Eigentlich war dem Menschen Bildung noch nie ganz geheuer. Aber während man beispielsweise
im Mittelalter alle Bücher verräterischen Inhalts mitsamt deren Autoren zu verbrennen gewöhnt
war, gestaltete sich die Sache ab dem 18. Jahrhundert zunehmend schwieriger.
Durch Modernisierungen des Buchdrucks und Verlagswesens und durch die steigende allgemeine
Alphabetisierung sah sich auch erstmals ein verhältnismäßig heterogeneres Publikum mit einer
verhältnismäßig heterogeneren Auswahl an Texten konfrontiert. Die Diskussion um die potenziellen
Gefahren des übermäßigen Lesens kulminierte um die Zeit des Werther-Fiebers, wo insbesondere
ein knappes Dutzend Werther-bedingter Selbstmorde Aufsehen erregten. Hierauf wird auch der
Hauptaugenmerk dieser Arbeit gerichtet sein. Mit jeder Einführung eines neuen Mediums wird
allerdings letztendlich dieselbe Diskussion neu entfacht: ob ihr Konsum schädliche Auswirkungen
haben könnte, und ob man ihn nicht sicherheitshalber, wenigstens bestimmten Gruppen, verbieten
sollte. Heute dreht sich diese Debatte in erster Linie um Computerspiele, deswegen wird auch das
abschließend kurz behandelt.Der Diskurs um die Gefahren der Medien ist deswegen seit dem 18. Jahrhundert von so hohem
emotionalem Potenzial und von so gleichbleibender Bedeutung für die Gesellschaft, weil die
Medien seit dieser Zeit begonnen haben, einen Aufgabenbereich einzunehmen, den früher die
Kirche innehatte: in den Medien wird ausgehandelt, was die aktuellen Werte und Ideologien einer
Gesellschaft sind.1
Es gilt also zu klären, wie sich dieser Diskurs in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat, und wie
sich der Umgang mit fiktionaler Gewalt vom 18. Jahrhundert bis heute verändert hat.
Im Mittelpunkt dieser Überlegungen soll das Werther-Fieber mit der berüchtigten „Selbstmord-
Welle“ stehen, die zwar nicht die ersten Nachahmungstaten fiktionaler Gewalt in der Geschichte der
Menschheit sind – aber der erste diesbezügliche Skandal: schließlich wurden Kreuzzüge oder
Hexenverbrennungen beispielsweise nicht als Amokläufe fehlgeleiteter Leser aufgrund von
pervertiertem Konsum gewaltverherrlichender Medien angesehen, sondern als richtiges,
gesellschaftlich erwünschtes Handeln.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 2 Die Leselandschaft im 18. Jhd. - Vom Intensiven zum Extensiven Lesen
- 3 Lesesucht
- 4 Werther-Rezeption
- 5 Mechanismen der Leserlenkung im Werther
- 6 Das Werther-Fieber
- 6.1 Werther-Kult
- 6.2 Imitatio - Lektüre des Werther
- 6.3 Werther-Selbstmorde
- 7 Der Werther-Effekt
- 8 Fiktionale Gewalt
- 8.1 Medienwirkung
- 8.2 Mediengewalt in der öffentlichen Meinung
- 9 Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Auswirkungen des Werther-Fiebers auf die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die Arbeit beleuchtet die Entstehung des Werther-Kults und die damit verbundene „Selbstmord-Welle“ sowie die Rolle von fiktionaler Gewalt in der medialen Rezeption. Ziel ist es, den Wandel des Umgangs mit fiktionaler Gewalt vom 18. Jahrhundert bis heute zu analysieren.
- Entwicklung des Leseklimas im 18. Jahrhundert
- Die Rolle des Werther-Romans im Kontext der „Leserevolution“
- Der Werther-Effekt und die Nachahmungstaten fiktionaler Gewalt
- Medienwirkung und die Darstellung von Gewalt in den Medien
- Vergleich des Umgangs mit fiktionaler Gewalt im 18. Jahrhundert und heute
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt das Thema der Arbeit vor und skizziert die Problematik des Umgangs mit fiktionaler Gewalt in den Medien. Es wird darauf hingewiesen, dass die Debatte um die Gefahren der Medien seit dem 18. Jahrhundert von großer Bedeutung für die Gesellschaft ist, da die Medien zunehmend einen Aufgabenbereich einnehmen, der früher der Kirche vorbehalten war.
- Kapitel 2 beleuchtet den Wandel des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert. Die Leselandschaft veränderte sich von einem intensiven, lebenslangen Wiederholen religiöser Texte hin zu einem extensiven Lesen von modernen, säkularen Unterhaltungsbüchern. Dieser Prozess war eingebettet in die allgemeine Verbürgerlichung von Literatur, Kunst und Kultur.
- Kapitel 3 behandelt die zeitgenössisch als Lesesucht diagnostizierte Veränderung im Leseverhalten und analysiert den Übergang vom intensiven zum extensiven Lesen.
- Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Rezeption des Werther-Romans. Es werden die verschiedenen Mechanismen der Leserlenkung im Werther beleuchtet, die zu einer erstaunlichen Suggestiv-Wirkung führten.
- Kapitel 5 untersucht das Werther-Fieber und die damit verbundenen Selbstmorde. Es wird die Frage aufgeworfen, ob das Werther-Fieber als „Amoklauf fehlgeleiteter Leser aufgrund von pervertiertem Konsum gewaltverherrlichender Medien“ anzusehen ist.
- Kapitel 6 analysiert den Werther-Effekt, also die Nachahmungstaten von fiktionaler Gewalt, die durch das Lesen des Werther-Romans ausgelöst wurden.
- Kapitel 7 widmet sich der Thematik der fiktionalen Gewalt in den Medien und untersucht die mediale Wirkung von Gewalt. Es wird auf die öffentliche Meinung zur Mediengewalt eingegangen.
Schlüsselwörter
Die zentralen Schlüsselwörter dieser Arbeit sind Werther-Fieber, Werther-Effekt, fiktionale Gewalt, Medienwirkung, Leserevolution, intensives und extensives Lesen, Lesesucht, Imitatio und Suizid. Diese Begriffe spiegeln die Kernthemen der Arbeit wider, die den Wandel im Leseverhalten des 18. Jahrhunderts, die Auswirkungen des Werther-Romans und die Rolle der Medien im Umgang mit fiktionaler Gewalt beleuchten.
- Arbeit zitieren
- Katharina Bene (Autor:in), 2012, Der fehlgeleitete Leser. Werther-Fieber, Werther-Effekt und mediale Gewalt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215089