann musikalisches Material durch Melodie (die Abfolge verschiedener Tonhöhen) und Harmonie (die Gleichzeitigkeit bestimmter Tonhöhen) organisiert sein“ (Wikipedia, @ 09.02.06). Allerdings kann der Bedeutungsgrad von Musik mit diesen Parametern nicht erfasst werden.

„Das Geheimnis der besonderen Wirkung von Musik scheint in der Spezifik von Musik als ein „Ausdrucksmittel“ verborgen zu sein, dessen psychophysiologische Begründung aus der Tatsache resultiert, dass sowohl die Musik selbst, als auch der durch Musik hervorgerufene Erlebniseindruck einen gemeinsamen Ursprung im Zentrum der menschlichen Persönlichkeit -sprich im menschlichen Gehirn haben. Musikalischer Ausdruck und musikalischer Eindruck sind insofern durch eine sich wechselseitig bedingende Kausalität untrennbar miteinander verbunden“ (Schramm, @ 26.01.06).

Musik ist heute an allen Orten zu finden und integraler Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse. So wurden im Jahre 2002 allein in Deutschland etwa 223 700 000 Tonträger verkauft (Vgl. Broschart u. Tentrup, 2003, 62), von denen eine große Zahl noch vervielfältigt wird. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, Musik im Internet zu downloaden. Musik im Radio, im Fernsehen und im Kaufhaus, bei gesellschaftlichen oder religiösen Ereignissen - Musik ist immer mit dabei. Werbebotschaften werden mit Musik ebenso transportiert wie emotionale Inhalte in Spielfilmen: Leones filmisches Meisterwerk „Spiel mir das Lied vom Tod“ wäre ohne die Musik wohl nie ein Klassiker geworden. Hinzu kommt flächendeckend die live gespielte Musik von Hobbymusikern und Profis. Wir sind umgeben von Musik, wir leben in einer Welt voller Musik.

Zu keiner Zeit sind Gesellschaften von einer solchen musikalischen Fülle überflutet worden wie heute. Angesichts der tief greifenden emotionalen und sozialen Bedeutung von Musik ist die Soziale Arbeit deshalb aufgerufen, insbesondere jungen Menschen zu ermöglichen, einen bewussten und bedachten Umgang mit dem Medium Musik zu erlernen. Für dieses Ziel ist das aktive Musizieren der Adressaten die ideale Methode. Die Haupt- und Nebenschauplätze des Musizierens können darüber hinaus den Erwerb von Schlüsselqualifikationen ermöglichen und erleichtern. Umso verwunderlicher ist es, dass die musikalischen Möglichkeiten nicht flächendeckend in pädagogische Prozesse einfließen. Die weitgefächerten Möglichkeiten des Mediums Musik werden oft aufgrund von Berührungsängsten und Unkenntnis der in der Sozialen Arbeit tätigen Menschen nur unzureichend genutzt.

Die vorliegende Arbeit soll aufzeigen, dass die Arbeit von PädagogInnen - auch ohne besondere Musikalität - durch den Einsatz von Musik intensiviert und effektiver gestaltet werden kann. Neben einer wissenschaftlichen Betrachtung der Möglichkeiten des Mediums Musik soll es darum gehen, die in der Sozialen Arbeit tätigen Menschen zu motivieren, Musik intensiver in pädagogische Prozesse einfließen zu lassen.

Der theoretische Überblick behandelt zunächst den Vorgang des Hörens und die Bedeutung des Hörsinnes für den Menschen. Nach dem Weg der Musik zum Gehirn soll versucht werden, den Bedeutungshof von Musik und Mensch darzustellen. Dabei geht es zunächst darum, die Wirkungen von Musik im Gehirn aufzuzeigen und dann auf sozialpädagogische Inhalte aufmerksam zu machen.

Der Kompetenzerwerb, sozialkommunikative Prozesse und die musikalische Sozialisation stehen dabei im Mittelpunkt.

Im praktischen Überblick geht es um grundlegende Aspekte musikpädagogischer Arbeit. Um den vorgegebenen Rahmen nicht zu überschreiten, beschränkt sich diese Arbeit bezüglich des Arbeitsfeldes auf Kinder und Jugendliche. Beispielhaft sollen hier die Musikalische Früherziehung und die Arbeit mit Jugendbands betrachtet werden, da hier die musikpädagogischen Möglichkeiten besonders evident sind. Um der Vielfalt musikpädagogischer Möglichkeiten gerecht zu werden, wird im Weiteren eine Auswahl von Musik-Links angeboten, die eine individuelle Wissensvertiefung ermöglichen soll. Daran anschließend bietet der Exkurs „Musik und Sozialschaffende“ die Möglichkeit, sich mit der möglichen Bedeutung von Musik im Rahmen der Teamentwicklung zu befassen.

3. Theoretischer Überblick

In diesem Kapitel geht es zunächst um den physikalischen Vorgang des Hörens. Des Weiteren soll der Versuch unternommen werden, die Bedeutung von Klang und Musik für den Menschen und den diesbezüglichen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse aufzuzeigen. Ein Schwerpunkt ist dabei auf sozialpädagogische Inhalte gelegt.

3.1. Vom Hören

Der menschliche Embryo ist noch kein Zentimeter groß, da sind bereits mikroskopisch kleine Ansätze zur Bildung von Ohren an ihm erkennbar. Und schon in der 24. Woche ist das eigentliche Hörorgan, das Labyrinth mit der Cochlea, komplett in seiner endgültigen Größe ausgebildet: Das kleine Wesen muss sich o(h)rten, um Gleichgewicht zu halten und um den Herzschlag der Mutter, das „Ur-Metrum“ zu hören. Durch das Hören wird es zu einem Wesen dieser Welt (Vgl. Berendt, 2000, 55).

3.1.1. Der Vorgang des Hörens

Da das Hören von Klängen offensichtlich von basaler Bedeutung für den Menschen ist, hier eine kurze Übersicht über den eigentlichen Hörvorgang im Körper:

Die Ohrmuschel fungiert als ein Trichter, der den Schall der Umgebung auffängt und in den Gehörgang leitet. Auch für das Richtungshören ist die Ohrmuschel zuständig. Durch den Gehörgang gelangen die Reize an das Trommelfell. Diese dünne, straffe Membran wird durch Schallwellen in Schwingung versetzt. In der so genannten Paukenhöhle werden diese Schwingungen dann über Hammer, Amboss und Steigbügel an das Innenohr weitergegeben.

Das Innenohr besteht im Wesentlichen aus der Schnecke und den Bogengängen, die auch für den Gleichgewichtssinn verantwortlich sind. In der Schnecke werden Schallschwingungen in elektrische Signale gewandelt, die über das Nervensystem das Gehirn erreichen: Vom Steigbügel werden die Bewegungen des Schalls in die mit Flüssigkeit gefüllte Vorhoftreppe übertragen.

Die Windungen der Vorhoftreppe münden in die Paukentreppe, die von Reissnerscher Membran und Basilaarmembran umschlossen wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3-1: Das menschliche Ohr

Auf der Basilaarmembran liegt das eigentliche Hörorgan, das Cortische Organ. In diesem Organ befinden sich Sinneszellen, die mit sehr feinen Härchen, den Zilien, ausgestattet sind. Wenn die Basilaarmembran in Schwingung versetzt wird, werden die Zilien gebogen. Bei dem so ausgelösten elektrochemischen Prozess entstehen in den angesprochenen Sinneszellen elektrische Impulse, die über Nervenzellen in das Hörzentrum des Gehirns geleitet werden. Der Mensch hört einen Klang (Vgl. Loitsch, @ 03.12.05).

Während des Hörens wandeln wir die Vibrationen der Luft in mechanische Bewegung, flüssige Vibration und Neuronale Energie um. So kann der Hörvorgang als vierfacher Transformationsvorgang schwingender Moleküle beschrieben werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3-2: Transformationsvorgang

3.1.2. Hören macht Sinn

Klang wird unterschiedlich definiert. In der Physik besteht ein Klang lediglich aus Schallschwingungen, während die Psychologie hier von einer Information und Erfahrung spricht, die das Gehirn mit Hilfe der Hörorgane wahrnimmt. Verständlicherweise ist für die Wahrnehmung des Embryos und des Neugeborenen nicht der Inhalt und der Sinn gehörter Wörter von hervorgehobener Bedeutung, sondern die Tonhöhe, Stimmspannung und die Sprechmelodie. Wahrgenommen werden vielmehr der emotionale Charakter und damit der Klang einer menschlichen Ansprache.

Der Entwicklungsprozess des Ohres beginnt schon 22 (!) Tage nach der Verschmelzung der Keimzellen und ist nach etwa viereinhalb Monaten funktionsfähig. Bereits ab der 16. Entwicklungswoche sind Hörvorgänge möglich. Interessant dabei ist, dass die sich bildenden Nervenzellen, die nun langsam ihre Tätigkeit aufnehmen, die Informationen, die sie durch die Wahrnehmung erhalten, nur abspeichern. Die vorhandene Information bleibt nun isoliert beim Ohr. Erst im späteren Fetalstadium, wenn sich die nötigen Nervenbahnen zur Weiterleitung entwickelt haben, kann die in den Nervenzellen gespeicherte Information an das herangereifte Gehirn weitergegeben werden. „Daraus ergibt sich, dass das Ohr mehr an die Frühphase der menschlichen Entwicklung gebunden ist, als das Auge und dass durch Hören leichter Gefühle geweckt werden als durch Sehen“ (Klausmaier, 1978, 218).

Das Hören als ein Teil unserer sinnlichen Wahrnehmung ist ein hochkomplexer, im Fetalstudium sehr früh ausgeprägter Vorgang mit grundlegenden Folgen für die menschliche Entwicklung. „Mehr als 25 Millionen Mal ereignet sich während der Schwangerschaft der Pulsschlag der Mutter. Dieser Rhythmus hat prägende Bedeutung, die man darin erkennen mag, dass auf der ganzen Welt die ersten Kinderworte eine zweisilbige Rhythmik besitzen: Mama, Papa“ (Kapteina, 2004, @ 12.12.05, 67). Früh erlebte Geräusche, hauptsächlich wahrgenommen als immer wiederkehrende, rhythmische Abläufe (Körperbewegungen wie Gehen, Herzschlag und Atmung der Mutter), hinterlassen unweigerlich ihre Prägung. „Für die postnatale Zeit beschrieb schon René Spitz die Zeichen und Signale, die das Kind in den ersten Lebensmonaten erreichen: ‚Gleichgewicht, Spannungen, Körperhaltung, Temperatur, Vibration, Haut- und Körperkontakt, Rhythmus, Tempo, Dauer, Tonhöhe, Klangfarbe, Resonanz, Schall und wahrscheinlich noch eine Reihe anderer, die der Erwachsene kaum bemerkt und die er gewiss nicht in Worte fassen kann.’ Diese coenästhetische Wahrnehmung beinhaltet die Grundstoffe, die Phänomene, die Musik ausmachen und zeigen, dass Musik lange vor der sprachlichen Verständigung wahrgenommen werden kann“ (Schumacher, @ 26.01.06). Die ersten Wahrnehmungen des Menschen sind also offensichtlich musikalischer Natur. „Musik und Tanz sind das Ergebnis des Imprinting. Der Mensch schafft und erlebt sie in seinem Bemühen dem Reiz des Imprinting nahe zu bleiben; das bedeutet, dass Musik und Tanz unbewusste Versuche des Menschen sind, ähnliche sensorische Erfahrungen wieder zu machen, wie er sie aus seiner pränatalen Existenz kennt“ (Benenzon, 1983, 26). Wahrscheinlich gilt das Ohr deshalb traditionell als Tor zur Seele. Über das Hören geschieht eine wesentliche Vermittlung zwischen der Außenwelt und der Innenwelt des Menschen. Der Vorgang des Hörens ist eine vernehmende, rezeptive Wahrnehmungsqualität. Hierin lässt sich die Qualität seiner Empfindungsfähigkeit, ja seiner WAHR-nehmungsfähigkeit, erkennen.

Der Mensch kann nicht wirklich weghören, er hört auch im Schlaf, um bei Gefahr gewarnt zu sein. Wir haben die Möglichkeit, unsere Augen vor einem Objekt oder vor der Außenwelt zu verschließen, unsere Ohren sind jedoch immer auf Empfang. Deutlich wird dabei der wesentliche Unterschied zwischen dem Seh-Sinn und dem Hör-Sinn: Das Auge ist nach außen ausgerichtet, es wählt aktiv aus und erfasst, während das Ohr nach innen gerichtet ist und empfängt und erhört. Eine Farbe können wir lediglich um- bzw. beschreiben (moosgrün, lapislazuliblau...). Wir hören einen Ton und können ihn sehr genau bestimmen: Auch ohne das absolute Gehör oder besondere Musikalität sind wir in der Lage, zu beurteilen, ob ein Oktavintervall stimmt oder nicht. Das Auge kann immer nur vergleichend schätzen, während das Ohr mathematisch genau misst (Vgl. Berendt, 1988, 34 f). „Unsere Augen gehen über die Oberfläche der Dinge (...). Sie erahnen viel mehr, als sie sehen und niemals oder fast niemals prüfen sie die Dinge. Sie geben sich mit den Erscheinungen zufrieden und in diesen gleitet die Welt schimmernd dahin und verbirgt ihren wesentlichen Inhalt“ (Lussuyrun in Berendt, 1985, 179). Berendt geht sogar noch einen Schritt weiter und macht deutlich, dass der Gehörsinn das menschliche Sehvermögen bei Weitem übertrifft.

„Wenn ein Maler beispielsweise drei Farbtöne miteinander vermischt, kann unser Auge das Resultat nur als eine einzige neue Farbe wahrnehmen.

Wenn Klarinette, Flöte, Oboe zusammen erklingen, kann unser Ohr die resultierende Mischung sowohl als neuen Klang wahrnehmen, wie auch die drei Instrumente, die diesen Klang hervorbringen, voneinander unterscheiden“ (Berendt, 1985, 177).

Der werdende Mensch im Bauch der Mutter hört schon ab der 24.Woche. Und auch am Ende des Lebens nimmt das Hören eine besondere Stellung ein. „Wenn wir sterben - wenn alle unsere Sinne erlöschen - (...), dann ist der Sinn, der bei der Mehrzahl der Menschen als letzter erlischt, der Hörsinn“ (Berendt, 2000, 56). Damit wird deutlich, dass unser Hörsinn unseren Lebensweg vollständig begleitet:

„Wenn wir aufhören zu hören, dann hören wir auf zu sein! Wenn wir beginnen zu hören, dann beginnen wir zu sein! Ich höre - also bin ich! (Berendt, 2000, 57).

3.1.3. Musik an Gehirn

Musik ist Kultur gewordene Natur. Das Pfeifen des Windes, das Rauschen des Wassers, das Rascheln von Blättern und andere Naturklänge bilden die Grundlage unserer hörenden Wahrnehmung. Geräusche und Klänge sind zunächst Luftschwingungen, ein ewiges Hin und Her kleinster Luftmoleküle, deren Bewegung erst die Qualität dessen bestimmt, was zu den Ohren der Welt dringt. Die natürlichen Klänge und die durch Instrumente hervorgerufenen Töne bestehen dabei aus den sich überlagernden Schwingungen mehrerer Frequenzen. Wenn Musik erklingt, bringt sie die Moleküle der umgebenden Luft in eine ganz bestimmte Ordnung.

Bereits 500 vor Christus entdeckte Pythagoras den Zusammenhang von Mathematik und Musik. Es gelang ihm, die grundlegenden Tonintervalle durch einfache Zahlenverhältnisse zu beschreiben und damit die erste Tonleiter der Weltgeschichte zu entwickeln. Doch erst im 17. Jahrhundert konnte hierfür eine physikalische Erklärung gegeben werden. Eine Oktave beispielsweise schwingt tatsächlich immer genau doppelt so schnell wie der jeweilige Grundton. Jedes Tonsystem ist darauf begründet, dass die Töne im Abstand einer Oktave als wesensverwandt empfunden werden. Intervalle wie Oktaven oder Quinten kommen bereits in der Natur vor. Beispielsweise wachsen Bäume nach „harmonischen“ und mathematischen Verhältnissen, denen auch die Tonintervalle entsprechen.

Auch die willkürliche Einteilung der Oktave in zwölf Halbtonschritte, mit der in der abendländischen Musik überwiegend musiziert wird, versucht, den natürlichen Klangerfahrungen gerecht zu werden. Unabhängig von der Musiksparte ist in der Musik bereits sehr viel durch die Natur festgelegt und so auch auf die Physiologie des Hörorgans hin ausgerichtet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3-3: Entstehung von Klängen

Jeder Klang besteht aus vielen verschiedenen Frequenzen, die erst in ihrer Summe die Klangfarbe bestimmen. Über den vordergründig wahrgenommenen Ton hinaus erklingen im Hintergrund die so genannten Obertöne. Diese Töne werden im Gehirn mit verarbeitet und sind maßgeblich daran beteiligt, wie wir Musik bewerten. Wenn diese Obertöne beispielsweise sehr nah beieinander liegen, wie es beim gleichzeitigen Erklingen von zwei Tönen, die nur einen Halbtonschritt auseinanderliegen, der Fall ist, interpretiert das Gehirn dieses als Disharmonie. Der Grund dafür ist, dass die im Innenohr nah beieinander liegenden Frequenzen auch nah beieinander liegende Nervenzellen ansprechen und die Trennschärfe zwischen den Tönen verloren geht (Vgl. Bethge, 2003, 132).

Alle Sinneswahrnehmungen bedürfen der Verarbeitung und Interpretation durch das Gehirn, um für das Leben des Menschen bedeutsam zu werden. Man könnte also sagen, wir hören nicht mit den Ohren, sondern mit dem Gehirn. Insbesondere gilt dies für Kommunikationsformen wie z.B. Sprache oder Musik. Ein Zitat vom Philosophen Martin Heidegger macht es noch deutlicher: „Die Weise, wie wir beim Hören und Sehen etwas wahrnehmen, geschieht durch die Sinne, ist sinnlich. Diese Feststellungen sind richtig. Sie bleiben dennoch unwahr, weil sie Wesentliches auslassen. Wir hören zwar eine Bachsche Fuge durch die Ohren, allein wenn hier nur dies das Gehörte bliebe, was als Schallwelle das Trommelfell beklopft, dann könnten wir niemals eine Bachsche Fuge hören. Wir hören allerdings durch das Ohr, aber nicht mit dem Ohr... Wenn daher das menschliche Ohr stumpf wird, das heißt taub, dann kann es sein, dass, wie der Fall Beethoven zeigt, ein Mensch gleichwohl noch hört, vielleicht noch mehr hört und Größeres hört als zuvor...“ (Heidegger in Berendt, 1988, 109 f).

Der taube Beethoven hat offensichtlich mit seinem Gedächtnis Musik gehört und komponiert. Doch dieses Schicksal verbindet ihn mit allen Menschen, denn das Gehirn erkennt keine Geräusche oder Tonintervalle, sondern es versucht fortwährend „wiederzuerkennen“. Das Gehirn ist der eigentliche Konzertsaal, in dem Musiker und auch so genannte Nichtmusiker musizieren. Musikhören ist ein konstruierender Vorgang. Die Flut der Informationen, die bereits beim Erklingen eines einzelnen Akkordes aus Hunderten von Frequenzkomponenten entsteht, wäre nicht in erforderlicher Geschwindigkeit zu verarbeiten, wenn das Gehirn die Informationen nicht stark vereinfachen würde. Das Gehirn kategorisiert das Gehörte und sucht für diesen Zweck nach bereits bekannten Mustern und Bestandteilen. Über das bereits angesprochene „Imprinting“ hinaus, verarbeitet das Gehirn demnach alle Hörinformationen aktiv durch Antizipation. Das Gedächtnis ist deshalb entscheidend für die Musikwahrnehmung (Vgl. Jourdain, 2001, 303 f).

Der Vorgang des Hörens ist also nicht ausschließlich passiv empfangend, sondern das Gehirn trägt insbesondere beim Musikhören eigene Leistungen bei, um die Hörerfahrung einordnen zu können. Damit ist das Hören auch abhängig von der momentanen und dauernden Disposition der HörerIn. Die genetische Prägung sowie bereits gemachte (Kultur-) Erfahrungen und Gewohnheiten tragen zur Entwicklung von Hörerwartungen bei, die das Hören von Musik zu einem sehr individuellen Vorgang machen.

3.2. Musik und Mensch

Musik war zu allen Zeiten in allen Kulturen präsent. Bereits in der Antike wird die „Person“ klanglich definiert: „personare“ bezeichnet dem Wortsinn nach, wie ein Individuum klanglich durchdrungen wird. Die Sage des Orpheus oder die Posaunen von Jericho - die Kulturgeschichte ist voll von Erzählungen, die der Musik eine archaische Kraft zusprechen. Besonders in sozialen und religiösen Bereichen gesellschaftlichen Lebens nimmt Musik eine bedeutende Rolle in allen Kulturen der Welt ein. Ob die Menschen in den Krieg ziehen, ob Taufe, Brautwalzer, Trauerfeier - Musik ist immer Bestandteil menschlicher Rituale. Musik ist ein Merkmal menschlicher Gesellschaften.

3.2.1. Musik im Gehirn

Die Allgegenwärtigkeit von Melodien und Rhythmen ist ein Indiz dafür, dass Musik nicht nur Beiwerk menschlichen Seins ist, sondern für den Menschen lebensnotwendige Funktionen erfüllt. Nicht nur der Bedarf an Musik scheint ungebrochen, sondern auch die kraftvolle Wirkung von Musik auf die Gefühlswelt des Menschen scheint im Wesentlichen unverändert.

„Die meisten der psychophysischen Prozesse sind durch Lehr- und Lernprozesse veränderbar und damit der pädagogischen Einflussnahme zugängig. Diese Wirkungskausalität impliziert damit zugleich auch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Pädagogik und Hirnforschung“ (Schramm, @ 26.01.06). Dank der Hirnforschung wissen wir, dass das so genannte limbische System bei der Verarbeitung von Gefühlen eine wichtige Rolle spielt. Wird Musik als angenehm empfunden, werden Bereiche des körpereigenen Selbstbelohnungssystems stimuliert (Vgl. Altenmüller in Bethge, 2003, 139). Die neuronalen Strukturen dieser entwicklungsgeschichtlich alten Regionen des Gehirns werden auch beim Essen oder beim Sex stimuliert. Gleichzeitig wird die Aktivität in den so genannten Mandelkernen vermindert, die bei Angstreaktionen angesprochen werden. Natürlich werden beim Weg der Musik durch das Gehirn noch zahlreiche weitere Areale angesprochen. Die nachfolgende Abbildung gibt dazu einen kurzen Überblick.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3-4: Klangwelten im Kopf

Eine Studie von Altenmüller mit professionellen Klavierspielern weist darauf hin, dass eine enge Verbindung zwischen der Hörrinde des Großhirns und der motorischen Rinde besteht. Es wurde nachgewiesen, dass das Melodiehören motorische Gehirnzentren aktiviert und umgekehrt schon ein lautloses Tastendrücken den Stoffwechsel in Hörregionen erhöht. Bei Klavieranfängern verstärkten sich solche Effekte mit der Anzahl der Klavierstunden. (Bangert/Altenmüller in Pape, @ 17.12.05).

Was TänzerInnen schon immer wussten, ist von der biomedizinischen Forschung im Experiment belegt worden. Rhythmen dringen direkt und ohne Umweg über das Bewusstsein in unsere Gliedmaßen. Thaut verweist auf die direkte Verbindung zwischen den Hörarealen und Bereichen, die unsere Bewegungen steuern. Im Versuch klopften Probanden mit den Fingern zum Takt eines Metronoms. Bei einer leichten Veränderung des Takts passten die Versuchspersonen die Bewegungen ihrer Finger sofort an, obwohl die Veränderung nicht bewusst wahrgenommen wurde. Die Verbundenheit von Tanz und Musik hat ihren Grund nach Thaut in der Notwendigkeit, unsere Bewegungen an Geschehnisse der Umwelt anzupassen. Um rechtzeitig flüchten zu können, brauchten unsere Vorfahren eine schnelle Verbindung zwischen Hörsinn und Motorik (Thaut in Kapteina, 2004, @ 12.12.05, 32 f).

Die Stimulation des Gehirns durch Musik hat darüber hinaus eine nachweisliche Wirkung auf die Physiognomie des Gehirns. „Musik ist der stärkste Reiz für neuronale Umstrukturierung, den wir kennen“ (Altenmüller in Broschart u. Tentrup, 2003, 68). Vermutlich ist Musik deshalb so geeignet, die Nerven zu neuer Vernetzung zu reizen, weil es stark an das affektive System und damit an Emotionen gekoppelt ist. Ganze Strukturen verändern sich im Gehirn, wenn es dauerhaft und intensiv mit Musik konfrontiert wird. „Assoziationssysteme, worunter man den Zusammenschluss von Neuronen aus dem Augenblick heraus versteht, machen ca. 80 Prozent der Nervenverbindungen in der Großhirnrinde aus. Unabhängig von Merkmalsausprägungen werden solche Verbindungen zunächst in großem Überschuss angelegt. Bei Erregung von Nervenzellen bilden sich diejenigen Verbindungen stärker aus und bleiben erhalten, die oft gleichzeitig erregt werden, d.h. auf Merkmale reagieren, die häufig gemeinsam auftreten. Damit führen frühe Erfahrungen zu strukturellen Veränderungen. Sie sind von ebenso entscheidender Bedeutung wie genetisch bedingte Strukturveränderungen. Übertragen auf das Instrumentalspiel bedeutet das: Frühes Training von Fertigkeiten verändert jeweils zuständige kortikale Areale“ (Pape, @ 17.12.05). Die Hörrinde von Profimusikern weist 130% mehr graue Hirnmasse auf als bei Nichtmusikern. Dies ist eine Differenz von einem Kubikzentimeter. Darüber hinaus ist die Verbindung beider Hirnhälften, der so genannte Corpus callosum, um bis zu 15% dicker (Vgl. Bethgen, 2003, 138 f). Insbesondere bei Kindern, die vor dem siebten Lebensjahr in den Genuss von Musikunterricht kommen, ist ein besserer Informationsaustausch zwischen beiden Gehirnhälften zu verzeichnen als bei MusikerInnen, die das Musizieren später erlernen. (Vgl. Broschart u. Tentrup, 2003, 70).

Insgesamt kann man davon ausgehen, dass Musik die Fähigkeiten des gesamten Gehirns trainiert. „Möglicherweise fördert dabei das Musizieren bestimmte Hirnareale besonders, die dann aber andere Bereiche des Gehirns bei ihren Aufgaben unterstützen. Dies könne man vergleichen mit einem joggenden Sportler, dem die gewonnene Kraft in den Beinen nicht nur beim Laufen, sondern auch bei anderen Sportarten wie etwa Tennis hilft“ (Wawrzinek, @ 17.12.05).

3.2.2. Musik und Kompetenzerwerb

„Musik macht intelligenter“, „Musik macht sozialer“, „Musik macht kreativer“ - solche Aussagen finden sich häufig in unserer Medienlandschaft. Die Griffigkeit solcher Schlagzeilen offenbart ihre unzureichende Differenzierung und wird damit der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht. Es ist eine naive und irreführende Annahme, das man sich eine musikpädagogische Zauberkiste (nach dem Muster „Beethoven für Soziale Kompetenz“ und „Metallica für den Aggressionsabbau“) zusammenstellen zu könnte. Es gibt eben nicht „den“ Menschen und „die“ Musik, sondern vielmehr zahlreiche komplexe Zusammenhänge vielfältigster Faktoren. Aus diesem Grund kann empirische Forschung zum Thema Musik nur eine Stichprobe mit ausgewählten Methoden innerhalb eines begrenzten Zeitraumes untersuchen.

In den letzten Jahren hat es eine Vielzahl von, zum Teil umstrittenen, Untersuchungen zum Zusammenhang von Musik und Kompetenzerwerb gegeben (siehe Schweizer Studie von Weber, Spychiger und Patry, 1993; „Mozart-Effekt“ von Rauscher, Shaw und Ky, 1993; Rhode Island Report, Gardiner, Fox, Knowles, Jeffrey 1996; Chan, Ho und Cheung, 1998; Steele, Bass, Crook, 1999; Chabris, 1999; Steele, Dalla Bella, Peretz, Dunlop, Dawe, Humphrey, Shannon, Kirby, Olmstead, 1999; Rauscher, 1999; Staines, 2001). Beispielhaft sollen im Folgenden ausgewählte Ergebnisse einer Langzeitstudie von Hans-Günter Bastian vorgestellt werden, um einen Eindruck von der Effizienz musikpädagogischer Maßnahmen zu vermitteln (Bastian, 2000). Auch wenn sich die Studie ausschließlich mit Grundschulkindern befasst, weisen nicht zuletzt die Erkenntnisse der neuronalen Hirnforschung darauf hin, dass zumindest in den angrenzenden Entwicklungsstufen der frühen Kindheit und Pubertät mit ähnlichen Tendenzen zu rechnen ist.

Bastian führte im Zeitraum von 1992 bis 1998 an sieben Berliner Grundschulen eine Langzeitstudie mit 5 Modellklassen und 2 Kontrollklassen durch. Gegenstand der Untersuchung war der Einfluss von erweiterter Musikerziehung auf die allgemeine und individuelle Entwicklung von Kindern. Im Sinne der Transfertheorie von Thorndike lag der Studie die These zugrunde, dass das Lernen eines Instruments, das Musizieren im Ensemble und der Musikunterricht nicht nur die kreativen, ästhetischen, musikalischen, kognitiven, psychomotorischen und sozialen Fähigkeiten positiv beeinflussen können, sondern darüber hinaus auch einen vorteilhaften Einfluss auf die Faktoren motivationaler und emotionaler Entwicklung haben kann. Dementsprechend sollten die Untersuchungsergebnisse auch Aussagen über die Bedeutung musikpädagogischer Handlungen für Konzentration, Selbständigkeit, Ausdauer, Lernbereitschaft und Umgang mit Kritik usw. machen. Relevant waren hierfür unter anderem das familiäre und soziale Umfeld, das Bildungsniveau, vorschulische Erfahrungen und die allgemeine Einstellung zur Schule.

Die Stichprobe erfasste zu Projektbeginn 170 Grundschulkinder. Die Modellgruppe (MG) bestand aus 130 Kindern, die Grundschulen besuchten, an denen sie neben einem wöchentlichen, zweistündigen Musikunterricht erhielten. Instrumentalunterricht (einzeln oder in Gruppen) und gemeinsames Musizieren erweiterten das musikalische Angebot für diese Untersuchungsgruppe. Die festgestellten Entwicklungen wurden mit einer Kontrollgruppe (KG) von 40 Kindern verglichen, die ohne eine explizite musikalische Förderung mit den „normalen“ Gegebenheiten einer Grundschule auskommen mussten.

Soziale Kompetenz

Seit Beginn des erweiterten musikalischen Angebotes stieg der Anteil der Kinder in der MG, die im Klassenverband eine oder mehrere Positivwahlen („Den Schüler mag ich gerne“) erhielten. Der Anteil wuchs über alle Grundschuljahre kontinuierlich und deutlich höher als in der KG. An den jeweiligen Schuljahrsenden lag die Sympathiequote bei über 90 %. Der Anteil von Kindern, die keine einzige Ablehnung („Den Schüler mag ich nicht“) erhielten, war in der MG im Allgemeinen doppelt so hoch. Im vierten Schuljahr beispielsweise erhielten 62% der SchülerInnen in der MG keine einzige Ablehnung, während es in der KG nur 34% waren. Gleichzeitig war die Streuung der Positivwahlen in den musikbetonten Klassen weniger stark und das Sympathieklima somit homogener.

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Details

Titel
Der Klang Sozialer Arbeit: Musikpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Hochschule
Hochschule Esslingen  (FHS Esslingen)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
72
Katalognummer
V213450
ISBN (eBook)
9783656418146
ISBN (Buch)
9783656419716
Dateigröße
1307 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
klang, sozialer, arbeit, musikpädagogische, kindern, jugendlichen
Arbeit zitieren
Thorsten Wiemann (Autor:in), 2006, Der Klang Sozialer Arbeit: Musikpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/213450

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