Thematik dieser wissenschaftliche Arbeit ist die Frage, in wieweit sich Bindungsstörungen auf die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes auswirken. Neben diesem Arbeitsschwerpunkt wird analysiert, in welcher Art und Weise bestimmte Bindungsmuster Schutz- oder Risikofaktoren für die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes darstellen.
Dieser Fragestellung widmet sich jedoch erst der zweite Teil der Arbeit, da zunächst die Bindungstheorie ausführlich und unter Bezugnahme auf verschiedene Aspekte elaboriert werden muss, da die Auswirkungen einer Bindungsstörung auf die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes nur dann nachvollziehbar sind, wenn vorher ergründet wurde, was genau unter einer Bindung und deren Konzept zu verstehen ist und wie spezifische Bindungsmuster die kindliche Entwicklung beeinflussen.
Die Bindungstheorie beantwortet stark zusammengefasst die Frage, wie ein Kind zu einem ausgeglichen und selbstsicheren Menschen heranwächst.Sie besagt, dass eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson die Basis für das Kind repräsentiert, von der aus es die Welt erkunden und sich entwickeln kann. Dieser Umstand macht deutlich, wie wichtig es für die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes ist, eine vollständige (sichere) Bindung zu mindestens einer Bezugsperson entwickeln zu können. Aus Sicht der Verfasserin dieser Arbeit ist es demnach essenziell, sich als angehende Lehrperson, welche Kinder mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung unterrichten wird, mit dem Konzept der Bindung, spezifischen Bindungsmustern und deren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung zu befassen und auseinanderzusetzen – auch die Lehrperson selbst kann eine Bindungsperson für das Kind darstellen. Diese Arbeit unternimmt den Versuch herausstellen, wie stark Bindung und spezifische Bindungsmuster die kindliche Entwicklung beeinflussen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Die Bindungstheorie
1.1 Phasen der Bindungsforschung
1.2 Grundannahmen der Bindungstheorie
1.3 Begriffsdefinition „Bindung“
1.4 Verhaltenssysteme von Bindung
1.4.1 Funktion und Wesen des Bindungsverhaltens
1.4.2 Funktion und Wesen des Explorationsverhaltens
1.5 Entwicklung einer Bindung
1.5.1 Haupt- und Nebenbindungsfiguren
1.5.2 Entwicklung der Organisation von Bindungsverhalten
2 Innere Arbeitsmodelle von Bindung
2.1 Innere Arbeitsmodelle aus entwicklungspsychologischer und bindungstheoretischer Sicht – eine Einführung
2.2 Entwicklung innerer Arbeitsmodelle
2.3 Aufbau innerer Arbeitsmodelle
2.4 Eigenschaften innerer Arbeitsmodelle
2.5 Differentielle Beschreibung innerer Arbeitsmodelle von Bindung
2.5.1 Beschreibung der „Fremden Situation “
2.5.2 Das sichere Modell
2.5.3 Das unsicher-vermeidende Modell
2.5.4 Das unsicher-ambivalente Modell
2.5.5 Das desorganisierte Modell
2.6 Feinfühliges Pflegeverhalten der Bindungsperson als Einflussfaktor auf das Bindungsmodell des Kindes
2.7 Stabilität innerer Arbeitsmodelle von Bindung
3 Bindung als Schutz – bzw. Risikofaktor für die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes
3.1 Das Schutzfaktorenkonzept
3.1.1 spezifische Schutzfaktoren
3.1.2 Sichere Bindung als Schutzfaktor und Stärkung der emotionalen und sozialen Kompetenz
3.2 Das Risikofaktorenkonzept
3.2.1 spezifische Risikofaktoren
3.2.2 unsichere Bindung als Risikofaktor für die emotionale und soziale Entwicklung
4 Bindungsstörungen und deren Auswirkungen auf die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes
4.1 Begriffsdefinition und Klassifikation von „Bindungsstörung“
4.2 Begriffsdefinition und Klassifikation von „Verhaltensstörung“
4.3 spezielle Verhaltensstörungen
4.3.1 Schulangst – Begriffsbestimmung, Störungsbild und bindungstheoretische Überlegungen
4.3.2 Aggression – Definition, Störungsbild und bindungstheoretische Überlegungen
Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
Diese wissenschaftliche Arbeit setzt sich mit der Frage auseinander, in wieweit sich Bindungsstörungen auf die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes auswirken. Neben diesem Arbeitsschwerpunkt wird analysiert, in welcher Art und Weise bestimmte Bindungsmuster Schutz- oder Risikofaktoren für die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes darstellen. Dieser Fragestellung widmet sich jedoch erst der zweite Teil der Arbeit, da zunächst die Bindungstheorie ausführlich und unter Bezugnahme auf verschiedene Aspekte elaboriert werden muss, da die Auswirkungen einer Bindungsstörung auf die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes nur dann nachvollziehbar sind, wenn vorher ergründet wurde, was genau unter einer Bindung und deren Konzept zu verstehen ist und wie spezifische Bindungsmuster die kindliche Entwicklung beeinflussen.
Auf Grund dessen stellt die Bindungstheorie den ersten Teil dieser Arbeit dar; die Bindungstheorie beantwortet stark zusammengefasst die Frage, wie ein Kind zu einem ausgeglichen und selbstsicheren Menschen heranwächst. Diesem Thema widmet sich konkret das erste Kapitel, welches sich überwiegend mit den Auffassungen John Bowlbys, dem Begründer der Bindungstheorie, befasst. Charakteristisch für die Bindungstheorie ist es, dass einerseits viele Grundannahmen durch eindeutige empirische Untersuchungen konstatiert sind, das die Bindungstheorie aber andererseits eine „lebendige“ Theorie ist, d.h. deren Inhalte und Konzepte sich durch empirische Forschungsarbeit weiterentwickeln und konkretisieren lassen. Es ist jedoch anzumerken, dass dies vorwiegend nur die Bindungsforschung betrifft, die eigentliche Bindungstheorie an sich wurde jedoch kaum weiterentwickelt. Dies beweist, welch herausragende Arbeit John Bowlby hinsichtlich der Entwicklung der Bindungstheorie und den Anfängen der Bindungsforschung geleistet hat und begründet auch, warum sich ein Großteil des ersten Kapitels auf die Aussagen John Bowlbys stützt und diese untersucht.
Die Bindungstheorie besagt, dass eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson die Basis für das Kind repräsentiert, von der aus es die Welt erkunden und sich entwickeln kann. Dieser Umstand macht deutlich, wie wichtig es für die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes ist, eine vollständige (sichere) Bindung zu mindestens einer Bezugsperson entwickeln zu können. Aus Sicht der Verfasserin dieser Arbeit ist es demnach essenziell, sich als angehende Lehrperson, welche Kinder mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung unterrichten wird, mit dem Konzept der Bindung, spezifischen Bindungsmustern und deren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung zu befassen und auseinanderzusetzen – auch die Lehrperson selbst kann eine Bindungsperson für das Kind darstellen. Im Verlauf der Arbeit wird sich herausstellen, wie stark Bindung und spezifische Bindungsmuster die kindliche Entwicklung beeinflussen.
Verschiedenen Gesichtspunkten und Arten von Bindungsmustern, welche auch innere Arbeitsmodelle von Bindung oder Bindungsmodell genannt werden, widmet sich ausführlich das zweite Kapitel dieser Arbeit. Spezifische Bindungsmuster stellen einen Risikofaktor für die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes dar oder können durchaus auch Bindungsstörungen hervorrufen. Aus diesem Grund nehmen die vier verschiedenen inneren Arbeitsmodelle von Bindung in dieser Arbeit einen hohen Stellenwert ein, um den eben beschriebenen Zusammenhang ausführlich in Kapitel 3 und 4 darstellen zu können.
In Kapitel 3 wird der eben genannte Themenkomplex noch einmal umfassend aufgegriffen und Bindung zunächst als Schutz – und anschließend als Risikofaktor hinsichtlich der emotionalen und sozialen Entwicklung eines Kindes betrachtet. Speziell werden bestimmte Bindungsmuster bezüglich der Schutz- oder Risikofaktoren eingeordnet und deren Auswirkungen auf den eben aufgeführten Entwicklungsbereich des Kindes deutlich gemacht. Misslingt es dem Kind aus verschiedenen Gründen, eine (sichere) Bindung zu mindestens einer Bezugsperson aufzubauen, so können sich negative Emotionen wie Wut, Angst oder Ärger festigen und das Kind lebenslang belasten bzw. eine Bindungsstörung bewirken. Den spezifischen Auswirkungen von Bindungsstörungen auf die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes widmet sich das vierte Kapitel dieser Arbeit und beantwortet die zu Beginn der Einleitung genannte Fragestellung. Dieses Kapitel ist besonders relevant für angehende Lehrpersonen, welche Kinder mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung unterrichten und fördern werden, da aufgezeigt wird, wie und in welcher Weise Verhaltensstörungen und Bindungsstörungen miteinander korrelieren. Die Kenntnis über diesen Zusammenhang hilft der Lehrperson, auffällige Verhaltensweisen des Kindes richtig zu interpretieren, zu verstehen und angemessen auf diese reagieren zu können.
1 Die Bindungstheorie
1.1 Phasen der Bindungsforschung
Die Inhalte der Bindungstheorie basieren auf den Ergebnissen der Bindungsforschung. Aus diesem Grund ist zunächst ein Überblick über die drei wesentlichen Phasen der Bindungsforschung notwendig, um anschließend die Bindungstheorie und deren Inhalte umfänglich darstellen und in einen Gesamtzusammenhang einordnen zu können.
Mary Main, eine US-amerikanische Entwicklungspsychologin und Vertreterin der Bindungstheorie, erörtert in einem Beitrag in „Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung“ die drei wesentlichen Phasen der Bindungsforschung. Dabei ordnet sie die erste Phase John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, zu:
„[...] aufbauend auf der Evolutionstheorie und auf [Beobachtungen, A.K.] bei subhumanen Primaten [verwies Bowlby, A.K.] auf die Funktion des Bindungsverhaltenssystems, welches primär und unmittelbar die Sicherheit des Kindes in der Umwelt gewährleistete, an die der Mensch evolutionär angepasst war, und welches noch immer dafür sorgt, dass das Kind die physische und psychische Verfügbarkeit der Bezugsperson beständig im Sinne eines Regelkreises überprüft.“ (Bolwby 1969, zit. n. Main 2009, S.121)
Grundlegend geht John Bowlby von einem instinktiven Mechanismus aus, der für die Gewährleistung von Schutz und Sicherheit des Kindes sorgt. (vgl. Ebd., S.121)
„In [Bowlbys Theorie, A.K.] werden Verhaltensmuster, welche eine zunehmende Nähe zwischen Kind und Bezugsperson zur Folge haben (wie z.B. Weinen, Rufen, Nachfolgen, Anklammern und Protest bei Trennung) der Aktivität eines komplexen Steuerungssystems, des Bindungsverhaltenssystems zugeschrieben, welches zwar instinktiv gesteuert, aber durch Umweltfaktoren beeinflusst wird.“ (BOWLBY 1969, zit. n. MAIN 2009, S.121)
Sobald das Kind eine Bindung zu einer Person aufgebaut hat, überprüft es kontinuierlich den Ort des Aufenthalts dieser Person – seiner Bezugsperson – auch unter belastungsfreien Voraussetzungen. Eine bedrohliche Situation führt dann zur Aktivierung des Bindungssystems, was zur Folge hat, dass das Kind die Nähe (körperlich und/oder visuell) zur Bezugsperson sucht. (vgl. Main 2009, S.121) Die Begrifflichkeiten Bindung und Bindungssystem sollen an dieser Stelle nur genannt und in Punkt 1.3. dieser Arbeit ausführlicher elaboriert werden.
Nachdem in der ersten Phase der Bindungsforschung das Konzept und die Entwicklung von Bindung überwiegend durch Bowlby konzipiert wurde, konzentrierte sich die zweite Phase „auf die Entdeckung individueller Unterschiede in der Verhaltensreaktion einjähriger Kinder auf zwei kurze Trennungen der Bezugsperson und der anschließenden Wiedervereinigung in einer dem Kind nicht vertrauten Situation [...].“ (Ainsworth et al. 1978, zit. n. Main 2009, S.121) Dieser eben beschriebene Sachverhalt ist die sogenannte „Fremde Situation“, mit deren Hilfe verschiedene Bindungsqualitäten klassifiziert werden können. Entwickelt wurde dieses Setting zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster von Mary Ainsworth, welche damit wesentlich zur Bindungsforschung und Spezifizierung der Bindungstheorie beitrug, indem sie, basierend auf den Verhaltensweisen der Kinder in der „Fremden Situation“, auf spezifische Bindungsmuster schloss. In dieser zweiten Phase der Bindungsforschung wurden „für jeder der drei traditionellen „Bindungsmuster“ Vorläufer in der [Bezugsperson-Kind-Interaktion, A.K.] gesucht, wobei man wiederholt herausfand, daß sicher gebundene Kinder das höchste Ausmaß an feinfühligem und responsivem Elternverhalten erlebt hatten.“ (Main 2009, S.123) Kapitel 2 dieser Arbeit widmet sich ausführlich der Beschreibung dieser „Fremden Situation“ sowie der verschiedenen kindlichen Bindungsqualitäten.
Die dritte Phase der Bindungsforschung spezifiziert Main als „[eine, A.K.] „realistische“ Philosophie der Klassifikation, die Untersuchung der Prozesse in der Repräsentation und die Entdeckung der desorganisierten/desorientierten Bindungsklassifikation.“ (Main 2009, S.125) In dieser Phase wurden Zusammenhänge zwischen der inneren Repräsentation von Bindung und der frühen Bindung zur Hauptbezugsperson des Kindes entdeckt, sowie der Zusammenhang zwischen dem eigenen Bindungsverhalten der Hauptbezugspersonen und dem Verhalten des Kindes in der „Fremden Situation“. (vgl. Main 2009, S.125)
„Obwohl die jüngste Phase der Bindungsforschung meist mit dem wachsenden Interesse an Prozessen der Repräsentation in Verbindung gebracht wird, könnte sie auch im Lichte, erstens, einer Orientierung zu einer „realistischen Klassifikationsphilosophie“ betrachtet werden [...] und zweitens, der Verwendung neuer semi-dialektischer Methoden und Hypothesenentwicklung und Überprüfung gesehen werden.“ (Ebd., S.125)
In dieser Phase der Bindungsforschung wurde auch das vierte Bindungsmuster entdeckt – das desorganisierte Bindungsmodell – und durch Studien, welche im Rahmen von für das Kind natürlichen Situationen und Umgebungen durchgeführt wurden, erforscht. Was genau unter Prozessen der Repräsentation im Rahmen der Bindungstheorie und unter einem desorganisiertem Bindungsverhalten zu verstehen ist, wird ebenfalls in Kapitel 2 abgehandelt.
Bezüglich der Bindungsforschung ist zusammenfassend festzustellen, dass diese auf Grundlage der Bindungstheorie klären will,
„welche Auswirkungen Bindungserfahrungen mit den Eltern auf der Art der internen mentalen Organisation von Gefühlen und Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Motiven, Kommunikation und Planen im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen haben und wie unterschiedlich internale Arbeitsmodelle künftige Anpassung in menschlichen Beziehungen beeinflussen. Dieser Aspekt ist essentiell für die Bindungstheorie.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.413)
Nach diesem knappen Abriss der drei wesentlichen Phasen der Bindungsforschung, soll nun die eigentliche Bindungstheorie und deren Inhalte wiedergegeben und detailliert dargestellt werden.
1.2 Grundannahmen der Bindungstheorie
Gründer der Bindungstheorie ist wie bereits erwähnt der englische Kinderpsychiater John Bowlby, dessen Werke und Erkenntnisse essenziell im Bereich der Entwicklungspsychologie sind. Die Bindungstheorie wurde von Bowlby primär als klinische Theorie geschaffen, um „die vielen Formen von emotionalen und Persönlichkeitsstörungen, einschließlich Angst, Wut, Depression und emotionale Entfremdung, die durch ungewollte Trennung und Verlust ausgelöst werden, zu erklären [...]“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.30)
Im Gegensatz zum psychoanalytischen Ansatz, welcher das Bedürfnis des Säuglings nach Nahrung als Auslöser zum Aufbau einer Bindung postuliert, geht Bowlby davon aus, dass die emotionale Bindung des Kindes zur Hauptbezugsperson eine instinktive Basis hat. (vgl. Bolwby 1953, zit. n. Holmes 2006, S.80f.) „Die Entdeckung der Ethologie in den 1950ern verschaffte ihm die sichere wissenschaftliche Basis, von der aus er seine konzeptuellen Vorstöße machen konnte:
„Die Zeit ist jetzt schon reif für eine Vereinigung psychoanalytischer Konzepte mit
denen der Ethologie, und um den reichhaltigen Forschungsbereich zu verfolgen,
den diese Vereinigung bietet.“ (Bolwby 1953, zit. n. Holmes 2006, S.81)
Bowlby formulierte in seiner Schrift „Das Glück und die Trauer“ fünf Grundannahmen der Bindungstheorie:
„1. Für die seelische Gesundheit des sich entwickelten Kindes ist kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge von herausragender Bedeutung.
2. Es besteht die biologische Notwendigkeit, mindestens eine Bindung aufzubauen,
deren Funktion es ist, Sicherheit zu geben und gegen Stress zu schützen. Eine
Bindung wird zu einer erwachsenen Person aufgebaut, die als stärker und weiser
empfunden wird, so daß sie Schutz und Versorgung gewährleisten kann. Das
Verhaltenssystem, dass der Bindung dient, existiert gleichrangig und nicht etwa
nachgeordnet mit den Verhaltenssystemen, die der Ernährung, der Sexualität und
der Aggression dienen.
3. Eine Bindungsbeziehung unterscheidet sich von anderen Beziehungen besonders
darin, dass bei Angst das Bindungsverhaltenssystem aktiviert und die Nähe der
Bindungsperson aufgesucht wird, wobei Erkundungsverhalten aufhört (das
Explorationsverhaltenssystem wird deaktiviert. Anderseits hört bei Wohlbefinden
die Aktivität des Bindungsverhaltenssystems und Erkundungen sowie Spiel setzen
wieder ein.
4. Individuelle Unterschiede in Qualitäten von Bindungen kann man an dem Ausmaß unterscheiden, in dem sie Sicherheit vermitteln.
5. Mit Hilfe der kognitiven Psychologie erklärt die Bindungstheorie, wie früh
erlebte Bindungserfahrungen geistig verarbeitet und zu inneren Modellvorstellungen(Arbeitsmodellen) von sich und anderen werden.“
(Bowlby 1979/80, Rutter & O'Connor 1999, zit. n. Grossmann/Grossmann 2004, S.67f.)
Die Bindungstheorie bietet demnach ein Konzept für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen als Folge seiner sozialen Erfahrung. Die Selbstwahrnehmung des eigenen individuellen Handelns entwickelt sich primär aus dem Zusammensein mit den Bindungspersonen, d.h. mit den Eltern, Adoptiv- oder Pflegeeltern und anderen, dem Kind nahestehenden Personen.[1]
In ihrem Werk „Bindung – Das Gefüge psychischer Sicherheit“ beschreiben Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann die Bindungstheorie als eine Theorie, die sich „mit der emotionalen Entwicklung des Menschen, mit seinen lebensnotwendigen soziokulturellen Erfahrungen und vor allem mit den emotionalen Folgen, die sich aus unangemessenen Bindungserfahrungen ergeben können“, befasst. (Grossmann/Grossmann 2004, S.30) Im zweiten Teil dieser Arbeit werden genau diese emotionalen Folgen, zurückzuführen auf negative Bindungserfahrungen, umfangreich betrachtet.
In der Bindungstheorie selbst lassen sich vier Betrachtungsebenen unterscheiden: die evolutionsbiologische, die psychologische, die ontogenetische und die klinische Ebene. Im Hinblick auf die Evolutionsbiologie wird der Mensch mit der Fähigkeit geboren, eine Bindung zu einer anderen Person aufbauen und stabilisieren zu können. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.29) „Psychologisch, in der wirklichen Erfahrung jedes einzelnen Menschen, können die individuellen Qualitäten von Bindung des Kindes an seine Eltern im ersten Lebensjahr bereits sehr verschieden sein.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.29) Diese Unterschiede bezüglich der kindlichen Bindungsqualitäten wirken sich wiederum auf den weiteren Lebensverlauf, auf die Ontogenese des Kindes aus. In diesem Zusammenhang betrachtet die Bindungstheorie „die Art individueller Verinnerlichung unterschiedlicher Bindungserfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Organisation der Gefühle, des Verhaltens und der Ziele einer Person.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.29) Die klinische Sicht der Bindungstheorie führt unter anderem zur Betrachtung von Fehlentwicklungen während der Entwicklung von Bindung und Bindungsverhalten. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.29)
Grossmann und Grossmann stellen konkrete Kriterien auf, anhand derer das Bestehen einer Bindung überprüft werden kann:
1. Besonders in fremden Umgebungen und Situationen, aber auch im alltäglichen
Leben stellt die Bezugsperson für das Kind die „sichere Basis“ dar. Situationen
der Angst kann das Kind mit Hilfe der Bindungsperson überwinden, wenn diese
auf das Nähe-Gesuch des Kindes der Situation angemessen reagiert.
2. Durch die sichere Bindung zur Bezugsperson ist es dem Kind möglich, seine
Umwelt zu erkunden. Das Kind vergewissert sich bei der Exploration seiner
Umgebung ständig, wo sich seine Bindungsperson aufhält; es vergewissert sich
seiner „sicheren Basis“.
3. In unvertrauten Umgebungen und Situationen lehnt das Kind eine Trennung
von der Bindungsperson ab und protestiert ggf. gegen diese. Tritt die Trennung
trotzdem ein, sehnt sich das Kind nach der Bezugsperson und lässt sich bei
Wiedervereinigung gut von ihr beruhigen.
4. Das Kind wird eifersüchtig, wenn die Bindungsperson Sympathie für ein anderes
Kind zeigt. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.219)
„5. KEINE besteht wahrscheinlich dann, wenn das Kind keine Bevorzugung dieser
Person bei Belastung erkennen läßt, sich wenig um ihren Verbleib kümmert, kein
Trennungsleid oder Vermissen zeigt und keine Erleichterung und keinen
Sicherheitsgewinn aus ihrer Gegenwart zieht.“
(Grossmann/Grossmann 2004, S.219)
1.3 Begriffsdefinition „Bindung“
Die Bindung zwischen zwei Personen ist als imaginäres Band zu verstehen, „das in den Gefühlen verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet.“ (Ainsworth 1979, zit. n. Grossmann/Grossmann 2004, S.68) Eine Person bindet sich an eine andere Person in der Hoffnung, dass diese ihm Schutz und Fürsorge bieten kann – die Bindung zu einer anderen Person kann demnach als Gefüge psychischer Sicherheit beschrieben werden. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.68f.) Für die sich anschließende detaillierte Beschreibung ausgewählter Aspekte der Bindungstheorie ist es hilfreich, zunächst den Begriff „Bindung“, aber auch die Begriffe „Verhaltenssystem von Bindung“ und „Bindungsverhalten“ klarer zu definieren, da sie ein eng miteinander verbundenes Begriffskonstrukt bilden. Letztere werden jedoch ausführlicher in Punkt 1.5. elaboriert und im Gesamtzusammenhang dargestellt.
„ Bindung ist ein allgemeiner Begriff, der sich auf den Zustand und die Qualität der individuellen Bindungen bezieht.“ (Holmes 2006, S.88) Unter einer „Bindung“ ist laut Grossmann und Grossmann „die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen, [zu verstehen, A.K.]. Sie ist in den Emotionen verankert und verbindet das Individuum mit anderen, besonderen Personen über Raum und Zeit hinweg [...]“. (Grossmann/Grossmann 2004, S.29) Zu unterscheiden sind sichere und unsichere Bindungen. Letztere lassen sich abermals in drei Bindungsqualitäten unterteilen: die unsicher-vermeidende, die unsicher-ambivalente und die desorganisierte Bindungsqualität.
Durch die Psychodynamik des Begriffs „Bindung“ spielen neben der Theorie auch bindungsrelevante Erfahrungen bei der Begriffsbestimmung eine Rolle. An eine Person sicher gebunden zu sein heißt, sich geborgen und beschützt zu fühlen. (vgl. Holmes 2006, S.88) „Im Gegensatz dazu könnte eine unsicher gebundene Person eine Mischung von Gefühlen gegenüber ihrer Bindungsfigur hegen: intensive Liebe und Abhängigkeit,Angst vor Ablehnung, Reizbarkeit und Wachsamkeit.“ (Holmes 2006, S.88) Ein spezifisches Modell von Bindung ist demnach auch immer mit entsprechenden Gefühlen der beteiligten Personen verbunden. Dies impliziert, dass ein Zusammenhang zwischen der emotionalen Entwicklung des Kindes und seinem spezifischen Bindungsmuster besteht.
Stellt ein Kind Nähe zu seiner Bezugsperson her bzw. erhält es diese Nähe aufrecht, so kennzeichnet dieses Nähe-Gesuch das Bindungsverhalten des Kindes, welches durch eine (drohende) Trennung von der Bezugsperson ausgelöst wird. (vgl. Holmes 2006, S.88) „Es wird beendet oder gelindert durch Nähe, die, abhängig von der Art der Bedrohung, von Sichtkontakt über körperliche Nähe und besänftigende Worte ohne Berührungen bis zu engen Umarmungen und Liebkosungen reichen kann.“ (Holmes 2006, S.88)
„Bindung und Bindungsverhalten beruhen auf einem Verhaltenssystem der Bindung, einer Blaupause oder ein Modell der Welt, in der das Selbst und wichtige andere Menschen sowie ihre Beziehungen untereinander repräsentiert sind, und das das spezielle Bindungsmuster eines Individuums verschlüsselt.“ (Holmes 2006, S.88) Das Bindungsverhalten (vgl. Punkt 1.4.) wiederum unterliegt einer inneren Repräsentation von Bindung – inneren Arbeitsmodellen von Bindung - , welche in Kapitel 2 ausführlich und differenziert erläutert werden. Nachdem nun der Begriff „Bindung“ definiert wurde, widmet sich das nachfolgende Kapitel der Begriffsbestimmung und Charakterisierung von Verhaltenssystemen von Bindung.
1.4 Verhaltenssysteme von Bindung
Die Bindung zwischen Kind und Bindungsfigur entsteht durch einen komplexen Prozess, an welchem verschiedenartige Verhaltenssysteme beteiligt sind. Bowlby entwickelte in seiner Bindungstheorie eben jenes Konzept der Verhaltenssysteme. Er vermeidet psychoanalytische Begriffe wie „Triebe“, sondern setzt an die Stelle eines Triebsystems, welches psychische Energien regelt, das Konzept von Verhaltenssystemen, welche einen Menschen steuern und regulieren. Die Verhaltenssysteme steuern den Menschen über Informationen, welche sowohl aus der Umwelt des Menschen, als auch von ihm selbst stammen. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.36)
„Verhaltenssysteme haben ihren Ursprung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, in deren Verlauf sie einen bestimmten Überlebenswert gewonnen haben („evolutionary adaptedness“).“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.37) Allerdings kann die Ausbildung der Verhaltenssysteme in der Ontogenese eines Menschen höchst unterschiedlich sein.
Neben dem Verhaltenssystem von Bindung, ist auch das Verhaltenssystem der Exploration von bindungstheoretischer Relevanz. „Die Verhaltenssysteme von Bindung und Exploration werden als getrennte, jedoch integrale und sich ergänzende Systeme betrachtet, weil beide in einem weiteren verhaltensbiologischen und ontogenetischen Rahmen für die Anpassung an bestimmte Lebensgegebenheiten zusammenwirken.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.77) Das Explorationsverhalten ist aktiv, wenn das Bindungsverhalten des Kindes inaktiv ist. Zeigt das Kind kein Bindungsverhalten, so ist dies ein Zeichen dafür, dass es sich sicher fühlt und in der Lage ist, seine Umgebung zu erkunden. Fühlt sich das Kind jedoch unsicher und stuft die Nähe zur Bindungsfigur selbst als unsicher ein, so wird das Explorationsverhalten inaktiv und Bindungsverhalten wird gezeigt. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.77) „Das Zusammenspiel von Bindung und Exploration, Kommunikation und mentalen Erkunden zeigt sich in allen Situationen, die Neuorientierung und Anpassung verlangen, oder es versagt, wenn die bindungspsychologischen Voraussetzungen unsicher sind.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.77)
1.4.1 Funktion und Wesen des Bindungsverhaltens
Das vorhersehbare Ziel einer Bindung ist die Herstellung der Nähe zwischen Kind und Bindungsfigur. (vgl. Bowlby 2006, S.177) „Die bemutternde Person wird durch ihr fürsorgliches Verhalten zur Bindungsperson, d.h. der Säugling wird zunehmend sein Bindungsverhalten bevorzugt auf diese Person richten.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.70)
Bowlby unterscheidet zwischen zielkorrigierten und nicht zielkorrigierten Organisationsweisen von Verhaltenssystemen. Eine zielkorrigierte Organisationsweise meint, dass das Kind die Interessen und Motive der Bindungsperson beachtet, im Gegensatz zur frühkindlichen Phase. Auch nicht zielkorrigierte Verhaltenssysteme können die Nähe der Bindungsfigur hervorrufen. Ein Beispiel für solch ein Verhaltenssystem ist das Schreien eines Babys. Wenn das Baby in Hörweite seiner reaktionsbereiten Bindungsfigur schreit, dann ist das vorhersehbare Ergebnis, dass die Bindungsfigur ihre Aufmerksamkeit dem Baby widmet und zu ihm kommt. Zielkorrigiertes Verhalten zeigt sich zunehmend nach dem achten Lebensmonat und nahezu vollständig entwickelt mit dem ersten Lebensjahr, wenn das Kleinkind in der Lage ist, sich fortzubewegen. Die verschiedenen Verhaltensweisen des Bindungsverhaltens werden zunehmend komplexer, da das Kind nun in der Lage ist, seiner Bindungsfigur zu folgen, wenn sie sich von ihm entfernt hat. (vgl. Bowlby 2006, S.243f.)
Das Bindungsverhalten ist inaktiv, solange sich die Bindungsfigur in Sichtweite oder Kontaktnähe befindet. Ändert sich dieser Zustand, aktiviert das Kind sein Bindungsverhalten und es erfolgt „das Sich-Annähern, mit entsprechender Zielkorrektur, bis das Kind sich wieder in Sichtweite oder Kontaktnähe der [Bindungsfigur, A.K.] befindet, worauf das System beendet wird.“ (Bowlby 2006, S.244) „Ein zielkorrigiertes Verhaltenssystem, wie Fortbewegung oder Rufen, wird nicht selten von einer anderen Form des Bindungsverhaltens abgelöst, wie der des Armausstreckens oder des Handergreifens, deren voraussehbares Ergebnis das ist, dass Kind und [Bindungsfigur, A.K.] in physischen Kontakt kommen.“ (Bowlby 2006, S.244)
Zu differenzieren sind Bindungsverhalten und die dauerhaft bestehende Bindung zu einer anderen Person. „Bindungsverhalten wird nur unter Belastung gezeigt, aber eine Bindung besteht kontinuierlich über Raum und Zeit hinweg.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.70) Nur wenn das Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist, wird auch Bindungsverhalten gezeigt. Ist dieses System nicht aktiviert, lässt sich kein Bindungsverhalten beobachten, trotzdem besteht aber eine Bindung zwischen diesen beiden Menschen.
„Um eine bestehende Bindung beobachten zu können, muß man auf eine unfreiwillige Trennung oder Gefährdung der Bindungsbeziehung warten oder die gezielt provozieren. Die gezielte Provokation einer unfreiwilligen Trennung dient aus diesem Grund auch als häufigster Test zur Prüfung von Bindung in jedem Alter.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.70)
Laut Bowlby kann erst von dem Zeitpunkt an von Bindungsverhalten gesprochen werden, wenn sich das Kind „so verhält, dass die Nähe zu [seiner Bindungsfigur, A.K.] aufrechterhalten bleibt.“ (Bowlby 2006, S.196)
Er nennt weiterhin verschiedene Bedingungen, die das Bindungsverhalten eines Kindes aktivieren können und gliedert diese in drei Gruppen: zuerst spielt der (Gefühls-)Zustand des Kindes eine Rolle. Ist das Kind müde, hungrig, krank, verspürt es Schmerzen oder Kälte, dann sind dies Zustände, die das Bindungsverhalten des Kindes aktivieren. Auch der Aufenthaltsort bzw. das Verhalten der Bindungsfigur können dazu beitragen, dass das Bindungsverhalten des Kindes aktiv wird, indem sie abwesend ist, weggeht oder das Nähe-Gesuch des Kindes abwehrt. Aber auch Umweltbedingungen, wie das Auftreten beunruhigender Ereignisse oder die Abwehrhaltungen anderer Erwachsener oder Kinder können zur Aktivierung des Bindungsverhaltens führen. Die Form und Intensität des Bindungsverhaltens variieren je nach Bedingung. Solange sich das Kind sicher fühlt, exploriert es, sobald jedoch in irgendeiner Form Gefahr droht, zieht es sich in die Nähe seiner Bindungsfigur zurück – das Bindungsverhaltenssystem wird aktiviert. (vgl. Bowlby 2006, S.250f.)
Zeigt ein Kind kein Bindungsverhalten in Situationen, in denen es dies prinzipiell zeigen sollte (das Kind ist müde, krank, hungrig oder hat sich verletzt, fühlt sich bedroht/angegriffen), so deutet dies daraufhin, dass die es in solch einer Situation betreuende Person „keine Bindungsperson für das Kind [ist, A.K.] oder es hat zu oft leidvoll erfahren, dass seine Bindungsperson es nicht beruhigen wird, d.h. daß sie ihre Schutzfunktion zu selten oder gar nicht ausübt.“ (Grossmann/Grossmann 2004, S.71) Das dies auch Zeichen einer unsicheren Bindungsqualität sein kann, wird in Kapitel 2 dieser Arbeit deutlich.
„Die Zunahme im Wahrnehmungsvermögen eines Kindes und in seiner Fähigkeit, Geschehnisse in seiner Umgebung zu verstehen, führt jedoch zu einer Veränderung bei den Umständen, unter den Bindungsverhalten ausgelöst wird.“ (Bowlby 2006, S.200) Die Tatsache, dass das Kind mit einem Alter von ca. einem Jahr den bevorstehenden Weggang der Bindungsfigur (z.B. wenn es von dieser zum Schlafen in sein Bett gelegt wird) erfasst und gegen diese protestiert, ist als eine solche Veränderung zu nennen. (vgl. Bowlby 2006, S.201) Erst ab dem dritten Lebensjahr sind Kinder dazu fähig, die zeitlich begrenzte Abwesenheit der Bindungsfigur zu akzeptieren und sich anderweitig zu beschäftigen bzw. „sich in einer fremden Umgebung mit untergeordneten Bindungsfiguren sicher zu fühlen [...].“ (Bowlby 2006, S.201
1.4.2 Funktion und Wesen des Explorationsverhaltens
Ein weiteres primäres Verhaltenssystem ist das Explorationsverhalten, was wie bereits beschrieben das Gegenstück zum Bindungsverhalten darstellt und weitgehend durch die Neugierde des Kindes angetrieben wird. „Die Neugier ist ein wesentliches Motivsystem von Lebewesen, die im Verlauf ihrer Entwicklung sehr viel lernen und auf dieser Grundlage unter sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen leben können. (Schölmerich/Lengning 2008, S.198) Axel Schölmerich und Anke Lengning unterscheiden zwischen zwei Formen des Explorationsverhaltens: die distale Exploration und die proximale Exploration. Unter distaler Exploration sind vor allem visuelle und auditive Aktivitäten des Kindes zu verstehen, welche aus einer bestimmten Entfernung, d.h. ohne direkten Kontakt mit dem bis zu diesem Zeitpunkt fremden Objekt ausgeführt werden. Die proximale Exploration hingegen ist gekennzeichnet durch taktile Handlungen des Kindes, d.h. dieses berührt und ertastet das fremde Objekt. Eine weitere wichtige Form der proximalen Exploration ist das Fragen über ein Objekt stellen. Diese Form kommt mit dem Spracherwerb des Kindes hinzu. (vgl. Schölmerich/Lengning 2008, S.200)
Betrachtet man nun das Explorationsverhalten im Zusammenhang mit der Bindungstheorie, so ist festzustellen, dass sich das Kind in den meisten Fällen auf eine kleine Exkursion begibt, wenn es sich sicher fühlt, sich der Nähe der Bindungsfigur gewiss ist und es die äußeren Umstände zulassen. Während der Erkundung ihrer Umgebung vergewissern sich Kinder immer der Nähe ihrer Bindungsfigur und kehren in regelmäßigen Abständen zu ihr zurück. (vgl. Bowlby 2006, S.205) „Diese zuversichtlichen Ausflüge hören abrupt auf, wenn eine von zwei Bedingungen eintritt: a) wenn ein Kind erschrocken oder verletzt ist, b) wenn sich die [Bindungsfigur, A.K.] entfernt.“ (Ainsworth 1967, zit. n. Bowlby 2006, S.205) In diesen Fällen wird das Bindungsverhalten des Kindes aktiviert und das Explorationsverhalten wird zur gleichen Zeit inaktiv. „Bei erhöhtem Sicherheitsbedarf wird das Explorationsverhalten eingestellt, bei niedrigem Sicherheitsbedarf kann das Kind frei explorieren.“ (Schölmerich/Lengning 2008, S.203) Die nachfolgende Abbildung visualisiert dieses Verhältnis zwischen Bindung und Exploration:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Verhältnis zwischen Bindung und Exploration
Zusammenfassend ist außerdem festzustellen, dass Kinder ihre Bindungsfigur „als Ausgangsbasis zur Exploration der Umgebung [benutzen, A.K.], bei Bedrohung oder auch nach Ablauf einiger Zeit suchen sie die Nähe der Bezugsperson.“ (Schölmerich/Lengning 2008, S.203) Bindungs- und Explorationsverhalten des Kindes sind wiederum abhängig von seinem individuellen Arbeitsmodell von Bindung (siehe zweites Kapitel).
Da die Entstehung einer Bindung und der Verhaltenssysteme von Bindung bisher nur angedeutet wurde, jedoch wichtig für das Verstehen der kindlichen Entwicklung und eventuellen Entwicklungsstörungen ist, widmet sich der nachfolgende Abschnitt diesem Themenkomplex.
1.5 Entwicklung einer Bindung
Wie bereits in Punkt 1.2. erläutert, nimmt Bowlby an, dass die emotionale Bindung des Kindes zur Hauptbezugsperson auf instinktive Ursprünge zurückzuführen ist. Jedoch wird der Mensch nicht mit einer bereits ausgeprägten Bindung zu einem anderem Individuum geboren, sondern diese muss sich zunächst erst entwickeln. Dies geschieht in der Regel im Verlauf des ersten Lebensjahres eines Kindes. (vgl. Grossmann/Grossmann 2004, S.69) Es sind verschiedene Phasen der Entwicklung einer Bindung zu unterscheiden. An dieser Stelle bezieht sich die Verfasserin dieser Arbeit speziell auf den Begründer der Bindungstheorie, John Bowlby, welcher als Begründer der Bindungstheorie die Phasen der Bindungsentwicklung ausführlich analysiert hat.
„Der Komplex an Verhaltenssystemen, die Bindung vermitteln, entsteht in einem gegebenen Kind, weil in der normalen Familienumwelt, in der die Mehrheit aller Kinder aufgezogen wird, diese Systeme in einer relativ stabilen Weise wachsen und sich entwickeln.“ (Bowlby 2006, S.256) Damit nimmt Bowlby Abstand von der Behauptung, ein Kind sei als „tabula rasa“ geboren; vielmehr geht er davon aus, dass das Kind mit einer Vielzahl von sofort aktivierbaren Verhaltenssystemen ausgestattet ist, d.h. das diese Systeme „durch Reize eines breiten Spektrums oder mehrerer breiten Spektren aktiviert, durch Reize andere breiter Spektren beendet und durch wieder andere Reize verstärkt oder geschwächt werden.“ (Bowlby 2006, S.256) Unter diesen Verhaltenssystemen befinden sich laut Bowlby auch jene Elemente, die zu der späteren Entwicklung von Bindung beitragen. Dazu zählt er z.B. primitive Systeme, welche sich bei Neugeborenen durch Schreien, Saugen, Greifen und später, mit ein paar Wochen durch Lächeln, Schwätzeln und nach ungefähr einem Jahr mit dem Erlernen des Laufens ausdrücken. Das erste Auftreten dieser eben beschriebenen Verhaltensweisen sind zunächst einfach strukturiert. (vgl. Bowlby 2006, S.256)
„Die Organisation einiger motorischer Muster ist noch nicht komplexer als die Organisation einer Erbkoordination, und die Reize, die sie aktivieren und beenden, werden nur in gröbster Weise unterschieden.“ (Bowlby 2006, S.256) Trotzdem sind von Beginn an Unterschiede in der Motorik zu verzeichnen,
„ebenso wie auch schon von Anfang an eine auffallende Tendenz dazu besteht, auf bestimmte Weise auf mehrere Reizarten zu reagieren, die gewöhnlich von einem Menschen ausgehen – die auditiven Reize einer menschlichen Stimme, die visuellen Reize eines menschlichen Gesichts und die taktilen und kinästhetischen Reize von Menschenarmen und -körpern.“ (Bowlby 2006, S.256)
[...]
[1] Die primäre Bezugsperson ist in den häufigsten Fällen die Mutter und/oder der Vater des Kindes, aber auch die Großmutter, ein älterer Bruder oder eine außenstehende, der Familie nicht-angehörige Person kann die Rolle der Bindungsfigur übernehmen. Aus diesem Grund wird der Begriff Bezugs-/ Bindungsperson, Bindungsfigur oder Pflegeperson anstelle der Begriffe „Mutter“ oder „Vater“ verwendet, da es sich bei diesen nicht zwingend um die primären Bezugspersonen eines Kindes handeln muss. Ursachen dafür können das Ableben oder die Trennung der Eltern sein, aber auch die Freigabe zur Adoption oder Vernachlässigung des Kindes, welches aus diesen Gründen folglich in einem Kinderheim oder einer Pflegefamilie aufwächst. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, dass auch John Bowlby diesen Standpunkt vertritt (vgl. 1.5.1.).
- Arbeit zitieren
- Kristin Alte (Autor:in), 2011, Bindungsstörungen und Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung: Zusammenhänge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214535