„Die Dreigroschenoper“ von Brecht und Weill. Verfremdungseffekte aufgrund des Verhältnisses von Musik und Text


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

35 Seiten, Note: 1.7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das epische Theater nach Brecht
2.1. Herkunft der Verfremdung
2.2. Ansprache des Publikums
2.3. Rollendistanz und Regietechniken
2.4. Bühnenbild
2.5. Die Musik

3. „Die Dreigroschenoper“
3.1. Inhalt der „Dreigroschenoper“
3.2. „Die Moritat vom Mackie Messer“
3.3. „Die Seeräuber-Jenny“

4. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Das Theater unserer Zeit hat bedeutende Veränderungen erfahren durch Brechts Arbeiten als Stückeschreiber, Regisseur und nicht zuletzt als Theoretiker. Notwendig muß sich der Theatermann von heute mit Brecht auseinandersetzen.“[1]

Der Grund, warum Brecht für die Theaterwelt bis heute eine immense Bedeutung hat, ist das epische Theater. Er forderte eine neue Form des Theaters zu „einem Zeitpunkt, da die wichtigsten Vorgänge unter Menschen nicht mehr so einfach dargestellt werden konnten, indem man die bewegenden Kräfte personifizierte oder die Personen unter unsichtbare, metaphysische Kräfte stellte“[2]. Die Welt war aufgrund von komplexeren Gesellschaftssystemen und Erneuerungen in den Wissenschaften derart vielschichtig geworden, dass man auch einzelne Aspekte nur verstehen konnte, wenn man sich der gesamten Situation bewusst war. Innerhalb literarischer Darstellungsformen ist nur die Epik in der Lage, umfassende Zusammenhänge zu erläutern. Deshalb revolutionierte Brecht das alte dramatische Theater, indem er Elemente der erzählenden Literatur übernahm und das epische Theater schuf; ein Begriff, der bis heute eng mit seinem Namen verknüpft ist.

Die zugrunde liegende Theatertheorie findet sich nicht in einem einzelnen Werk, sondern fügt sich aus vielen Äußerungen Brechts, insbesondere in seinen „Schriften zum Theater“[3], zusammen. Erst 1949 versuchte Brecht in seiner theoretischen Schrift „Kleines Organon für das Theater“[4] eine zusammenfassende Darstellung des epischen Theaters zu präsentieren. Um einen möglichst genauen Blick auf die grundsätzlichen Elemente werfen zu können, ist es aber unerlässlich, auch frühere Schriftstücke und Äußerungen Brechts zu berücksichtigen. Dieses bruchstückhafte Vorliegen seiner Theatertheorie liegt unter anderem daran, dass sie sich erst im Laufe der Zeit entwickelte. „In Wirklichkeit ist sie entstanden in und verbunden mit langjähriger Praxis. Die Stücke, auf denen sie beruht, sind in vielen deutschen, eines, ‚Die Dreigroschenoper‘, ist in fast allen Großstädten der Welt gelaufen.“[5] Nachdem zunächst zentrale Begriffe seiner Theorie, speziell jener der Verfremdung, vorgestellt wurden, wird im nächsten Teil eben dieses weltbekannte Stück Brechts unter ausgesuchten Aspekten analysiert, „Die Dreigroschenoper“. In Bezug auf den Begriff der Verfremdung lohnt es sich zunächst einen Blick auf die Herkunft desselben zu werfen, da sie das Verständnis der Theatertheorie Brechts an vielen Stellen erleichtert.

Die „Dreigroschenoper“ entstand in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Weill, der die eingängigen Melodien zu den von Brecht geschriebenen Texten der verschiedenen Lieder schuf. Sie wurde in vielen Teilen der Welt aufgeführt und einzelne Songs, wie beispielsweise „Die Moritat von Mackie Messer“, wurden vielerorts zu Kassenschlagern. Das Forschungsinteresse dieser Untersuchung liegt speziell auf dem Zusammenspiel von Musik und Sprache in den Liedern des Stückes. Die Frage, die sich stellt, ist, ob sie in einer wechselseitigen Beziehung ebenfalls einen Verfremdungseffekt hervorrufen. Da „Die Dreigroschenoper“ insgesamt 26 musikalische Passagen beinhaltet, wurden zwei Songs ausgesucht, die einer exemplarischen Analyse unterzogen werden. Diese sind „Die Moritat vom Mackie Messer“ und „Die Seeräuber-Jenny“. Eine ausführliche Bearbeitung beider ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Deshalb wird „Die Moritat vom Mackie Messer“ detailliert untersucht, während das andere Lied nur insofern analysiert werden soll, als dass ein Beleg dafür geliefert wird, dass Musik und Text in der „Dreigroschenoper“ nicht nur in einem einzigen Lied derart zusammenspielen, dass Verfremdungseffekte beim Publikum entstehen.

Die Forschungsliteratur zu Brecht und seinem epischen Theater ist zahlreich, intensive Beschäftigung mit dem Thema findet man vor allem bei Knopf, Lucchesi und Grimm. Auch zur „Dreigroschenoper“ gibt es etliche Untersuchungen. Allerdings ist diesbezüglich auffällig, dass sich die Musikwissenschaften kaum mit dem Stück Brechts auseinandergesetzt haben. Eine ausführliche musikwissenschaftliche Analyse ist nicht bekannt oder nur schwer zugänglich. Immerhin ansatzweise versucht sich Dümling an diesem noch nahezu unerforschtem Gebiet. Dies kann diese Arbeit in derselben Qualität nicht leisten, da die Autorin nicht über die entsprechenden Fachkenntnisse verfügt. Trotzdem ist es ein Versuch, das Zusammenspiel von Musik und Text zu analysieren. Dabei wird es weniger einen wissenschaftlichen Umgang mit den musikalischen Aspekten beinhalten, als vielmehr einen emotionalen, der mit Grundelementen der Komposition Weills belegt werden soll. Es wird überwiegend Wert darauf gelegt, wie die Musik auf den Hörer wirkt, anstatt darauf, wie sie genau gemacht ist. Dies ist insofern sinnvoll, als dass auch die meisten Zuschauer der „Dreigroschenoper“ keine versierten Musikkenner waren. Brecht und Weill legten ganz bewusst Wert darauf, „einen Hörerkreis zu interessieren, der weit über den Rahmen des Musik- und Opernpublikums hinausgeht“[6]. Trotzdem wird auch ein Einblick in Weills Arbeit gegeben, inwiefern sie diese Emotionen hervorruft, da auch der Komponist einen erheblichen, wenn auch oft ungewürdigten, Beitrag zum Erfolg des Stückes leistete.

2. Das epische Theater nach Brecht

Brecht war der Ansicht, dass sich jede Gesellschaft in einem stetigen Wandel befindet und das Theater somit auch immer wieder Veränderungen unterworfen werden muss, um der momentanen Situation gerecht zu werden. „Unaufhörlich müssen wir darüber nachdenken, wie das Theater sein müßte, damit es dieser Zeit, die sich von andern Zeiten zumindest nicht weniger unterscheidet als jede Zeit von jeder andern Zeit, etwas zu sagen habe.“[7] Deshalb forderte Brecht auch einen wissenschaftlicheren, analytischeren Zu- und Umgang zum beziehungsweise mit dem Theater, da die Wissenschaften zu Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts enorme Fortschritte, Erfolge und eine stetig wachsende Anerkennung aufweisen konnten. Durch diese Herangehensweise hat das Theater die gleiche Funktion wie die Wissenschaften: die „Veränderung des Lebens zur Erleichterung der menschlichen Existenz“[8]. Die gegenwärtigen sozialen Umstände und Gesetzesmäßigkeiten innerhalb der Gesellschaft waren die Themen, die Brecht als Inhalt des neuen Theaters forderte. Er sah die Menschen größtenteils nicht in der Lage, Missstände in ihrer eigenen Umgebung ohne Hilfe wahrzunehmen.

Die Unbegreiflichkeiten des Lebens und die Unüberlegtheiten des Schicksals werden deshalb nicht von den Menschen als Fehler durchschaut, weil sie von Gott als Clous in Szene gesetzt werden und wir eher versuchen, ihnen einen Sinn beizulegen, als ihren Unsinn zu entlarven.[9]

Um den Zuschauer in die Lage versetzen zu können, kritisch und aktiv über die dargestellten Missstände nachdenken zu können, sieht es Brecht für notwendig an, dass der Illusionscharakter des Theaters kenntlich gemacht wird. Um dies zu gewährleisten, muss ein Stück episch, also erzählend, inszeniert und aufgeführt werden.

„Das Wesentliche am epischen Theater ist es vielleicht, daß es nicht so sehr an das Gefühl, sondern mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht miterleben, sondern sich auseinandersetzen.“[10] Der Zuschauer soll nicht mehr emotional beteiligt, sondern in die Position eines distanziert-kritischen Menschen gesetzt werden. Brecht fordert einen aktiv mitdenkenden Zuschauer, der das Geschehen auf der Bühne als Spiel durchschaut und seine Lehren daraus zieht. „Sie dürfen nicht vergessen, und auch ich darf es nicht vergessen, daß für uns keine genießenden Zuschauer in Betracht kommen können, sondern nur eine Art von Zuschauern, die wir etwa spekulative Zuschauer nennen können.“[11] Darunter versteht Brecht, dass er kein einfühlendes Publikum möchte, sondern ein produktiv-denkendes. Dadurch ist es möglich, dass der Zuschauer im Theater zwar etwas lernt, dies aber gerne und mit Freuden tut. Denn „erst wenn die Produktivität entfesselt ist, kann Lernen in Vergnügen und Vergnügen in Lernen verwandelt werden“[12]. Er wollte die Kritikfunktion des Dramas betonen und die reine Unterhaltungsfunktion zurückdrängen, auch wenn Letztere nach wie vor eine wichtige Aufgabe des Theaters darstellte.[13] Im Anschluss an seine Kritik des klassischen aristotelischen Illusionstheaters[14] forderte er, dass Spielweise, Regie und Bühne derart zusammenwirken, dass eine Identifikation mit den Figuren seitens der Zuschauer verhindert wird. „Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfache Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben.“[15] Stattdessen sollen sie sich der Probleme bewusst werden und somit angeregt werden, die Gesellschaft zu verbessern. Sein Theater zeigt „das typische Verhalten der Menschen unserer Zeit“[16].

Durch verschiedene Instrumente und Verfahrensweisen wird die Handlung und damit auch die Bühnenrealität unterbrochen. Diese Bestandteile des epischen Theaters, die sogenannten Verfremdungseffekte oder V-Effekte, wurden von Brecht in verschiedenen, abgewandelten Versionen immer wieder eingesetzt. „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte und Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“[17] Es ist für den Menschen äußerst typisch, Fremdes kritischer zu betrachten und es einer genauen Prüfung zu unterziehen, während das Bekannte oft gedankenlos akzeptiert wird. „An das Allzuvertraute ist man so gewöhnt, daß man seine Unregelmäßigkeiten, Unebenheiten, seine Wesenheit ebenso, nicht mehr ganz wahrnimmt.“[18]

2.1. Herkunft der Verfremdung

Brechts Begriff der Verfremdung wurde maßgeblich von zwei Richtungen beeinflusst. Zunächst wäre der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu nennen.[19] Von ihm übernahm Brecht den Gedanken, dass das Bekannte aufgrund seiner Bekanntheit nicht erkannt ist.[20] Dadurch, dass etwas den Charakter der Bekanntheit aufweist, sieht sich niemand gezwungen darüber nachzudenken. Hegels Methode der Dialektik besteht aus drei Stufen: These, Antithese und Synthese. Einer Aussage (These) wird eine kontradiktorische Aussage (Antithese) gegenübergestellt. Zunächst erscheint es, als würden sich diese beiden Aussagen gegeneinander ausschließen. Im dritten Schritt jedoch führt die Betrachtung beider gemeinsam zur Synthese. Diese beinhaltet eine Gemeinsamkeit oder Schlussfolgerung aufgrund von These und Antithese. Ein bekanntes Beispiel für diesen Dreischritt ist das Verhältnis von Leben und Tod. Nimmt man das Leben als These, wird der Tod als Antithese angeführt, da diese sich gegenseitig ausschließen. Etwas, das lebt, kann nicht tot sein und jegliches Totes kann nicht lebendig sein. Betrachtet man diese beiden Aspekte jedoch länger, erkennt man schließlich doch einen bedeutenden Zusammenhang zwischen ihnen. Gäbe es kein Leben, gäbe es auch keinen Tod. Ohne den Tod würde das Leben die Bedeutung verlieren, da er das Ende des Lebens markiert. Dies stellt die Synthese dar; eine höhere Gemeinsamkeit zwischen These und Antithese. Diese drei Schritte These, Antithese und Synthese sollen an dieser Stelle genügen, um Hegels Einfluss auf Brecht zu charakterisieren. Eine umfassende Darstellung der Hegelschen Dialektik ist im Umfang dieser Arbeit nicht zu leisten.[21]

Brecht bedient sich dieses dialektischen Dreischritts, um die Wirkung des Verfremdungseffektes zu entfalten. In der These wird Bekanntes dargestellt wie Personen, Alltagssituationen oder festgelegte soziale Beziehungen, allgemein die bestehende Gesellschaft, die vom Zuschauer problemlos verstanden werden. Durch Verfremdungseffekte zeigt Brecht jedoch Widersprüche auf.[22] Er verleiht bekannten Personen, Gegenständen oder Situationen den Charakter des Fremden.

Es handelt sich hierbei, kurz gesagt, um eine Technik, mit der darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen, nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann. Der Zweck des Effekts ist, dem Zuschauer eine fruchtbare Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt zu ermöglichen.[23]

Dies stellt die Antithese dar. Gemeinsam jedoch mit dem Bekannten der These ist es dem Rezipienten möglich, den Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Figuren und dem Einfluss der Gesellschaft zu erkennen. „Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann um so verständlicher zu machen.“[24] In dieser Synthese soll der Zuschauer zu der Erkenntnis gelangen, dass eine Veränderung der sozialen Umstände und eine Verbesserung der persönlichen Situation miteinander verbunden sind sowie Alternativen vorhanden sind. „Die Selbstverständlichkeit, das heißt die besondere Gestalt, welche die Erfahrung im Bewußtsein angenommen hat, wird wieder aufgelöst, wenn sie durch den V-Effekt negiert und dann in eine neue Verständlichkeit verwandelt wird.“[25]

Hegels Philosophie gilt als einer der zentralen Ausgangspunkte für den Marxismus. Dieser hat ebenfalls Einfluss auf die Definition des Verfremdungsbegriffes von Brecht. Denn laut Marx führt alles, was nach marxistischem Geschichtsverständnis durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hervorgebracht worden ist, zu einer Ent fremdung. Ausgehend von Hegel kritisiert Marx, dass durch die Ausbeutung der Lohnarbeiter in Fabriken ein Kreislauf in Gang gesetzt wird, der letztendlich dazu führt, dass sich die Arbeiter sowohl von den von ihnen hergestellten Produkten als auch von sich selbst entfremden. Dies begründet Marx damit, dass die Produktion des Arbeiters andere Menschen reicher werden lässt, aber nicht ihn selbst. „Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert […].“[26] Stattdessen werden die Fabrikbesitzer oder andere Reiche durch den Profit derart von ihrer Gier in Besitz genommen, dass die Arbeiter noch weiter ausgebeutet werden, um mehr Geld zu erwirtschaften. Sie werden im Kapitalismus selbst zu einer von ihnen produzierten „Ware und zur elendsten Ware“[27]. Nach Marx haben hergestellte Waren immer den Charakter des Fremden[28], weshalb der Arbeiter sich schließlich von sich selbst entfremden muss. Diese Situation wird aufgrund des Umstandes verschlimmert, dass er trotzdem gezwungen ist, immer mehr Waren zu produzieren, um auf dem Arbeitsmarkt noch überleben zu können. Er wird zum Eigentum des Kapitalismus.[29] Dieses Problem der Entfremdung und der mangelnde Protest dagegen sind soziale Umstände, die Brecht mithilfe der Verfremdung in seinen Theaterstücken anprangert und weiterhin versucht, bei den Zuschauern einen Drang nach Veränderung hervorzurufen. Auch Marx‘ Konzeption der Entfremdung beinhaltete immer auch eine Möglichkeit der Veränderung.[30]

Im Folgenden werden Mittel der Verfremdung erläutert, die sowohl in der Textvorlage als auch in der Theaterpraxis zum Einsatz kommen. Allen gemeinsam ist das Ziel, eine Identifikation zu verhindern und eine kritische Reflexion über das Dargestellte beim Zuschauer zu bewirken. Dabei ist es notwendig, dass sich das Publikum zu jeder Zeit bewusst ist, dass es sich im Theater befindet.[31]

2.2. Ansprache des Publikums

Es gibt im epischen Theater verschiedene Möglichkeiten, Verfremdung zu erzeugen. In einigen Stücken übernimmt Brecht den auktorialen Erzähler der Epik und lässt ihn auf der Bühne erscheinen. Ein Schauspieler hat die Rolle des Kommentators, der Figuren einführt, Handlungen bewertet und sowohl die Gedanken und Gefühle aller Beteiligten kennt, als sich auch direkt an das Publikum wenden kann. Oftmals wird er deswegen auch zwischen Bühne und Zuschauer positioniert. Er dient als Vermittler, der verdeutlicht, dass das Dargestellte nicht real ist. Dies wird noch einmal verstärkt, indem Brecht den Erzähler oftmals anders darstellen lässt als die anderen Figuren hinsichtlich der Haltung und Sprache.

Häufiger jedoch wählt Brecht einen Weg, der wesentlich irritierender auf den Zuschauer wirkt. Er lässt einzelne Figuren für kurze Sequenzen aus ihrer Rolle hervortreten und die Funktion des Erzählers übernehmen. Dabei sind ebenfalls alle oben ausgeführten Optionen möglich. Wenn eine Figur sich plötzlich an das Publikum wendet und die Handlung kommentiert oder ein zusammenhangloses Lied singt, ist es nicht mehr möglich, sich mit dieser Person zu identifizieren. Es wird deutlich, dass der Mensch auf der Bühne nur ein Schauspieler ist, der seine Rolle spielt und diese auch jederzeit verlassen kann. Dadurch hat er auch ein Gesamtwissen über das Stück, sodass er auch Informationen über die Zukunft und die Vergangenheit geben kann. Hier wird erkennbar, dass Brecht nicht nur mit der Einfühlung des aristotelischen Dramas bricht. Auch die Einheiten von Handlung, Ort und Zeit sind für das epische Theater irrelevant, wenn nicht sogar hinderlich. Denn eben die Brüche in der Handlung sorgen für jenen Verfremdungseffekt, der nach Brecht gewährleistet, dass der Zuschauer in der Lage ist, das Dargestellte kritisch zu beobachten. Durch einen oder mehrere auktoriale Erzähler ist es ebenfalls nach Belieben möglich, die einzelnen Szenen in anderer Reihenfolge anzuordnen. Oft gibt es mehrere Handlungsstränge und einzelne davon können auch alleine stehen. Dies ist ein weiteres Hauptmerkmal des epischen Theaters.[32]

[...]


[1] Hecht, Werner: Brechts Weg zum epischen Theater. Abschnitte aus einem Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters 1918 bis1933. In: Episches Theater. Hrsg. von Rheinhold Grimm. 3. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972. S. 50-87. Hier: S. 50.

[2] Brecht, Bertolt: „Vergnügungstheater oder Lehrtheater?“. In: Schriften zum Theater. Insgesamt erschienen in 7 Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963/64. Hier Band 3: S. 53.

[3] Brecht, B.: Schriften zum Theater.

[4] Brecht, B.: „Kleines Organon für das Theater“. Schriften zum Theater 7. S. 7-67.

[5] Brecht, B.: Kleine Liste der beliebtesten, landläufigsten und banalsten Irrtümer über das epische Theater. I Schriften zum Theater 3, S. 69.

[6] Weill, Kurt: Über „Die Dreigroschenoper“. In: Bertolt Brecht/Kurt Weill „Die Dreigroschenoper“ - Igor Strawinsky „The Rake’s Progress“. Texte, Materialien, Kommentare. Hrsg. von Attila Csampai/Dietmar Holland. Reinbek: Rowohlt 1987. S. 87-90. Hier: S. 88.

[7] Brecht, B.: „Aufruf an die Theater“. Schriften zum Theater 1. S. 181.

[8] Jendreiek, Helmut: Bertolt Brecht. Drama der Veränderung. Düsseldorf: Anton Bagel 1969. S. 34.

[9] Brecht, B.: „Aus einer Dramaturgie“. Schriften zum Theater 2. S. 22f.

[10] Brecht, B.: „Betrachtung über die Schwierigkeiten des epischen Theaters“. Schriften zum Theater 1. S. 186.

[11] Brecht B.: „Das Theater und die neue Produktion“. Schriften zum Theater. S. 109f.

[12] Brecht B.: „Kleines Organon für das Theater“. Schriften zum Theater 7. S. 58.

[13] Vgl. ebd. S. 10.

[14] Vgl. Brecht, B.: „Kritik der Einfühlung“. Schriften zum Theater 3. S. 22-27.

[15] Brecht, B.: „Vergnügungstheater oder Lehrtheater?“. Schriften zum Theater 3. S. 54.

[16] Brecht, B.: „Zur Not des Theaters“. Schriften zum Theater 1. S. 114.

[17] Brecht, B.: „Über experimentelles Theater“. Schriften zum Theater 3. S. 101.

[18] Dietrich, Marget: Episches Theater? In: Episches Theater. Hrsg. von Rheinhold Grimm. 3. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1966. S. 94-153. Hier: S. 133.

[19] Eine ausführliche Darstellung der Rezeption Brechts zu Hegel bietet: Wagner, Frank Dietrich: Unheimliches Werk. Brecht zu Hegel. In: Gelegentlich: Brecht. Jubiläumsschrift für Jan Knopf zum 15-jährigen Bestehen der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB). Hrsg. von Birte Giesler/Eva Kormann/Ana Kugli/Gaby Pailer, Heidelberg: Winter 2004.

[20] Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg: Meiner 1952. S.28.

[21] Eine ausführliche und umfangreiche Darstellung der Hegelschen Dialektik und ihres Bezugsobjekt, der Logik, bietet: Kauther, Ralf: Hegels Dialektik. Ihr Anfang, ihre Methode, ihr Ziel, Köln: Universitätsverlag 1998.

[22] Vgl. Brecht, B.: „Kleines Organon zum Theater“. Schriften zum Theater 7. S. 34.

[23] Brecht, B.: „Die Straßenszene“. Schriften zum Theater 5. S. 79.

[24] Brecht, B.: „Anhang zu ‚Neue Technik der Schauspielkunst‘“. Schriften zum Theater 3. S. 174.

[25] Brecht, B.: „Nachträge zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“. Schriften zum Theater 5. S. 293.

[26] Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Erschienen in 41 Bänden. Ergänzungsband, 1. Teil. Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844. Berlin: Dietz 1968. S. 467-588. Hier: S. 511.

[27] Ebd. S. 510.

[28] Vgl. ebd. S. 511.

[29] Vgl. ebd. S. 512.

[30] Vgl. Knecht, Ingbert: Theorie der Entfremdung bei Sartre und Marx. Meisenheim am Glan: Hain 1975. S. 10.

[31] Vgl. Brecht, B.: „Realistisches Theater und Illusion“. Schriften zum Theater 3. S. 37.

[32] Vgl. Brecht, B.: „Zu ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“. Schriften zum Theater 2. S. 117.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
„Die Dreigroschenoper“ von Brecht und Weill. Verfremdungseffekte aufgrund des Verhältnisses von Musik und Text
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1.7
Autor
Jahr
2012
Seiten
35
Katalognummer
V214830
ISBN (eBook)
9783656428817
ISBN (Buch)
9783656436720
Dateigröße
986 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
brecht/weill, dreigroschenoper, verfremdungseffekte, verhältnisses, musik, text
Arbeit zitieren
Jana Hölters (Autor:in), 2012, „Die Dreigroschenoper“ von Brecht und Weill. Verfremdungseffekte aufgrund des Verhältnisses von Musik und Text, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214830

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