Es gibt kaum einen Mythos, der in der Literatur so oft rezipiert wurde und eine derart große Bekanntheit erlangt hat, wie der des Don Juan. Seit seinem ersten Auftreten im Jahr 1619 in dem Drama "El burlador de Sevilla o convidado de piedra" von Tirso de Molina, entstand in ganz Europa eine ganze Fülle von Bearbeitungen dieses Stoffes, von denen einige Fassungen wie z.B. Don Juan Tenorio von José Zorrilla y Moral aus dem Jahr 1844 eine größere Bekanntheit als das Original erlangten.
Auch in den Werken der Generation von 98 wurde die Figur des Don Juan autorenübergreifend immer wieder aufgegriffen. Gegenstand dieser Arbeit ist das Werk "Las galas del difunto" von Ramón del Valle-Inclán, in dem der Schriftsteller diesen Mythos in der von ihm begründeten Literaturgattung des Esperpentos rezipiert. Sein Werk soll im Rahmen dieser Arbeit mit Don Juan Tenorio verglichen werden, um zu ermitteln, welche Elemente und Eigenschaften der Protagonisten aus dem Originaltext übernommen bzw. variiert wurden und welche Rückschlüsse sich ausgehend von der Darstellung des Don Juan in Valle-Incláns Werk über dessen Spanienbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts ziehen lassen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Mythenrezeption in der Generation von
3. Rezeption des Don-Juan-Mythos bei Valle-Inclán
4. Das Esperpento Las galas del difunto
5. Vergleich der Protagonisten
5.1 Die Figur des Don Juan in Las galas
5.2 Die Figur der Doña Inés in Las galas
6. Rekurrente Motive
6.1 Das Motiv des Briefes
6.2 Die Motive Wette und Frist
6.3 Die Motive Betrug und Karneval
7. Rückschlüsse über Valle-Incláns Absicht und sein Spanienbild
8. Abschlussbetrachtung
9. Bibliographie
1. Einleitung
Es gibt kaum einen Mythos, der in der Literatur so oft rezipiert wurde und eine derart große Bekanntheit erlangt hat, wie der des Don Juan. Seit seinem ersten Auftreten im Jahr 1619 in dem Drama El burlador de Sevilla o convidado de piedra von Tirso de Molina, entstand in ganz Europa eine ganze Fülle von Bearbeitungen dieses Stoffes, von denen einige Fassungen wie z.B. Don Juan Tenorio von José Zorrilla y Moral aus dem Jahr 1844 eine größere Bekanntheit als das Original erlangten.
Auch in den Werken der Generation von 98 wurde die Figur des Don Juan autorenübergreifend immer wieder aufgegriffen. Gegenstand dieser Arbeit ist das Werk Las galas del difunto von Ramón del Valle-Inclán, in dem der Schriftsteller diesen Mythos in der von ihm begründeten Literaturgattung des Esperpentos rezipiert. Sein Werk soll im Rahmen dieser Arbeit mit Don Juan Tenorio verglichen werden, um zu ermitteln, welche Elemente und Eigenschaften der Protagonisten aus dem Originaltext übernommen bzw. variiert wurden und welche Rückschlüsse sich ausgehend von der Darstellung des Don Juan in Valle-Incláns Werk über dessen Spanienbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts ziehen lassen.
Methodisch erfolgt hierfür nach einigen Erläuterungen zur Mythenrezeption der Generation von 98 und einer Erläuterung zu Valle-Incláns Gattung des Esperpento ein Vergleich der beiden Protagonisten des Dramas sowie eine Ausführung über verschiedenen Motive, die in beiden Werken eine wichtige Rolle spielen und Aufschlüsse auf Valle-Incláns Sicht über der Bedeutung dieses Mythos geben dürften.
2. Mythenrezeption in der Generation von 98
Die hohe Anzahl von Werken, in denen die Generation von 98 spanische Mythen wie Don Quijote und Don Juan rezipiert, mag gerade angesichts der Tatsache, dass diese Bewegung permanent auf der Suche nach der Stellung Spaniens im 20. Jahrhundert und seinem Platz in Europa war, überraschend wirken und die Frage aufwerfen, warum sie sich diesen Stoffen so ausgiebig widmeten.
Während man von der Figur des Don Quijote sogar sagen kann, dass sie erst durch die Generation von 98 ihre bis heute geltende Bekanntheit und ihren Status als Symbol der spanischen Identität erhielt (s. Gambrecht 1990:813), wurde das romantische Drama Don Juan Tenorio von Zorilla einer langen Tradition folgend alljährlich an Allerheiligen aufgeführt (s. Mattauch 1991:336), sodass der Inhalt dieses Stücks hinlänglich bekannt war. Beide Werke sind Beispiele „individueller literarischer Mythenbildung“ die zwar nicht durch verbindende geschichtliche Ereignisse kollektiv im Gedächtnis einer Nation verankert sind, aber dennoch eine „kollektive Relevanz entfalten“ (ebd.:221). Bei der Suche nach einer neuen Identität griffen die spanischen Intellektuellen dann als „Ersatz für abgenutzte oder als nicht mehr tragbar empfundene Kollektivmythen“, die nicht mehr mit dem Spanienbild der 98er zu vereinbaren waren, auf andere Werke zurück (ebd.:222), die neu interpretiert oder in abgewandelter Form wiedergegeben wurden. So wurde Don Juan in einer Fülle von Essays, Romanen und Dramen zum „Symbol einer kollektiven Lebenslüge“ deklariert (ebd.:222), und mehr und mehr durch den Don-Quijote-Mythos ersetzt. Während dieser als Verteidiger Spaniens und des Christentums einen guten Ausgangspunkt für eine zukunftsweisende Neuinterpretation der spanischen Geschichte bot, nahm man zunehmend Abstand von der Figur des notorischen Frauenverführers Don Juan. Die Fülle von Neubearbeitungen führte im Endeffekt aber natürlich dazu, dass die Präsens dieser Figur, die man eigentlich aus dem „sozialen Wissen eliminieren“ wollte (Gambrecht 1990:812) zunahm.
3. Rezeption des Don-Juan-Mythos bei Valle-Inclán
Gerade Ramón del Valle-Inclán zeigte großes Interesse am Don-Juan-Mythos, der für ihn „un tema eterno y nacional“, „piedra de toque donde se mide el esfuerzo de cada autor” war und ausschöpflich schien:„[Por] mucho que esté tratado, no se agota nunca“ (Valle-Inclán, zit. nach Lavaud-Fage 1988:139). Laut John F.Hook findet man diese Figur in zwölf seiner Stücke, von El marqués de Bradomín bis zu Las galas del difunto (s. Hook 1975:265-267, zit. nach Ogden 1994:41), wobei in den meisten Werken nur einzelne signifikante Elemente dieser Figur, insbesondere seine Rolle als Frauenverführer, auftauchen (s. Ogden 1994:41).
Aussehen und Namen der Don-Juan-Figuren können bei Valle-Inclán variieren. Typische, immer wieder auftretende Charaktere sind Figuren wie Don Juan Manuel de Montenegro in Águila del blasón, ein „aristócrata y terrateniente gallego en decadencia“ (Bermejo Marcos 1987:24), der seine Vormacht vor allem gegenüber den von ihm abhängigen Frauen ausnutzt. Die meisten Don Juans, die Valle-Inclán geschaffen hat, bewegen sich wie Manuel de Montenegro oder der Marqués de Bradomín, der in diversen Werken Valle-Inclán mitspielt, in einem wohlhabenden Umfeld: Sie müssen sich nicht um den täglichen Broterwerb kümmern, sondern können wie Zorillas Don Juan hauptsächlich dem Vergnügen („una vida de ocio y placer“, ebd.:25) nachgehen.[1]
Aber auch bei Valle-Inclán lässt sich im Verlauf seiner Tätigkeit ein „progresivo antiheroísmo“ gegenüber der Figur des Don Juan feststellen, der sich gerade in Las galas de difunto in der Figur Juanito Ventoleras widerspiegelt (Lázaro 1999.:333).
Der Umgang mit der Figur des Don Juan zu Beginn des 20.Jahrhunderts wird oft als „rechazo o remistificación“ klassifiziert (ebd.:333). Bei Valle-Inclán sind generell beide Haltungen zu finden, auch wenn die Figuren zunehmend lächerlicher und grotesker wirken. Er hatte im Unterschied zu Zorilla, dessen Protagonist eher eine Kopie von Tirso de Molinas Don Juan darstellt, nie die Intention, diese Figur in seinen Werken ähnlich wieder auferstehen zu lassen, sondern wollte eine Imitationen dieses Figurentyps schaffen der in sein damaliges Spanienbild passt (s. Ogden 1994:42).
4. Das Esperpento Las galas del difunto
Das Stück Las galas del difunto[2], auf Deutsch Der Galaanzug des Verstorbenen, wurde erstmals 1926 veröffentlicht, und gehört zu einer Reihe von Esperpentos mit denen Valle-Inclán in den 20er Jahren diese Gattung begründete.
Den Begriff Esperpento benutzte Valle-Inclán erstmals 1920 in Luces de Bohemia. Seitdem gilt es als „Sonderform des Grotesken in Spanien“ (Dias 1977, zit. nach Floeck 1990:112). Ziel des Esperpento ist es, auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam zumachen, und auf diese nicht etwa in einer möglichst realistischen Darstellung, sondern durch die Schaffung einer ästhetischen Kunstwelt hinzuweisen. Eine distanzierte Betrachtung der dramatischen Welt aus der Sicht eines demiurgischen Erzählers soll jede Identifikation mit den Protagonisten verhindern (s. ebd. 116). Die Erwartungshaltung, die ein Leser von Las galas durch die Kenntnis von Zorillas Stück mitbringt, wird ihm auch im Esperpento zunächst durch „eine erwartbare Identifikation […] vorgezeichnet, um sie hernach zu ironisieren“ (Jauß 1982, zit. nach Floeck 1990:117).
Nach Valle-Incláns Auffassung konnte man das sich zu Anfang des 20.Jahrhunderts in der Krise befindende Spanien nur noch deformiert darstellen, da das Land selbst „una deformación grotesca de la civilzación europea“ sei (Luces de Bohemia 169). Modell der Deformierung war bei Valle-Inclán auf der einen Seite die zeitgenössische Gesellschaft wie z.B. die Madrider Gesellschaft in Luces de Bohemia, oder aber klassische Helden und Mythen wie Don Quijote oder Don Juan (s. Floeck 1990:113):
Los héroes clásicos reflejados en los espejos cóncavos dan el Esperpento. El sentido tragíco de la vida española sólo puede darse con una estética sistemáticamente deformada (Luces de Bohemia 168).
Nach der Metapher des konkaven Spiegels wird das Esperpento durch eine mathematisch genaue und systematische Verzerrung erzeugt. Die Gesellschaft oder ein literarischer Stoff wie der des Don-Juan-Mythos sollen wie durch einen Spiegel, der „alters everything that comes before it, and it alters it all in the same way” (Perez Firmat 1986:45) betrachtet wiedergegeben werden.
Für Valle-Inclén gab es drei Arten, die Welt zu sehen: „de rodillas, en pie o levantado en el aire“ (s. Floeck 1990:117) und er schreibt seine Esperpentos aus letzterer Sicht wie „un ‚outsider’, sin compromiso alguno, algo así como un titirtiero que mira sus títeres“ (Cardona/Zahareas 1970:30).
Seine Protagonisten wirken wie Marionetten, die „jeglicher Selbstbestimmung und Menschlichkeit beraubt“ sind (s. Floeck 1990:120): Durch eine entsprechende Namensgebung, unstandesgemäße Sprachverwendung und dem Leben in einem niedrigen Milieu wirken diese Charaktere sehr grotesk und plakativ (s. ebd.:121). Da die Figuren zudem teilweise noch animalisiert oder vergegenständlicht werden, wirkt das Esperpento wenig realistisch und erinnert eher an eine Karnevalszene. Neben der Möglichkeit der Identifikation wird dadurch auch Sympathie oder Mitgefühl von Seiten der Zuschauer reduziert, um den Blick auf das ästhetische Ganze nicht zu versperren. Das Esperpento erhebt den Anspruch, durch diese distanzierte Betrachtung, den Leser oder Zuschauer über die Wirklichkeit aufzuklären (s. ebd.:122).
Esperpentos wie das Beispiel Las galas haben somit eine belustigende, aber auch verspottende und satirische Wirkung, die sich nicht nur gegen die literarische Vorlage, wie hier den Don-Juan-Mythos, sondern darüber hinaus vor allem gegen die zeitgenössische Gesellschaft richtet und soziale Missstände aufzeigen soll.
Der sozialkritische Inhalt von Las galas war neben der aufwendigen Umsetzung in einer Theaterinszenierung einer der Gründe, warum dieses Werk während des Franco-Regimes nicht besonders geschätzt und erst 1962 aufgeführt wurde.
Mittelpunkt des Dramas ist der gerade aus dem verlorenen Kubakrieg heimgekehrte Juanito Ventolera. Da er kein Geld hat, bringt ihn der Bürgermeister bei dem Apotheker Sócrates Galindo unter, der während Juanitos Aufenthalt stirbt. Juanito gräbt ihn aber später wieder aus um seinen Anzug zu stehlen. Mit diesem will er die Prostituierte La Daifa beeindrucken, die er aus dem Bordell holen möchte. Auf dem Friedhof trifft er drei andere ehemalige Soldaten, und wettet später mit ihnen, dass er sich traut, der Witwe des Apothekers einen Besuch abzustatten um den passenden Hut und den Stock zum Anzug zu fordern. Juanito weiß nicht, dass der Apotheker der Vater von La Daifa ist, findet aber in seiner Anzugtasche einen Brief von ihr. Als sich diese von Juanitos neuem Aufzug unbeeindruckt zeigt, liest er den Brief in Anwesenheit aller Bordellbesucher vor und lässt das Stück in einer absurden Szene ohne aussagekräftiges Ende enden.
5. Vergleich der Protagonisten
Schon die Zusammenfassung des Inhalts macht deutlich, dass Valle-Incláns Version sich sehr von Zorillas unterscheidet und es erstaunt nicht, dass einige Untersuchungen „ningún paralelismo humano entre Ventolera y Don Juan, salvo la falta de respeto a los difuntos, y tan sólo sugeriencias formales” feststellen (Cardona/Zahareas 1970, zit. nach Ogden 1994:45).
Ob und inwiefern man bei der Esperpentisierung des Don-Juan-Mythos von einer systematischen Reduktion von Personen und Aktion (s. Bermejo Marcos 1987:29) oder von einer mathematisch genauen Verzerrung wie durch einen konkaven Spiegel sprechen kann, soll im Folgenden anhand eines Vergleichs der Figurenpaare Don Juan/ Juanito und Doña Inés/ La Daifa untersucht werden.
5.1 Die Figur des Don Juan in Las galas
Für Ogden ist Juanito nicht mehr als „una caricatura risible del mito donjuanesco” (Ogden 1994:45), was schon im Namen dieses Protagonisten zur Geltung kommt. Er ist „tan capitidisminuido que ha perdido hasta el ‘don’” (Bermejo Marcos 1987:26), und wird zusätzlich durch den Gebrauch eines Diminutivs reduziert, sodass er insgesamt den Eindruck erweckt, dass er keinem Windstoß (=ventolera) standhalten würde. Ventolera bedeutet im übertragenden Sinn auch ‚verrückter Einfall’, aber auch dies lässt den Protagonisten nicht in einem besonders guten Licht erscheinen.
[...]
[1] Die Entwicklung von Juan Manuel Montenegro aus Águila del blasón bis zu Juanito Ventolera von Ogden in „Transformación grotesca de un mito: La mitificación y desmitificación del donjuanismo en el teatro de Valle-Inclan” nachgezeichnet.
[2] Aus Platzgründen wird der Titel im Folgenden mit Las galas abgekürzt. Um Verwechslungen zu Zitaten aus Don Juan Tenorio auszuschließen, werden Zitate aus diesem Werk stets mit dem Namen des Autors (Zorilla) angegeben.
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