Zum Spannungsverhältnis sozialer Gerechtigkeit und Freiheit


Magisterarbeit, 2011

90 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Theoretische Grundlagen: Eine Einführung
1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit
1.2 Aristoteles: Distributive Gerechtigkeit
1.3 Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit
1.4 Das klassisch-liberale Verständnis
1.4.1 Thomas Hobbes: Naturzustand und Rechtssicherheit
1.4.2 Immanuel Kant: Recht und praktische Vernunft
1.5 Das kommunitaristische Verständnis
1.5.1 Chrarles Taylor: Kritik des atomistischen Individualismus
1.5.2 Michael Walzer: Die Spähren der Gerechtigkeit
1.5.3 Zusammenfassung
1.6 Sozialmoralische Gründe zur Rechtfertigung von Umverteilungsmaßnahmen
1.7 Exkurs zur Freiheit
1.7.1 Positive und negative Freiheit
1.7.2 Freiheit bei Friedrich August von Hayek
1.8 Zusammenfassung

2. Soziale Gerechtigkeit und Freiheit im Wohlfahrtsstaat: Am Beispiel des deutschen Sozialstaates
2.1 Ziele und Aufgaben des Sozialstaates
2.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Sozialstaates
2.3 Zusammenfassung
2.4 Die Debatte um den Wohlfahrtsstaat
2.4.1 Die Kritik am Sozialstaat
2.4.2 Die normativen Grundlagen der Debatte
2.5 Zusammenfassung

3. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit: Am Beispiel libertärer und sozialliberaler Positionen
3.1 Friedrich August von Hayek: Soziale Gerechtigkeit als Illusion
3.1.1 Die Entwicklungsgeschichte der Freiheit: Die empiristische und rationalistische Position
3.1.2 Der Niedergang des Liberalismus und der Aufstieg des Sozialismus
3.1.3 Die Planwirtschaft als Anmaßung von Wissen
3.1.4 Der Wohlfahrtsstaat und die soziale Gerechtigkeit
3.1.5 Der Rechtsstaat als Garant der Freiheit
3.1.6 Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
3.1.7 Zum Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Recht
3.1.8 Zusammenfassung
3.2 John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness
3.2.1 Die Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft
3.2.2 Der Urzustand und der Schleier der Unwissenheit
3.2.3 Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit
3.2.3.1 Der erste Grundsatz: Das Primat der Freiheit
3.2.3.2 Der zweite Grundsatz: Das Differenzprinzip
3.2.4 Soziale Gerechtigkeit und der Wert der Freiheit
3.2.5 Zum Problem der Verteilungsgerechtigkeit
3.2.6 Moralische Gründe für die Regulierung ökonomischer und sozialer Ungleichheiten
3.2.7 Zusammenfassung
3.3 F.A.v. Hayek und John Rawls: Der Versuch einer Zusammenführung

4. Fazit

Literaturverzeichnis

„ Freiheit ist nicht nur ein System, in dem alle Regierungstätigkeit von Grundsätzen geleitet ist, sondern auch ein Ideal, das sich nicht erhalten wird, wenn es nicht selbst als beherrschendes Prinzip anerkannt wird. Wo an diesem Grundsatz nicht standhaft festgehalten wird, der keinen materiellen Vorteilen geopfert und höchstens zeitweilig durchbrochen werden darf [...] ist es fast unausbleiblich, daßdie Freiheit Schritt für Schritt zerstört wird “ (Hayek 1991: S 86).

Einleitung

Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit zu untersuchen. Der zentrale Untersuchungsgegenstand zielt auf die Frage ab, ob soziale Gerechtigkeit und Freiheit miteinander vereinbar sind, sich ausschließen oder gar bedingen. Hintergrund für die Wahl des Themas ist einerseits das persönliche Interesse des Autors und die historische Langlebigkeit (vgl. z.B. Oschek 2007: S 98) und andererseits die Aktualität des Themas, wie sie beispielsweise in der Gerechtigkeitsdebatte um den Sozialstaat zum Tragen kommt (vgl. z.B. Nullmeier 2001:S 211ff). Der Fokus liegt hierbei auf libertären und sozialliberalen, im sehr viel geringerem Umfang auch auf kommunitaristischen Theorien.

Es ist nicht zu verkennen, dass sich die Ideen Friedrich August von Hayeks durch die gesamte Arbeit ziehen und einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden. Dies ist seiner fruchtbaren und umfassenden Auseinandersetzung mit der gewählten Thematik geschuldet und der persönlichen Wahl des Verfassers. Die Berücksichtigung des Kommunitarismus dient vor allem dazu, die Vielfalt die hinsichtlich der Auffassungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vorliegen, zu veranschaulichen und eine Einseitigkeit der Arbeit in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu verhindern. Es ist hingegen nicht Absicht des Autors, die Debatte zwischen dem Liberalismus und dem Kommunitarismus, die seit dem Erscheinen von John Rawls richtungsweisenden Werk „A Theory of Justice“ 1971 entbrannt ist, näher zu beleuchten.

Um sich dem Untersuchungsgegenstand zu nähern und eine Verständnisgrundlage für die weitere Untersuchung zu schaffen, soll zunächst umrissen werden, was sich hinter den Begrifflichkeiten der sozialen Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit im Allgemeinen und der Freiheit verbirgt und welche Ansichten aus dem Bereich der politischen Philosophie hierzu von den unterschiedlichen Denkrichtungen vertreten werden. Der Schwerpunkt liegt auch hier gemäß dem gewählten Fokus, auf den bereits erwähnten libertären und sozialliberalen sowie den kommunitaristischen Auffassungen. Es ist gleichwohl nicht der Anspruch des Verfassers, eine erschöpfende Übersicht über das breite Feld der Gerechtigkeits- und Freiheitstheorien zu liefern.

Anschließend soll in aller Kürze untersucht werden, wo der Begriff der sozialen Gerechtigkeit außerhalb des philosophischen Diskurses zum Tragen kommt. Anhand des deutschen Sozialstaatsprinzips- und der Aufgabe, die dem deutschen Sozialstaat von wissenschaftlicher Seite beigemessen wird,soll aufgezeigt werden, inwiefern sich die bisher untersuchten Begrifflichkeiten in dieser gesellschaftlichen Institution wiederspiegeln. Ziel ist es, einen Anknüpfungspunkt zu dem untersuchten Gegenstand zu finden. Anhand der Debatte um den deutschen Sozialstaat soll aufgezeigt werden, dass der Kritik unterschiedliche normative Konzepte zugrunde liegen. Diese bereits oben angerissenen Konzepte sollen anschließend, sofern relevant, ausschnittsweise näher untersucht werden, um dem Verhältnis von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit näher zu kommen. Im Anschluss soll der Versuch unternommen werden, die sogenannte libertäre- und sozialliberale Strömung kurz darzustellen, um anschließend, unter Berufung auf zwei maßgebliche Vertreter dieser Denkrichtungen, den Untersuchungsgegenstand näher zu beleuchten. Die Wahl fällt hierbei auf Friedrich August von Hayek und John Rawls. Gründe für diese Wahl sind in den teils sehr unterschiedlichen, jedoch sehr stringenten Auffassungen der beiden Autoren hinsichtlich Ihres Verhältnisses zur Gerechtigkeit und Freiheit zu suchen. Diesem Schwerpunkt der Arbeit schließt sich ein Vergleich der beiden Philosophen an, mit dem Zweck die bisherigen Erkenntnisse über den gewählten Gegenstand zusammenzufassen und maßgebliche Unterschiede herauszuarbeiten. Die Arbeit schließt mit dem Überblick der erworbenen Erkenntnisse und einer persönlichen Betrachtung des Autors.

Diese Arbeit folgt der Kantischen Tradition, Philosophie als Erkenntnissystem allgemeinverbindlicher Normen und Werte zu verstehen. (vgl. Hinsch 1998: S 19) Es ist nicht Intention des Autors, aus der nachfolgenden Betrachtung direkte Bezüge zu realpolitischen Maßnahmen der sozialen Gerechtigkeit zu ziehen oder solche zu bewerten. Die Betrachtungen über den deutschen Sozialstaat sind in dieser Hinsicht mit Rekurs auf den philosophischen Hintergrund zu verstehen und dienen der Veranschaulichung der Thematik sowie der Herausarbeitung und Herleitung philosophischer Ansichten.

1. Theoretische Grundlagen: Eine Einführung

Die Beschäftigung mit dem Wohlfahrtsstaat und seiner Umverteilungspraxis, führt unweigerlich zum Begriff der Gerechtigkeit, speziell der sozialen Gerechtigkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff ist hierbei ungleich älter als der Wohlfahrtsstaat moderner Prägung. Bereits Plato und Aristoteles legten wesentliche Charakteristika der Gerechtigkeit fest, schon seit damals [...] gilt Gerechtigkeit als moralische Leitidee für Recht, Staat und Politik sowie als eine der wichtigsten individuellen Tugenden“ (Oschek 2007: S 98).

1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit

„Gerechtigkeit ist kein absoluter, sondern ein relativer Begriff, dessen konkreter Inhalt in Relation steht zu bestimmten sozialen Zielen und Sinngehalten“ (Walzer 1994: S 440). Aber auch wenn darüber, was Gerechtigkeit eigentlich genau bedeutet, sehr unterschiedliche, teils konträre Meinungen existieren, kann man nicht ausschließen, dass allen Ansichten nicht doch ein gemeinsames Konzept zu Grunde liegt. Die Idee zumindest, dass eine Gesellschaft nur dann als gerecht angesehen werden kann, wenn sie bestimmten moralischen Standards entspricht, ist uralt (vgl. Koller 2000: S 120f). So entzündet sich der Streit nicht daran, ob eine Gesellschaft gerecht oder ungerecht sein soll sondern was unter Gerechtigkeit an sich zu verstehen ist.

Verstanden als ein moralisches Konzept bezieht sich Gerechtigkeit auf soziale Verhältnisse und soziales Handeln zwischen Menschen (vgl. Koller 2000: S 121). „Gerechtigkeit ist sui generis auf soziale Zusammenhänge bezogen: In Ihrer jeweiligen institutionellen Form weist sie die angemessenen Anteile an Rechten, Einkommen, Vermögen und Bildung zu und entscheidet somit über die Verteilung von Chancen und Teilhabe in einer Gesellschaft“ (Penz/Priddat 2007: S 51). Wenn auch der Begriff der Gerechtigkeit auf vielfältige Weise, z.B. bezogen auf Personen, Staaten, Beziehungen etc. verwendet wird, so sind doch als Gemeinsamkeit die allgemeinen Normen bzw. Regeln zwischenmenschlichen Handelns herauszustreichen. (vgl. Koller 2000: S 122). So ist Gerechtigkeit über kulturelle Grenzen hinweg durch Prinzipien gekennzeichnet, die allgemeinverbindlichen Charakter haben:

In der Unparteilichkeit drückt sich die Gleichheit vor dem Gesetz aus, im Prinzip der Gegenseitigkeit die Überzeugung, niemanden etwas zuzufügen das man sich selber nicht wünscht. Die Tauschgerechtigkeit beschreibt ein faires Nehmen und Geben, ohne den anderen zu übervorteilen und die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit findet vor allem in der Gerichtsbarkeit ihre Anwendung. Darüber hinaus gibt es eine breite Übereinkunft über die zu schützenden Rechte. Gerechtigkeit bezieht sich ferner auch auf die moralische Bewertung menschlichen Handelns. Gemeint ist, dass jede Handlung nach moralischen Kriterien als gut oder schlecht eingestuft wird. Eine Handlung, die für jeden einzelnen Menschen einer Gesellschaft als gut angesehen werden kann, ist als moralische, nicht verhandelbare Grundlage dieser Gesellschaft zu betrachteten (vgl. Oschek 2007: S 99).

„ Unparteilichkeit und Wechselseitigkeit der Gerechtigkeit gebieten es, dass das Zusammenleben derart gestaltet wird, dass sich die Vor- und Nachteile gleichm äß ig verteilen bzw. die Vorteile allen und jedem gleichermaß en zugute kommen “ (Oschek 2007: S 99).

Aufgabe der Gerechtigkeit ist es also, die unterschiedlichen Interessen auf eine Art und Weise auszugleichen, die als angemessen angesehen wird. Darunter wird oft verstanden, dass jeder das bekommt was Ihm gebührt, wobei sich hier die Frage stellt, was darunter zu verstehen ist. Da es schwierig zu sein scheint, für alle Formen sozialen Handelns einen Gerechtigkeitsmaßstab zu definieren, mag der Versuch sinnvoll sein, einen solchen Standard jeweils für bestimmte Handlungsfelder festzulegen. Aristoteles beispielsweise unterschied zwischen distributiver und kommutativer Gerechtigkeit (vgl. Koller. 2000. S.122ff).

1.2 Aristoteles: Distributive Gerechtigkeit

Folgt man der aristotelischen Vorstellung von Gerechtigkeit, so teilt sich diese auf in „Die allgemeine Gerechtigkeit (Justitia universales) [...], die vollkommene Tugend und umfassende Rechtschaffenheit, [...] und die Gerechtigkeit (Justitia partikulares), deren Geltungskreis die äußeren Güter sind [...] Die partikulare Gerechtigkeit wiederum lässt sich in die ausgleichende Gerechtigkeit (Justitia direktiv) und die verteilende (Justitia Distributiva) unterteilen“ (Oschek 2007: S 100). Hinsichtlich des Rechtsbereiches unterscheidet Aristoteles noch einmal zwischen dem immer gültigen Naturrecht und dem vom Menschen gesetzten Recht. Ersteres ist für alle Menschen gleich und unangreifbar (vgl. Oschek 2007: S 100).

Bei diesen hier relevanten Betrachtungen soll es einzig um die partikulare Gerechtigkeit gehen. Die ausgleichende Gerechtigkeit (Justitia direktiv) stützt sich auf einen arithmetischen Gerechtigkeitsbegriff, also auf den Ausgleich einer rein quantitativen Ungleichheit oder Ungleichgewichtes. Der Schuldner, der diesen Mangel herbeigeführt hat, ist verpflichtet, diesen durch entsprechende Leistungen wieder auszugleichen. Eine Gewichtung oder Beurteilung findet nicht statt, da vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Die verteilende Gerechtigkeit (Justitia Distributiva) hingegen basiert auf dem Prinzip der geometrischen bzw. proportionalen Gleichheit. Anders als die ausgleichende Gerechtigkeit betrifft diese den gesellschaftlichen Raum und befasst sich mit der Verteilung sozialer Güter wie z.B. sozialer Anerkennung (vgl. Kersting 2000: S 17f). „Während die arithmetische Gleichheit (...) eine Gleichheit des Wegsehens, der Entdifferenzierung ist, ist die proportionale Gleichheit (...) eine Gleichheit des Hinsehens, der Differenzierung“ (Kersting 2000: S 18).

Setzt sich die ausgleichende Gerechtigkeit nicht mit der Frage auseinander, ob eine Gleichverteilung gerecht ist oder nicht, ist die verteilende Gerechtigkeit mit dem Problem konfrontiert, dass eine Ungleichverteilung nicht automatisch ungerecht, eine Gleichverteilung nicht automatisch gerecht sein muss, es braucht also einen Maßstab der festlegt, welche Gleich- oder Ungleichverteilung für wen als gerecht zu gelten hat. Gerecht ist nach Aristoteles, wenn jeder, proportional zu seinem Einsatz bzw. Arbeit, gleich entlohnt wird (Gleiches Gleichen, Ungleiches Ungleichen). Eine solche Entlohnung kann sich sowohl auf Geldmittel als auch auf die Vergabe öffentlicher Ämter erstrecken (vgl. Bien 2010: S 154). Ist eine solche Verteilung in wirtschaftlicher Hinsicht noch relativ leicht zuzuweisen, ist die Zuteilung von öffentlicher Anerkennung und Ämtern weitaus schwieriger. Für Aristoteles stellt das Kriterium für einen gerechten Maßstab die Verdienstlichkeit und Würdigkeit dar. Ausgehend von der Einsicht, dass jeder Mensch und jede Gesellschaft andere Vorstellungen davon hat, was darunter zu verstehen ist, stößt die Verteilungsgerechtigkeit hier an ihre Grenzen (vgl. Kersting 2000: S 19 ff). Aristoteles drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: „Denn darin, dass eine gewisse Würdigkeit das Richtmaß der distributiven Gerechtigkeit sein müsse, stimmt man allgemein überein, nur versteht nicht jedermann unter Würdigkeit das Selbe [...]“ (Aristoteles 1985: S 107).

Grundsätzlich ist Verteilungsgerechtigkeit bei Aristoteles politischer Natur und spiegelt das ethische Selbstverständnis der Gesellschaft wieder. „Das Gemeinwesen der klassischen Politik ist kein Koordinationssystem, keine Befriedungs- und Konflikregulierungsmaschiene. Es ist der Ort des guten Lebens“ (Kersting 2000: S 21). Nur durch die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und mit Hinblick auf das Gemeinwohl lassen sich die natürlichen Fähigkeiten des Menschen wie seine Vernünftigkeit oder Sprachgewandtheit entwickeln, kann der Mensch letztlich seine Bestimmung verwirklichen. Als Anreizsystem dient hier ein ethisches Belohnungsprinzip, das dem Tugendhaften, der sich um sein Vaterland verdient gemacht hat, mit der ihm gebührenden sozialen Anerkennung und Ehrung würdigt. Die Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich hier vor allem auf Tugendbelohnung (vgl. Kersting, 2000, S. 21f), wobei Tugend und Gerechtigkeit bei Aristoteles zusammenfallen, denn: „In der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten; und sie gilt als die vollkommenste Tugend, weil sie die Anwendung der vollkommenden Tugend ist. Vollkommen ist sie aber, weil ihr Inhaber die Tugend auch gegen andere ausüben kann und nicht bloß für sich selbst“ (Aristoteles 1985: S 103).

1.3 Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit

Die distributive Gerechtigkeit wird in der politischen Diskussion oft auch als soziale Gerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit bezeichnet (Merkel 2007: S 1). In diesem Sinne soll soziale Gerechtigkeit in dieser Arbeit zunächst als austeilende bzw. umverteilende Gerechtigkeit verstanden werden und der Begriff der sozialen Gerechtigkeit für alle auf diese Gerechtigkeitsform zutreffenden Beschreibungen verwendet werden, sofern sie nicht von anderen Autoren in einem anderen Sinnzusammenhang gesehen werden.

Trotz teils stark voneinander abweichender Vorstellungen hinsichtlich dessen was soziale Gerechtigkeit ist, scheint es doch in der westlichen Hemisphäre einige gemeinsame Grundannahmen zu geben, die mit der allgemein angenommenen und akzeptierten Gleichheit aller Menschen einhergehen. Diese treten in Vorstellungen zu einer gerechten Verteilung der Güter und Lasten einer Gesellschaft zu Tage, wobei eine Ungleichverteilung allgemein akzeptierter Gründe bedarf und entsprechend legitimiert sein muss (vgl. Koller 2000: S 125f). Es stellt sich von daher die Frage, welche Güter denn „ [...] zu den gemeinsamen Gütern und Lasten [...] einer Gesellschaft gehören und deshalb einer gerechten Verteilung bedürfen, und zweitens, welche Gründe [...] geeignet sind, Ungleichheiten [...] zu rechtfertigen (Koller 2000: S 125).

Dass die Verteilung der Güter zu einer Sache der Gerechtigkeit wird, hängt mit dem Tatbestand zusammen, dass natürliche- und von Menschen geschaffene Güter nicht unbegrenzt vorhanden sind, aber von vielen Menschen besessen werden wollen. Dies betrifft vor allem materielle Güter, kann sich jedoch auch auf ideelle, unbegrenzte Güter wie die Gleichheit vor dem Gesetz beziehen, insofern widerstreitende Interessen vorliegen (vgl. Oschek 2007: S 101). Kersting drückt dies folgendermaßen aus: „Da jeder lieber mehr als weniger haben möchte, entstehen Konflikte, die nach einer allseits anerkannten Verteilungsregel verlangen [...] Zum einen darf sie nicht die Funktionsbedingungen des marktwirtschaftlichen Systems schädigen, zum anderen muss sie gerecht sein“ (Kersting 2000: S 12). Allerdings sagt die Annahme, dass ein gesellschaftliches Verteilungssystem gerecht sein muss, noch sehr wenig darüber aus, was darunter zu verstehen sei und was nicht (vgl. Kneip 2003: Seite 14).

Problematisch bei der sozialen Gerechtigkeit ist zum Einen, dass Gleichverteilung auch ungerecht, Ungleichverteilung gerecht sein kann. Ausschlaggebend hierfür sind die angelegten Maßstäbe. Grundsätzlich gibt es dabei zwei verschiedene Ansätze soziale Gerechtigkeit zu denken: Die liberale Denkweise, basiert auf dem Individuum als Ausgangspunkt, die kommunitaristische, auf der Gemeinschaft. Je nach angelegtem Maßstab ergeben sich dadurch unterschiedliche Ansichten zu Art- und Umfang der sozialen Gerechtigkeit (vgl. Merkel 2007: S 2).

Charles Taylor greift diesen Tatbestand auf: Seiner Ansicht nach sind Unterschiede in der Gerechtigkeitsauffassung wesentlich von einander abweichenden Ansichten hinsichtlich dessen geprägt, was unter dem Guten und der Würde des Menschen zu verstehen ist, vor allem aber auch dadurch, ob die Verwirklichung des Menschlichen, oder Guten, von der Integration des Individuums in eine Gesellschaft abhängt, oder unabhängig, also autark, realisiert werden kann (vgl. Taylor 1988: S 148ff).

Im Folgenden sollen die erwähnten Positionen kurz am Beispiel einiger wichtiger Vertreter der jeweiligen Denkrichtungen umrissen werden um für die spätere Untersuchung zum Spannungsfeld zwischen sozialer Gerechtigkeit und Freiheit eine Verständnisgrundlage zu schaffen.

1.4 Das klassisch-liberale Verständnis

„Der Liberalismus [...] sieht die Hauptaufgabe in der Beschränkung der Staatsgewalt jeder Regierung, sei sie demokratisch oder nicht“ (Hayek 1991: S 125).

Der folgende Exkurs über die Freiheit und die Betrachtungen, die sich mit Hayeks sozialphilosophischer Sichtweise auseinandersetzen, werden zeigen, dass es auch innerhalb der als Liberalismus bezeichneten Strömung sehr unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Entstehung und Planbarkeit freiheitlicher, gesellschaftlicher Institutionen gibt. Weicht doch Hayeks evolutionistisches Verständnis erheblich von den rationalistischen Auffassungen der Kontraktualisten wie Thomas Hobbes ab. Dennoch können einige Gemeinsamkeiten genannt werden, die unabhängig von diesen Differenzen als typische Merkmale des Liberalismus bezeichnet werden können, wobei hier, gemäß des gewählten Untersuchungsgegenstandes, Betrachtungen die sich mit der sozialen Gerechtigkeit auseinandersetzen, im Mittelpunkt stehen.

Die Philosophie der Neuzeit verfolgt einen fundamental anderen Ansatz als das antike, auf tugendhafte Ethik ausgerichtete Gerechtigkeitsverständnis. Die noch bei Aristoteles vorzufindende Unterscheidung zwischen der arithmetischen und der proportionalen Gleichheit findet sich in der Neuzeit nicht wieder. Dem liegt ein Gerechtigkeitskonzept zu Grunde, das auf vernunftrechtlichen Vorstellungen fußt und letztlich die Rechtfertigung einer Eigentumsordnung darstellt, deren Schutz und Legitimation durch die Gleichheit vor dem Gesetz gegeben ist (vgl. Kersting 2000: S 22f).

„ Gerechtigkeit herrscht, wenn Menschen ein gleiches Recht auf politische Teilhabe besitzen, unter dem Schutz demokratisch erzeugter und wirksam durchgesetzter Gesetze ihre Freiheit genießen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Gerechtigkeit herrscht, wenn das Recht alle gleichbehandelt und das Eigentum sicher ist “ (Kersting 2010: S 9).

Basierend auf dieser Grundsetzung ist für den klassischen Liberalismus eines Kant oder Hobbes die Voraussetzung für die Gerechtigkeit in einer rechtsstaatlich verfassten Marktgesellschaft als gegeben zu betrachten (vgl. Kersting 2010: S 9).

Zweck der atomistischen Sichtweise, einer auf dem Recht des Einzelnen basierenden Vorstellung der Selbstverwirklichung, ist es nicht, die im Naturzustand herrschenden Rechte zu ersetzen, sondern ganz im Gegenteil: Sinn und Zweck einer Gesellschaft fußt auf dem Schutz dieser (Eigentums-)-Rechte durch Rechtssicherheit und Garantie der Selbstverwirklichung des Individuums. Gleichheit in diesem Sinne meint, dass jedes Individuum die gleichen, rechtlich garantierten Möglichkeiten in der Gesellschaft hat. Ist dieser Sachverhalt gegeben, ist dies als gerecht aufzufassen. Basierend auf dieser Sichtweise kann auch eine extreme Ungleichverteilung der Besitz- und Vermögensstände als gerecht betrachtet werden, soweit die rechtsphilosophische Auffassung von Gleichheit gegeben ist (vgl. Taylor 1988: S 150ff). „Denn das [...] Erkenntnisprogramm zielt vordringlich auf eine Freilegung der erklärenden und rechtfertigenden Gründe einer Eigentumsordnung, die [...] gern als Verteilungsordnung, als Ordnung die jedem das Seine gibt, ausgelegt wird“ (Kersting 2000: S 22f).

Die von liberalen Autoren wie Locke vertretene Auffassung lehnt jegliche moralphilosophische Behandlung des Menschen als gesellschaftliches Wesen ab und geht stattdessen von einer atomistischen Sichtweise aus. Die Gesellschaft nimmt hier die Funktion ein, das Individuum bei seiner Selbstverwirklichung insofern zu unterstützen, dass es durch Eingriffe durch Dritte geschützt ist. Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang verstanden als Rechtsgleichheit bzw.-Sicherheit (vgl. Taylor 1988: S. 148ff).

1.4.1 Thomas Hobbes: Naturzustand und Rechtssicherheit

Seinen Ursprung findet dieses Verständnis bei Hobbes rechtszentrierter Gerechtigkeitsvorstellung. Diese geht davon aus, dass der Mensch im Naturzustand auf alle Dinge einen Anspruch hat, die er seiner Vernunft folgend besitzen möchte. Da dies zwangsläufig zu Verteilungskämpfen führen muss, bedarf es einem Gesetz, das jedem Individuum den Schutz seines Eigentums garantiert. Diese Form der Festlegung führt zu Frieden und bedeutet im hobbesschen Sinne Gerechtigkeit (vgl. Hobbes 1992: S 47f). Bei Hobbes findet sich keine Aussage hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit im Sinne einer Umverteilung von Gütern oder Einkommen. Alleine der Gegensatz zwischen dem gesetzlosen, durch Gewalt geprägten, und dem verrechteten Zustand ist Grundlage genug um von Gerechtigkeit zu sprechen. Maßgeblich verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ist der Schiedsrichter, repräsentiert auf der einen Seite durch die Gesetzgebung, welche die grundlegenden Normen festlegt, sowie auf der anderen Seite durch die richterliche Instanz, welche im Einzelfall festlegt, was Recht ist (vgl. Kersting 2000: S 23ff).

1.4.2 Immanuel Kant: Recht und praktische Vernunft

Kant zählt nicht nur zu den Klassikern des politischen Liberalismus, er kann neben John Locke als einer ihrer wichtigsten Begründer gelten (vgl. Meyer 2005: S 171). Ähnlich wie Locke tendiert auch Kants Rechtsauffassung zu einer „[...] weitgehenden Identifikation der Institution des Privateigentums mit dem politischen Grundwert der Freiheit“ (Meyer 2005: S 171). Kersting drückt dies etwas vereinfachend folgendermaßen aus: „Da das natürliche Recht nur die Grundsätze von Eigentum und Vertrag umfasst, fällt das System der Verteilungsgerechtigkeit inhaltlich mit der liberalen Privatrechtsordnung zusammen“ (Kersting, 2000, S 25).

Zentrale Annahme Kants ist der Mensch als vernunftbegabtes Wesen. Der Begriff der Vernunft meint bei Kant die Fähigkeit, den Bereich der Sinne und somit der Natur zu überschreiten, „[...] sich selbst im Handeln erfahrbar zu machen [...]“ (Nusser 2007: S 109). Kant unterscheidet, basierend auf David Hume und dessen Trennung von deskriptiven und präskriptiven Sätzen, den theoretischen und praktischen Gebrauch der Vernunft. Im kategorischen Imperativ findet sich die praktische Vernunft wieder, diese ermöglicht dem Menschen sein Handeln unabhängig von sinnlich bestimmten Gründen, wie z.B. den Trieben, zu wählen (vgl. Wallner 2001: S 41). Der kategorische Imperativ ist als höchstes Kriterium für jegliche Moral, als Handlungsanweisung zu verstehen, die auf das sittliche Verhalten der Menschen abzielt. Der Soll-Charakter ergibt sich hierbei aus dem Unterschied zum Sein: „Da die Menschen nicht durchweg sittlich richtig handeln, sollen sie es tun. Der Kategorische Imperativ stellt dabei keine Willkür einer politischen Macht dar, sondern soll aufgrund der Vernunft einsichtig werden“ (Wallner 2001: S 42). Der kategorische Imperativ bezieht sich letztlich auf subjektive Maxime. Diese Maxime sind Grundhaltungen, „[…] die einer Vielzahl, auch Vielfalt konkreter Handlungsabsichten ihre gemeinsame Richtung geben“ (Wallner 2001: S 42).

Wir werden bei unseren Betrachtungen von Rawls Konzeption der „Theorie der Gerechtigkeit“ auf diesen Umstand zurückkommen. Zunächst sei noch festzustellen, dass es bezogen auf den klassischen Liberalismus unzutreffend scheint von sozialer Gerechtigkeit zu sprechen, wie sie zu Beginn definiert wurde. Dies scheint wenig zielführend, da eine Umverteilung nicht vorgesehen bzw. als ungerecht betrachtet werden müsste.

1.5 Das kommunitaristische Verständnis

„Das kommunitaristische Projekt ist der Versuch einer Wiederbelebung von Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen postmoderner Informations- und Dienstleistungsgesellschaften“ (Schäfer 2001: S 7). Das Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit in einer zunehmend von Einzelinteressen und Egoismus dominierten Gesellschaft ist das verbindende Element kommunitaristischer Theorien (vgl. Haus 2003: S 11).

Im Folgenden sollen kurz zwei kommunitaristische Positionen vorgestellt werden. Fokus ist gemäß dem gewählten Thema der Begriff der (sozialen) Gerechtigkeit.

1.5.1 Charles Taylor: Kritik des atomistischen Individualismus

Eine kommunitaristische Auffassung des Menschen geht davon aus, dass der Mensch nur in- und durch die Gesellschaft überhaupt zu einer Auffassung davon kommen kann, was unter Gerechtigkeit, Gut, Böse und menschlicher Würde zu verstehen ist. „[...] denn was der Mensch aus der Gesellschaft gewinnt, ist nicht Unterstützung bei der Verwirklichung seines jeweiligen Guten, sondern die Möglichkeit überhaupt, ein Handelnder zu sein, der das Gute anstrebt“ (Taylor 1988: S 150).

Während bei den atomistischen Vorstellungen der Begriff der Würde völlig vom Gesellschaftlichen abgegrenzt ist - von daher können dem Menschen auch im Naturzustand Rechte zugewiesen werden - ist er bei der sozialen Konzeptionen des Menschen zwingend an die Gesellschaft gebunden, kann nur in dieser verwirklicht werden (vgl. Taylor 1998: S 150f). Dieser Ansatz geht davon aus, dass im Naturzustand ein Gerechtigkeitsverständnis vorherrscht, das auf archaische Vorstellungen von Mein und Dein basiert. Davon zu unterscheiden ist die distributive Gerechtigkeit, welche nur in einer Gesellschaft vorzufinden ist, gemeint sind Kooperationsbeziehungen zwischen Menschen, die trotz begrenzter Ressourcen gleichberechtigt miteinander interagieren (vgl. Taylor 1988: S 145f). Diese Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit basiert auf grundlegenden moralischen Vorstellungen, welche dem Menschen allein aufgrund seines Menschseins bestimmte Rechte zuspricht und darauf aufbauend davon ausgeht, dass jeder gleich behandelt werden sollte, wobei Taylor hier die arithmetische und proportionale Gleichheitsvorstellung eines Aristoteles zu Grunde legt. Grundlegend dafür, was als gerecht im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit angesehen wird, ist die Vorstellung davon, was menschenwürdig ist und was ein „Gutes Leben“ ausmacht (vgl. Taylor 1988: S 147).

Taylor zufolge existieren im philosophischen Kontext vier unterschiedliche Rechtfertigungsansätze hinsichtlich der Verteilung- und Umverteilung von Gütern:

„(1) ein lockescher Atomismus, der sich auf das unveräußerliche Recht auf Eigentum konzentriert; (2) das Beitragsprinzip; (3) die Gruppe der liberalen und sozialdemokratischen Auffassungen die eine egalitäre Umverteilung rechtfertigen; und (4) marxistische Auffassungen, die das Problem distributiver Gerechtigkeit insgesamt deshalb zurückweisen, weil diese Frage in dieser Gesellschaft unlösbar [...] ist“ (Taylor 1988: S 174).

Der Erste Rechtfertigungsansatz basiert Taylor folgend auf einer atomistischen Vorstellung des Individuums, dessen Selbstverwirklichung und Vorstellung vom „Guten Leben“ vor allem durch das Ausleben wirtschaftlicher Möglichkeiten und dem Konsum geprägt ist. Die Gesellschaft wird nicht als Ort der individuellen Selbstentfaltung betrachtet sondern stellt gewissermaßen die notwendigen Mittel zur Verfügung, um dem Verlangen nach Konsum Rechnung zu tragen. Da die Gesellschaft aus dieser instrumentellen Perspektive betrachtet nicht sehr attraktiv erscheint, zieht sich das Individuum immer mehr ins Private zurück. Diese Auffassung bedingt auch die atomistische Denkweise vieler Menschen. Zwar ist die westliche Gesellschaft in ihrer Komplexität von einer gegenseitigen Abhängigkeit gekennzeichnet, die historisch einmalig ist, jedoch sind die Erfahrungen und Auffassungen oft atomistischer Natur. Dies führt zu der Ansicht, alles was das Individuum zur Selbstentfaltung brauche, sei bereits in Ihm gegeben (vgl.Taylor 1988: S 168f). Taylors Kritik an diesem Konzept folgend liegt der fundamentale Fehler aller atomistischer Sichtweisen in der Ausblendung der Tatsache, dass das freie Individuum mit seinen Wünschen und Zielen, wie wir es heute verstehen, ohne eine gemeinsame, kulturelle, politische und rechtliche Gesellschaftsgeschichte in dieser Form gar nicht existieren würde. Es konnte sich also nur durch- und aus der Gesellschaft heraus entwickeln. Atomistische Auffassungen weisen den gesellschaftlichen Institutionen jedoch nur eine Schutzfunktion zu, innerhalb dieser sich das Individuum autark entwickeln kann. (Taylor 1988: S 175). Die Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Institutionen als reine Schutzfunktion impliziert, dass fast jede Form der Ungleichheit als gerechtfertigt angesehen werden kann (vgl. Taylor 1988: S 177).

„Wenn wir jedoch uns diese Institutionen so vorstellen, dass sie das Verständnis von Freiheit aufrecht erhalten, insbesondere durch wechselseitigen Austausch und gemeinsames Beraten, dann sind größere Ungleichheiten inakzeptabel“ (Taylor 1988: S 177).

Anders als die von Taylor dargestellte atomistische Sichtweise des Individuums basiert die kommunitaristische Idee auf der Annahme, dass für das Funktionieren und den Zusammenhalt des sozialen Systems vor allem die sozialmoralische Ausrichtung ausschlaggebend ist, wobei hier in aufgeklärter Weise an Tugendorientierungen der Vormoderne angeknüpft wird (vgl. Schäfer 1998: S75 ff).

„ Es kommt aber weniger auf Tugendhaftigkeit an als vielmehr auf das sich selbst als sinnvoll erlebende partizipatorische und bürgerschaftliche Engagement, das durch Vorbild, Beispiel und befriedigende Wirkung, das soziale Leben interessanter und erträglicher mach. “ (Schäfer 1998: S 77).

Ein reiner Fürsorgestaat stößt hier aus finanziellen als auch sozialmoralischen Gründen auf Ablehnung. Der Kommunitarismus geht dabei von der These aus, dass die erweiterten partizipativen Möglichkeiten die Fähigkeit zur Selbstverwaltung verbessern. Staatliche Sozialpolitik, im Sinne einer als verteilende soziale Gerechtigkeit verstandene Politik, wird hier nur für den Notfall garantiert, letztlich soll die Zivilgesellschaft soweit wie möglich den Sozialstaat ersetzen (vgl. Schäfer 1998: S 77f).

1.5.2 Michael Walzer: Die Sphären der Gerechtigkeit

„Theorien der distributiven Gerechtigkeit handeln von einem sozialen Prozeß, dem gemeinhin folgendes Erscheinungsbild nachgesagt wird: Menschen verteilen Güter an (andere) Menschen“ (Walzer 1994: S 30).

Walzers Konzept beruht auf der Annahme einer in verschiedene Bereiche unterteilten Güterwelt. Für jeden dieser Bereiche gilt es, die entsprechenden Güter zu analysieren und diese gemäß allgemein anerkannter gesellschaftlicher Bewertungskriterien zu verteilen. Walzer unterscheidet hierbei das Prinzip der simplen Gleichheit und das der komplexen Gleichheit. Simple Gleichheit bedeutet, dass jeder das Gleiche erhält, also eine rein quantitative Verteilung, die jedoch erzwungen werden muss, da der freie Markt immer wieder aufs Neue Ungleichheit erzeugt. Da dies einen autoritären Staat implizieren würde, lehnt Walzer dieses Konzept ab. Stattdessen präferiert er das Prinzip der komplexen Gleichheit (vgl. Schäfer 1998: S 79f).

Grundlegend für Walzers Gerechtigkeitsauffassung ist, dass keine Sphäre sich in die Verteilung anderer Sphären einmischen darf, besonders gilt das für den finanziellen Sektor. Ebenso ist es bedeutsam, dass es Bereiche geben muss, deren gerechte Verteilung vollkommen unabhängig vom Geld gewährleistet sein müssen, hierzu zählen vor allem die Bildung und Gesundheit, deren Verteilung sich am Grundsatz der Gleichheit und der Bedürftigkeit orientiert (vgl. Merkel 2007: S 6f).

1.5.3 Zusammenfassung

Der vorhergehende Abschnitt über die soziale Gerechtigkeit hat eine Vielzahl möglicher Sichtweisen des Untersuchungsgegenstandes offengelegt. Ist aus Sicht des klassischen Liberalismus soziale Gerechtigkeit, im Sinne einer Umverteilungspraxis, schlicht nicht existent bzw. würde eine solche den Grundsätzen der formalen Rechtsgleichheit widersprechen und von daher nicht als gerecht bezeichnet werden können, betrachten kommunitaristische Denkansätze soziale Gerechtigkeit als Kooperationsformen von Individuen, die trotz begrenzter Ressourcen sich über die gerechte Verteilung der Güter zu einigen suchen. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden sich weitere Deutungsmuster abzeichnen, doch zunächst soll untersucht werden, welche sozialmoralischen Gründe für die Rechtfertigung von Umverteilungsmaßnahmen herangezogen werden können.

1.6 Sozialmoralische Gründe zur Rechtfertigung von

Umverteilungsmaßnahmen

„ Eine für dieöffentliche Rechtfertigung von distributiven Grundsätzen für Güterverteilungen wesentliche Prämisse ist die Annahme, dass unter freien und gleichen moralischen Personen Ungleichverteilungen von Gütern, anders als Gleichverteilungen, grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig sind “ (Hinsch 1998: S 37).

Jedes Gesellschaftsmitglied hat demnach das gleiche Recht auf eine vorteilhafte Güterverteilung. Für eine von der Gleichverteilung davon abweichende Zuteilung müssen überzeugende Gründe vorliegen. Hinsch zufolge kann es in einer demokratischen Gesellschaft freier und gleicher Bürger drei mögliche Gründe für eine Ungleichverteilung der Güter geben. Das sind bedarfsbezogene Ansprüche und leistungsbezogene Ansprüche moralischer Natur und drittens prudentielle Gründe (vgl. Hinsch 1998: S 37f).

Bedarfsbezogene Gründe liegen vor, wenn Menschen aufgrund ihrer verschiedenen Bedürfnisse bestimmte Güter mehr benötigen als andere; und die Gründe für diesen Mehrbedarf, der auch ohne Gegenleistung erfolgen kann, von der Gemeinschaft anerkannt werden. Beispielsweise sei hier die kostenintensive Verpflegung chronisch Kranker genannt.

Leistungsbezogene Ungleichheiten beruhen hingegen auf der Annahme, dass der Verdienst des Einzelnen abhängig von seiner für die Gesamtheit erbrachten Leistung sein soll. „Der Anteil an den gemeinsam produzierten Gütern, den eine Person gerechterweise für sich reklamieren kann, sollte sich […] daran bemessen, welchen Verdienst sich jemand durch Art und Umfang seiner Beiträge zum System sozialer Kooperation erworben hat“ (Hinsch 1998: S 39f). Moralisch gerechtfertigt kann eine darauf basierende Ungleichverteilung dann sein, wenn die Beiträge zur gemeinschaftlichen Gütervermehrung sich deutlich voneinander unterscheiden und eindeutig einer Person zugeordnet werden können (vgl. Hinsch 1998: S 39f).

Wird der Bedarfsgerechtigkeit in der Regel eindeutig das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit zugeordnet, ist die Zuweisung der Leistungsgerechtigkeit nicht eindeutig (vgl. Nullmeier, 2001.S.214).

„ Leistungsgerechtigkeit ist zunächst eine spezielle Variante distributiver Gerechtigkeit als proportionaler Verteilung von Gütern nach dem - als Leistung bestimmten - Wert der Person. Wenn der Leistungsbegriff aber eng als Vermögen zur Zahlung eines bestimmten Geld-Betrages, als marktpreisbewerte Leistung, gefaßt ist, stimmt sie mit Austauschgerechtigkeitüberein “ (Nullmeier, 2001.S.214f).

Vor allem an der Bedarfsgerechtigkeit entzündet sich der Streit um die soziale Gerechtigkeit, denn Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, oder solche, die besondere Anstrengungen unternommen haben um ihre Ziele zu verwirklichen, fühlen sich durch die Forderung gleicher Bezahlung oder einer distributiven Umverteilung im allgemeinen ihrer Früchte und Freiheiten beraubt.

Westliche Gesellschaften zeichnen sich durch eine Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Gleichheit und dem Gefühl gerechtfertigter Unterschiede aus. In einer hochgradig voneinander abhängenden Gesellschaft spüren die weniger Begünstigten ein für sie als gerechtfertigt empfundenes Gefühl der Unzufriedenheit. Andersherum erscheinen die zunehmend teuren Umverteilungsmaßnahmen und Begünstigungen benachteiligter sozialer Schichten dem Mittelstand und den Wohlhabenden als ungerecht, da sie die Fähigkeit zum eigenen Konsum einschränken und als unfaire Benachteiligung empfunden werden (vgl. Taylor 1988: S 170ff). „Sobald die Spannung anwächst, steigert sich auf beiden Seiten das Gefühl der Benachteiligung, und das Gefühl schwindet, dass unsere Gesellschaft einen legitimen Anspruch auf unsere Loyalität besitzt [...]“ (vgl. Taylor 1988: S 172).

Entsprechend wird das System immer mehr als ungerecht empfunden, es wächst das Gefühl, einer willkürlichen Gewalt ausgesetzt zu sein.

Aus Sicht des Kommunismus ist dieses Spannungsverhältnis auch nicht aufzulösen, da der Kapitalismus, dieser Ansicht zu Folge, die Gewalt bereits als systeminhärente Komponente in sich trägt. Aus dieser Position kann es überhaupt keine angemessene Einkommenspolitik geben, die Lösung wird stattdessen in einem kompletten Umsturz des Systems gesehen (vgl. Taylor 1988: S. 172f).

Taylor folgend zeichnen sich die modernen westlichen Staaten einerseits durch den republikanischen Grundsatz der individuellen Freiheit und gemeinschaftlicher Entscheidungen aus; hier spiegelt sich das Prinzip der Gleichverteilung wieder. Auf der anderen Seite dienen sie jedoch ebenso der Mehrung des individuellen Wohlstandes, hier zeigt sich der Grundsatz des Beitragsprinzips. Für Taylor bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext, dass beide Prinzipien bei der Beurteilung distributiver Gerechtigkeit berücksichtigt werden. Taylor lehnt entsprechend die Fixierung der Gesellschaft auf das reine Beitragsprinzip ab, weist gleichwohl darauf hin, dass der völlige Verzicht auf dieses Prinzip eine Umgestaltung menschlichen Wollens voraussetzen würde, dessen Ziel nicht mehr der individuelle Wohlstand sondern beispielsweise das Streben nach gesellschaftlicher Ehrung oder Anerkennung sein müsse (vgl. Taylor 1988: S. 180f).

Beiden vorgestellten Auffassungen ist gemeinsam, dass sie Ungleichverteilungen moralisch rechtfertigen können, unabhängig davon, ob diese mit Vorteilen für andere verbunden sind oder nicht. Hiervon unterscheidet sich der von Rawls vertretene Ansatz der prudentiellen Rechtfertigung wie er im Differenzprinzip zum Tragen kommt. Ungleichverteilungen sind nur dann gerechtfertigt, „[…] wenn alle Beteiligten ihnen im Namen ihres wohlverstandenen Eigeninteresses zustimmen können. Denn eine Person hat genau dann einen prudentiellen Grund, […] wenn dies für sie selbst vorteilhaft ist.“ Bei einer genügend hohen Steigerung der Produktivität können in einem solchen System theoretisch alle Beteiligten profitieren (Hinsch 1998: S 40).

Es soll an dieser Stelle nicht weiter auf Rawls Position eingegangen werden, da dies im Rahmen der noch folgenden Auseinandersetzung mit dessen Gedanken und Überzeugungen noch intensiv erfolgen wird.

[...]

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Zum Spannungsverhältnis sozialer Gerechtigkeit und Freiheit
Hochschule
Universität Potsdam  (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät)
Note
1,8
Autor
Jahr
2011
Seiten
90
Katalognummer
V214167
ISBN (eBook)
9783656427858
ISBN (Buch)
9783656438731
Dateigröße
772 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
spannungsverhältnis, gerechtigkeit, freiheit
Arbeit zitieren
Wolfram Möller (Autor:in), 2011, Zum Spannungsverhältnis sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214167

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