Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die junge türkische Republik
2.1 Kemalismus und Außenpolitik
2.2 Sicherung durch Verträge
2.3 Italien auf dem Balkan
3. Das diplomatische Ringen um Neutralität
3.1 Deutsche Interessen in Kleinasien
3.2 Die Dardanellenfrage
3.3 Zwischen Deutschland und der Sowjetunion
3.4 Bulgarien, Jugoslawien und der Balkanpakt
3.5 Das Verhältnis zu den Westmächten
3.6 Der Handel mit den Kriegsparteien
3.7 Die türkische Neutralität im Spiegel des Völkerrechts
4. Kriegseintritt kurz vor Zwölf
5. Schlußfolgerung
Quellenverzeichnis
Literatur
1. Einleitung
„Ich nehme die Gelegenheit nun auch meinerseits wahr, um Ihnen, Exzellenz, feierlich mitzuteilen, daß sich diese deutschen Schritte in keiner Weise gegen die territoriale oder politische Integrität der Türkei richten. Im Gegenteil[...].“
(Brief Hitlers an den türkischen Staatspräsidenten
vom 1. März 1941)[1]
„Zu diesem Zweck ist vorzusehen, so frühzeitig als möglich so starke Kräfte in Bulgarien zu versammeln, wie nötig sind, die Türkei politisch gefügig zu machen oder ihren Widerstand mit Waffengewalt zu brechen.“
(Adolf Hitler, Weisung Nr. 32)[2]
Die vorliegende Arbeit behandelt die Außenpolitik des Deutschen Reiches gegenüber der Türkei zwischen dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Jahr 1941 liegt. Der Arbeit liegen folgende Fragen zugrunde: Wie hat es die Türkei bewerkstelligt, im gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges nicht in militärische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden? Welchen Strategien sind die kriegsführenden Mächte bezüglich der Türkei gefolgt? Kann die Position der Türkei im Krieg als „neutral“ bezeichnet werden?
Zur Einführung in die Lage wird im folgende Kapitel zunächst die allgemeine innen- und außenpolitische Lage der Türkei nach der Republikgründung skizziert, wobei die Situation am Vorabend des Zweiten Weltkriegs besondere Beachtung findet.
Im dritten Kapitel wird die Neutralitätsstrategie der Türkei während der für die Türkei „heißen Phase“ des Weltkrieges untersucht, und zwar in bezug auf die deutschen Interessen in Kleinasien, die Dardanellenfrage, den deutsch-sowjetischen Konflikt, den Balkankonflikt sowie die Beziehungen zu den Westmächten. Gleichzeitig werden in zwei weiteren Abschnitten die Handelspolitik der Türkei gegenüber den kriegsführenden Parteien und die völkerrechtliche Dimension der Neutralitätsdefinition der Türkei in kleinen Abschnitten behandelt, um die diplomatische Dimension weiter auszuleuchten.
Das vierte Kapitel geht kurz auf die türkische Außenpolitik nach dem Scheitern der deutschen Expansionspläne ein, ohne jedoch einen vollständigen Überblick zu liefern. Das Schlußkapitel faßt die Erkenntnisse der Arbeit zusammen und versucht eine Würdigung der türkischen Diplomatie.
Die generellen Linien der deutschen, sowjetischen, alliierten und türkischen Außenpolitik[3] werden nur insofern behandelt, als es für die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen von Bedeutung ist. Die innenpolitische Situation in diesen Staaten ist nicht Thema dieser Arbeit.
2. Die junge türkische Republik
2.1 Kemalismus und Außenpolitik
Nach der Ausrufung der Republik durch Mustafa Kemal am 29.10.1923 hatte die Türkei mit der Staatsform, die „Republik“ genannt wird, wenig gemein: Es gab kein Mehrparteiensystem, sondern eine Staatspartei, es existierte keine Opposition, sondern nur eine Regierung mit Kemal an der Spitze, und doch war der Wechsel vom monarchistischen Kalifat zu einer anderen Staatsform offensichtlich. Die Türkei orientierte sich nach Kemals Prinzipien, dem Kemalismus, in Richtung Europa und wurde ein säkularer Nationalstaat, der „den Weg frei [machte] für die sozialen und kulturellen Reformen“.[4] Die wesentlichen Ziele waren
- die Nutzbarmachung europäischer Technologie, um den Entwicklungsrückstand aufzuholen,
- die Trennung von Staat und Moschee, um eine fortschrittliche Entwicklung zu gewährleisten,
- die staatliche Lenkung der Ökonomie, um den wirtschaftlichen Aufbau zu beschleunigen und
- die Schaffung und der Erhalt von „Frieden in der Welt [und] Frieden in der Heimat“.[5]
Für letzteres Ziel spielten insbesondere die nachbarschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion eine große Rolle; „fünfzehn Jahre lang war die Freundschaft zur Sowjetunion der Grundstein der türkischen Außenpolitik“.[6]
Nach dem Tod von Mustafa Kemal am 10.11.1938 trat Ismet Inönü seine Nachfolge an und führte Kemals Politik, auch die Außenpolitik, fort, in dem er festellte: „The characteristic feature of Kemalism is continuity, both in internal and in foreign policy.“[7]
2.2 Sicherung durch Verträge
Die außenpolitische Lage der Türkei war bis zum Ende der 30er Jahre relativ geordnet, wobei die Türkei eine Verständigung mit ihren Nachbarn erreichen wollte. Dies war allerdings nicht nur im von Kemal postulierten Friedensprinzip begründet, sondern folgte einer weiteren Logik: Die militärische Macht der Türkei war schwach, sie hatte, was den wirtschaftlichen Aufbau und die militärische Rüstung angeht, wie der türkische Außenstaatssekretär MenemenVioglu selbst zugab, „hundert Jahre nachzuholen“.[8]
Den ersten Meilenstein markierte der türkisch-sowjetische Freundschaftsvertrag von 1921,[9] dem der Nichtangriffspakt von 1925 folgte[10], der die strikte Neutralität beider Staaten im Kriegsfall vorschrieb, selbst wenn der Vertragspartner der Angreifer war. Darüber hinaus wurde ein Bündnisverbot für den nichtbeteiligten Staat vereinbart und Abkommen mit solchen Drittstaaten verboten, die die militärische oder maritime Sicherheit eines Vertragspartners gefährden sollten.[11]
Mit Griechenland als nördlichem Nachbarn schloß die Türkei bereits 1930 ein Freundschafts- und Neutralitätsabkommen, was als „besondere Leistung der türkischen Diplomatie“ begriffen wurde, da es immerhin galt, dem Sieger des Unabhängigkeitskrieges die Hand zu reichen.[12]
Schließlich sicherte sich die Türkei am 9. Februar 1934 mit dem Balkanpakt mit Griechenland, Rumänien und Jugowslawien in Richtung Nordwesten ab, ohne jedoch Albanien und Bulgarien zum Beitritt bewegen zu können, um die 1923 bzw. 1925 geschlossenen Freundschaftsabkommen zu erneuern.
Ein weiterer wichtiger Schritt zur außenpolitischen Absicherung im Rahmen von Verträgen bestand in der Konvention von Montreux vom 20. Juli 1936, die die Durchfahrt von Schiffen durch die Dardanellen regelte, der Türkei die militärische Kontrolle über die Wasserstraße zurückgab und eine Befestigung durch die Türkei erlaubte.[13] Die Durchfahrt von nichttürkischen Handelsschiffen in Friedenszeiten wurde garantiert, in Kriegszeiten durfte die Türkei die Passage für solche Handelsschiffe sperren, mit deren Länder sie sich im Krieg befand. Gleichzeitig durften die Schwarzmeermächte (vor allem die Sowjetunion) in Friedenszeiten mit Kriegsschiffen durch die Meerenge in das Mittelmeer einfahren.
Nach Südosten sicherte sich die Türkei mit dem Saadabadpakt mit Persien, Afghanistan und dem Irak von 1937 ab, der gegenseitige Grenzgarantien und eine Konsultationspflicht bei außenpolitischen Fragen festschrieb und entscheidend zur außenpolitischen Konsolidierung der Türkei beitrug.
Gegenüber dem letzten, etwas ferneren Nachbarn Italien hegte die Türkei seit 1911 ein tiefes Mißtrauen wegen dessen Expansivpolitik in den anatolischen Raum und die von ihm ausgehende Bedrohung der türkischen Inseln im östlichen Mittelmeer. Zwar kam es auch im Mossulkonflikt von 1923/1926 zwischen Italien und der Türkei nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen, aber das Mißtrauen gegenüber Italien wurde durch die faschistische Machtergreifung und durch die Propagierung der Widerherstellung des römischen Imperims durch Mussolini („Mare Nostrum“) noch geschürt.
Mit den späteren Alliierten Frankreich und Großbritannien pflegte die Türkei ein freundschaftliches Verhältnis, von welchem sie durch die zahlreichen Wirtschafts- und Rüstungslieferungen profitierte.[14] Zudem waren Frankreich und Großbritannien in ihrer Eigenschaft als Signatarmächte von Montreux die Garanten für die türkische Kontrolle über die Dardanellen.
Dies galt in gleichem Maße auch für Deutschland, das in der Hoffnung, die Türkei würde sich im Kriegsfall auf seine Seite schlagen, immer größere Mengen von Exportgütern abnahm, so daß der Anteil Deutschlands am türkischen Export 1939 fast 50% erreichte. Das traditionelle Mißtrauen gegenüber Deutschland als faschistischem Partner Italiens blieb zwar bestehen, der wirtschaftliche Aufbau der Türkei und damit Deutschland als großer Warenabnehmer und bedeutender Lieferant von Industrieanlagen schien zunächst wichtiger als außenpolitische Überlegungen.[15]
[...]
[1] Brief Hitlers an den türkischen Staatspräsident Inönü vom 1. März 1941, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie D, Bd. XII 1, Bonn, S. 166.
[2] Zitiert nach: Hubatsch, Walther 2000: Hitlers Weisungen für die Kriegsführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Frankfurt am Main.
[3] Eine umfassende Darstellung der türkischen Außenpolitik zwischen 1923 und 1945 findet sich bei Önder, Zehra 1977: Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München.
[4] Önder, Zehra 1977: Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München, S. 9.
[5] Ebenda, S. 10
[6] Rummel, Friedrich von 1952: Die Türkei auf dem Weg nach Europa, München, S. 65.
[7] Önder, Zehra 1977: Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München, S. 16.
[8] Zitiert nach Önder, Zehra 1977: Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München, S. 15.
[9] Auf den Freundschaftsvertrag wird hier nur am Rande eingegangen, da der Nichtangriffspakt das wesentliche Abkommen ist. Trotzdem ist die Nennung des Freundschaftsvertrages wichtig, da die seit der Zarenzeit existierenden Grenzprobleme zwischen der Türkei und der Sowjetunion endlich gelöst wurden (vgl. Önder, Zehra 1977: Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München, S. 11).
[10] Der Vertrag wurde 1935 erneuert.
[11] Zitiert nach Krecker, Lothar 1964: Deutschland und die Türkei im Zweiten Weltkrieg. Diss. phil., Frankfurt/Main, S. 15.
[12] Önder, Zehra 1977: Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München, S. 12.
[13] Im Jahre 1915 sperrte die Türkei nach dem Eintritt in den ersten Weltkrieg auf deutscher Seite die Dardanellen für russiche Getreideexporte, worauf nach Kriegsende die Meerenge der Kontrolle einer internationalen Kommission übergeben und eine Entmilitarisierung der die Meerenge umgebenden Zone betrieben wurde (vgl. Kennedy, Paul 1991: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt/Main, S. 389).
[14] Zu nennen ist hier beispielsweise der Londoner Vertrag, der der Türkei einen Kredit über sechszehn Millionen Pfund einräumte, wovon sechs Millionen ausschließlich für den Einkauf von Rüstungsgütern aus Großbritannien vorgesehen waren.
[15] Hier tritt Primat der Wirtschaftspolitik im Kemalismus (Modernisierung, Industrialisierung) gegenüber der Außenpolitik deutlich zutage.