Was tun, wenn Grundschüler gewalttätig werden? Bestandsaufnahme und Handlungsmöglichkeiten


Examensarbeit, 2003

106 Seiten, Note: 1,0 (sehr gut)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Einordnung des Themas in die Grundschulpädagogik

2 Begriffsbestimmungen
2.1 Etymologie
2.2 Definitionen von Gewalt
2.3 Aggression
2.3.1 Begriffsklärung
2.3.2 Entstehungstheorien
2.3.3 Ziele und Folgen kindlicher Aggressivität
2.4 Zur Übereinstimmung bzw. Unterscheidung von Aggression und Gewalt

3 Erscheinungsformen von Gewalt
3.1 Betroffene Gruppen innerhalb des Schulsystems
3.2 Formen der Gewalt
3.2.1 Personale Gewalt
3.2.1.1 Physische Gewalt
3.2.1.2 Psychische Gewalt
3.2.2 Strukturelle Gewalt
3.2.3 Gewaltphänomene an Grundschulen

4 Empirische Befunde
4.1 Erträge der jüngeren Forschung
4.1.1 Formen und Häufigkeiten der Gewaltanwendung
4.1.2 Unterschiede hinsichtlich verschiedener Bezugsfelder
4.1.2.1 Schulform
4.1.2.2 Alter
4.1.2.3 Geschlecht
4.1.2.4 Region und Schulgröße
4.1.2.5 Interventionen bei Gewaltkonflikten
4.1.2.6 Zusammenfassung
4.1.3 Beziehungen zwischen Opfer- und Tätersein
4.1.3.1 Unterscheidung zweier informeller Kulturen
4.1.3.2 Was charakterisiert einen typischen Gewalttäter?
4.1.3.3 Was charakterisiert ein typisches Gewaltopfer?
4.2 Hat die Gewalt an Schulen im Zeitverlauf zugenommen?
4.2.1 Probleme bei der Erhebung anlässlich dieser Fragestellung
4.2.2 Das durch die Medien suggerierte Bild
4.2.3 Ausgewählte exemplarische Untersuchungen
4.3 Schwierigkeiten hinsichtlich der Übertragbarkeit auf Grundschulen

5 Gewalt in der Schule – importiert oder selbstproduziert? Eine Annäherung an die Ursachen von Gewalt
5.1 Wird Gewalt in die Schule hineingetragen?
5.1.1Familienverhältnisse
5.1.2 Gleichaltrigenbeziehungen
5.1.3 Konsum und Umgang mit den Medien
5.2 Wird Gewalt durch die Schule gefördert?
5.2.1 Schulform und Schulgröße
5.2.2 Lernkultur
5.2.3 Sozialklima
5.2.4 Schulorganisatorische Bedingungen
5.3 Bewertung

6 Handlungsmöglichkeiten für Lehrkräfte
6.1 Aspekte einer gewaltmindernden Pädagogik
6.1.1 Präventive Maßnahmen im schulischen Bereich
6.1.1.1 Bestandsaufnahme
6.1.1.2 Einführung von Regeln und Grenzensetzung
6.1.1.3 Entwicklung der Lernkultur
6.1.1.4 Entwicklung des Sozialklimas
6.1.1.5 Medienerziehung gegen Mediengewalt
6.1.1.6 Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen
6.1.1.7 Vermeidung von Etikettierungen bei schwierigen Schülern
6.1.1.8 Kooperation mit der Jugend- bzw. Familienhilfe
6.1.1.9 Weitere präventive Maßnahmen
6.1.1.10 Präventive Maßnahmen im außerschulischen Bereich
6.1.2 Intervention
6.1.3 Konfliktbewältigung
6.1.3.1 Allgemeine Grundlagen
6.1.3.2 Konfliktmanagement durch Mediation
6.1.3.3 Lernspiele zur Konfliktlösung und Streitschlichtung
6.2 Ausgewählte Programme gegen Gewalt an Schulen
6.2.1 Auswahlkriterien
6.2.2 Programme für Schüler am Beispiel von PETERMANN
6.2.2.1 Zielsetzung
6.2.2.2 Grundkonzeption
6.2.2.3 Ablauf einer Trainingssitzung
6.2.3 Programme für Lehrer am Beispiel des KTM von TENNSTÄDT
6.2.3.1 Zielsetzung
6.2.3.2 Grundkonzeption
6.2.3.3 Ausgewählte Programmelemente
6.2.4 Schulumfassende Maßnahmen nach OLWEUS
6.2.4.1 Zielsetzung und Grundprinzipien
6.2.4.2 Wesentliche Erkenntnisse
6.2.4.3 Konkrete Vorstellung des Interventionsprogramms
6.2.4.4 Bewertung des vorgestellten Interventionsprogramms
6.3 Abschließende Bemerkung

Nachwort

Anhang

Literaturverzeichnis

Erklärung

Vorwort

Ohne Zweifel hat das Thema „Gewalt an Schulen“ in Fernsehen, Rundfunk, Büchern, Zeitschriften und in Zeitungen seit einigen Jahren Hochkonjunktur. Titel wie „Die Fäuste werden immer kleiner“, „Die Aggressivität der Kinder wird immer stärker“ oder „Gewalt an der Tagesordnung“ werden heute kaum noch einen Leser schockieren. Gewalt an Schulen, insbesondere auch Meldungen von jugendlichen Mördern, ein Problem, das lange als rein amerikanisch abgestempelt wurde, ist heute auch bei uns in Deutschland nicht mehr klein zu reden.

Rückblickend kann angemerkt werden, dass die intensive Medienberichterstattung Anfang der 90er Jahre begann, vermutlich als Folge der allgemeinen Gewaltdiskussion im Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Gewaltverbrechen in Mölln, Hoyerswerda und Rostock. Ab 1992 in etwa wurde das Thema von der pädagogischen Profession stärker in den Blick genommen und diskutiert. Der Laie wurde allerspätestens nach dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002 durch den Schüler Robert Steinhäuser auf diese Gefahr an bundesdeutschen Schulen aufmerksam.

Die Frage, was uns heute dazu führt, das Thema Gewalt in dieser Ausführlichkeit zu behandeln, wie es derzeit getan wird, dürfte durch die vorhergehenden Anmerkungen wohl beantwortet sein. Aber hat die Gewalt an Schulen im Zeitverlauf tatsächlich zugenommen? Oder hat sich nur die angewandte Brutalität gesteigert? Welche Ursachen stecken hinter diesem Phänomen und vor allem was kann ich als Lehrkraft dagegen tun?

Fragen wie diese und andere sollen in der vorliegenden Arbeit thematisiert und beantwortet werden.

Die Schule, insbesondere die Grundschule, kann Gewalt sicher nicht aus der Welt schaffen, aber sie kann versuchen, das Klima zu verändern, in dem Gewalttaten möglich werden, und sie kann präventiv arbeiten.

So lange nur Klagen über die zunehmende Aggressivität und Gewalttätigkeit schon bei Grundschulkindern zu registrieren sind, wird sich wohl nichts verändern. Neue Perspektiven lassen sich nur eröffnen, wenn jeder bei sich und im Kleinen beginnt.

Sich informieren und handeln statt klagen und resignieren lautet die Devise. Einen Beitrag dazu möchte diese Arbeit leisten.

Als Lehramtsstudentin für die Grundschule sehe ich mich in der Verpflichtung, mich bereits während meines Studiums mit dem Phänomen der Gewalt in der Schule auseinander zu setzen. Gerade die Tatsache, dass manchen Kindern keine alternativen Handlungsformen zur Konfliktbewältigung bekannt sind, als gewalttätig zu werden, muss uns Lehrer nachdenklich werden lassen. So hat sich die vorliegende Zulassungsarbeit zum Ziel gesetzt, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie diese Gewaltspirale insbesondere in der Grundschule aufgebrochen werden kann. Diese schriftliche Hausarbeit sehe ich als hervorragende Chance an, mich grundlegend mit dem Thema Gewalt vertraut zu machen, Erscheinungsformen abzuklären, Ursachen aufzuspüren und vor allem Handlungsformen kennen zu lernen, die mir in meiner späteren Lehrtätigkeit an der Grundschule helfen können, vor diesem Problem nicht kapitulieren zu müssen, sondern ihm „Herr“ zu werden.

Anmerkung:

In der vorliegenden Arbeit wird der Verständlichkeit halber die einfache männliche Ausdrucksform gewählt. So wird in der Regel von Lehrern und Schülern gesprochen. Gemeint sind dabei immer beide Geschlechter gleichermaßen. Eine Abweichung findet nur dann statt, wenn die beiden Geschlechter nicht in derselben Weise angesprochen werden.

Einleitung

Ziel des 1. Kapitels ist die Einordnung der Thematik in den Rahmen der Grundschulpädagogik.

Im folgenden 2. Kapitel soll dem Leser der Begriff „Gewalt“ näher gebracht werden. Aufgrund des uneinheitlichen Verständnisses muss auch der benachbarte Begriff „Aggression“ definiert werden, sowie auf die Frage eingegangen werden, inwieweit sich beide Begrifflichkeiten überschneiden bzw. voneinander abheben.

Kapitel 3 beschäftigt sich mit den Erscheinungsformen von Gewalt in der Grundschule. Die personale, die sich in physische und psychische Gewalt aufteilt, wird von der strukturellen Gewalt unterschieden. Anschließend werden einige in der Grundschule auftretende Gewaltformen dargestellt.

Das darauf folgende 4. Kapitel möchte dem Leser einen Überblick über die aktuellen empirischen Befunde verschaffen. Ausgehend von den Erträgen der jüngeren Forschung soll die Frage nach der Richtigkeit des durch die Medien vermittelten Bildes geklärt werden. Ob die Gewalt unter Schülern tatsächlich derart drastisch zugenommen hat, wird auf der Basis einiger Untersuchungen zu beantworten sein. Letztlich wird es in diesem Kapitel um die Übertragung auf die Grundschule und damit verbundene Schwierigkeiten der besprochenen Befunde gehen.

Kapitel 5 hat es sich zum Ziel gesetzt unter der Fragestellung „Gewalt in der Schule – importiert oder selbstproduziert?“ zentrale Ursachen von Gewalthandeln aufzuspüren. Familienverhältnisse, Gleichaltrigenbeziehungen sowie der Umgang mit und Konsum von Medien müssen daraufhin untersucht werden, ob sie Gewalttendenzen fördern und somit dafür verantwortlich sind, dass Gewalt in die Grundschule hineingetragen wird. Auf der anderen Seite ist die Frage zu klären, ob Gewalt vielleicht auch durch die Schule selbst gefördert wird. Wie müssen Lernkultur, Sozialklima und schulorganisatorische Bedingungen gestaltet sein, damit sie keinen Nährboden für Gewalthandlungen darstellen? Eine abschließende Bewertung des Ursachengefüges wird das Kapitel abrunden.

Da es nun aber nicht ausreichen kann, bei den Ursachen stehen zu bleiben, wird ein 6. Kapitel, das zudem den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet, unerlässlich. Im Zentrum dessen werden Handlungsmöglichkeiten für Lehrkräfte stehen. Zuerst wird es um die Vorstellung von Aspekten einer gewaltmindernden Pädagogik gehen. Präventive Maßnahmen für den schulischen wie den außerschulischen Kontext, konkrete Interventionshilfen sowie Möglichkeiten der Konfliktbewältigung im Sinne des Konfliktmanagements werden breiten Raum einnehmen. Des Weiteren werden ausgewählte Programme gegen Gewalt an Schulen vorgestellt werden. Diese wurden danach unterteilt, ob sie für die Schülerschaft, die Lehrkräfte oder umfassend für die gesamte Schule auf sämtlichen Bereichen konzipiert wurden.

1 Einordnung des Themas in die Grundschulpädagogik

Um das Thema dieser Zulassungsarbeit in einen gewissen Rahmen zu betten, soll an erster Stelle eine Einordnung des Gegenstandes in die Grundschulpädagogik erfolgen.

Der bayerische Lehrplan von 2000 versteht neben der Bildung auch Erziehung als Aufgabe der Grundschule.[1] Insbesondere durch den erzieherischen Auftrag trägt die Grundschule die Verantwortung, die Schüler als ganze Menschen in den Blick zu nehmen. Jedes Kind hat als individuelle Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen das Recht darauf, ernstgenommen und gefördert zu werden, so dass es die Grundschule als positive Chance für seine weitere Entfaltung erleben kann.[2] Die Erziehung, die in der Grundschule zu leisten ist, sollte also an der Individualität, am Bedürfnis nach Zuwendung und am Streben nach Anerkennung und Leistung jedes einzelnen Kindes ansetzen. „Die Grundschule der Vielfalt muss deshalb auch als humane Schule des Respekts vor der Würde und Einzigartigkeit der betroffenen Kinder (und Lehrkräfte) gedacht werden.“[3] Die Stichwörter „humane Schule“ und „Respekt vor der Würde“ machen deutlich, dass es Ziel der Grundschule sein muss, die ihr anvertrauten Schüler vor gewalttätigen Angriffen, welcher Art auch immer, zu schützen. Ihrem Auftrag gemäß soll die Grundschule gleiche Bildungschancen für alle Kinder herstellen und eigenständige Ziele der sozialen Kompetenz gegenüber den Zielen und Erscheinungen im sozialen Erfahrungsraum Gesellschaft mit Egoismus, Konkurrenz, Kälte, Isolation, Macht und Mangel an Zivilcourage gewinnen.[4] Die soziale Kompetenz beinhaltet unter anderem Gesprächsfähigkeit und Regelbewusstsein. So zählt es zu den Aufgaben der Grundschule, will sie den ihr gegebenen Auftrag gewissenhaft erfüllen, die soziale Kompetenz ihrer Schüler auszubilden und zu stärken. Kahlert betont in diesem Zusammenhang die Aufgabe des sozialwissenschaftlichen Lernbereichs des Sachunterrichts, nämlich Einsichten für das Verständnis sowie Fähigkeiten und Verantwortung für die bewusste Gestaltung sozialer Beziehungen anzubahnen.[5] Eine sog. bewusste Gestaltung sozialer Beziehungen kann nicht meinen, dass über Akte der Gewalt in der Schule hinweggesehen werden kann. Die Sozialisationsleistungen, die die Grundschule zu erfüllen hat, die sowohl den Einzelnen als auch die Qualität des Zusammenlebens fördern wollen, „[...] sind in hochdifferenzierten und offenen Gesellschaften mit ihrer Vielfalt an Lebensgewohnheiten, Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten von keiner anderen Institution als der Schule mit hinreichender Zuverlässigkeit zu erwarten.“[6]

Das sollte meines Erachtens insbesondere im Hinblick auf die präventiven Maßnahmen gegen Gewalt als Chance angesehen werden, den Schülern schon früh klarzumachen, dass Gewalt nie zur Konfliktlösung, sondern allenfalls zu deren Intensivierung beitragen kann. Hervorgehoben wird die Bedeutung des sozialen Lernens auch unter den fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsaufgaben im noch relativ neuen Lehrplan für die bayerischen Grundschulen. Durch die Förderung sozialer Verhaltensweisen wie Rücksichtnahme, Solidarität, Toleranz und die Bereitschaft, Konflikte friedlich zu lösen oder auszuhalten soll die Schülerschaft auf das Leben in der demokratischen Gesellschaft vorbereitet werden.[7]

Weiterhin sollen sie begreifen, „dass die eigene Freiheit und Selbstverwirklichung dort Grenzen hat, wo Rechte anderer berührt werden, dass es gilt, annehmbare Kompromisse zu finden und notwendige Einschränkungen zu akzeptieren.“[8] Das Problem aggressiver Störungen sollte vor allem aus dem Grund nicht heruntergespielt werden: Jedes Kind das unter Gewalttaten leiden muss, ist eines zu viel. Innerhalb des sozialen Lernens sollte also die Basis für einen fairen, offenen und gewaltfreien Umgang miteinander grundgelegt werden. Somit erscheint es mir durchaus legitim, das Thema „Gewalt an Schulen“ im Rahmen der Grundschulpädagogik zu behandeln.

2 Begriffsbestimmungen

Um eine erste Annäherung an das eigentliche Thema „Gewalt an Schulen“ zu wagen, halte ich es für ratsam, zunächst den Gewaltbegriff genau zu untersuchen. Da wissenschaftliches Argumentieren immer Begriffsklarheit voraussetzt, soll eine begriffliche Präzisierung von Gewalt an den Anfang der Arbeit gestellt werden.

In der pädagogischen und der psychologischen Diskussion und Literatur werden die Termini „Aggression“ und „Gewalt“ teilweise völlig verschieden verstanden. Teilweise werden sie gleichgesetzt, teilweise erfolgt eine Abgrenzung voneinander.

Das erste Kapitel beschäftigt sich deswegen ausgehend von der Wörterherkunft mit verschiedenen Definitionen zu Gewalt und Aggression, die sich in der neueren Literatur finden lassen, um dem Leser einen Überblick über dieses breite Feld zu verschaffen. Darüber hinaus soll untersucht werden, inwiefern eine Übereinstimmung zwischen den beiden Begriffen vereinbart werden kann bzw. inwieweit Unterscheidungen getroffen werden müssen.

2.1 Etymologie

Das Wort „Gewalt“ entstand aus dem althochdeutschen waltan, was soviel bedeutete wie „stark sein, beherrschen“.[9]

Das Nomen „Aggression“ bezeichnete ursprünglich einen kriegerischen Angriff; das Wort leitet sich vom lateinischen ag-gredi ab, was „herausschreiten, angreifen“ meint.[10] Verwandt damit ist auch das lateinische agredir, also „auf etwas zugehen, etwas in Angriff nehmen“; impliziert ist hier also eine ganze Skala von Verhaltensweisen, die das Gegenteil von Passivität und Zurückhaltung darstellen.[11]

Ergänzend sei erwähnt, dass in den sumerischen und ägyptischen Schreiberschulen Schlagen das am häufigsten gebrauchte Erziehungsmittel war, so verwundert es auch wenig, dass das ägyptische Wort „sb3“ nicht nur für „erziehen“ steht, sondern auch für „unterweisen“, „bestrafen“ und „züchtigen“.[12] Das darin enthaltene Zeichen „Schlagender Mann“ (links in der Abbildung) verdeutlicht, dass Erziehen mit Schlagen assoziiert wurde.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2 Definitionen von Gewalt

Erschwerenderweise liegt dem Begriff „Gewalt“ kein einheitliches Verständnis zu Grunde. Um sich der Bedeutung des Ausdrucks zu nähern, liegt es auf der Hand, hierbei mehrere Autoren zu Rate zu ziehen.

Befragt man die Microsoft Enzyklopädie Encarta 98 zum Stichpunkt „Gewalt“, so kann man folgendes lesen:

„Gewalt, Anwendung von physischem oder psychischem Zwang. Im Strafrecht führt die Anwendung von Gewalt im Zusammenhang mit verschiedenen Straftaten zu einem höheren Strafmaß, z.B. bei Nötigung, Erpressung, Vergewaltigung und Raub. Gewalt ist ein zwangsweises Einwirken auf den Willen des Opfers. Die Gewalteinwirkung kann den Willen des Opfers völlig ausschalten, z.B. wenn der Täter sein Opfer niederschlägt. Die Gewalteinwirkung kann aber auch nur mittelbar zu dem vom Täter gewollten Verhalten führen, wie z.B. beim Bedrohen eines Dritten mit einer Waffe.“[13]

Bezogen auf die Schule definiert Olweus „Gewalttätigkeit“, das er mit „Mobben“ gleichsetzt, wie folgt:

„Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausgesetzt oder wird gemobbt, wenn er oder sie wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist“.[14] Weiter geht er davon aus, dass eine negative Handlung dann vorliegt, wenn jemand absichtlich einem anderen Unannehmlichkeiten oder Verletzungen zufügt; wesentlich hierbei ist, dass ein Ungleichgewicht der Kräfte vorliegen muss, wenn der Begriff Gewalt benutzt wird.[15] Gewalttendenzen treten besonders häufig dann auf, wenn die Schüler nicht selbst über die Zusammensetzung ihrer Gruppe entscheiden dürfen und wenn kein Erwachsener anwesend ist.[16]

Nach Bründel entsteht Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen und stellt die „Endphase aufgeschaukelter Konflikte, vielfältiger Missverständnisse und Fehlinterpretationen dar“.[17] Sie ist ein Resultat aus Unzufriedenheit und wird als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt, was jedoch nur zu erneuten Auseinandersetzungen führt.

Busch und Todt machen deutlich, dass der Begriff „Gewalt“ kaum eingrenzbar ist und verschiedenste Phänomene umfasst. Häufig wird dabei wohl an Gewalt zwischen Schülern und gegenüber dem Gebäude oder der Schuleinrichtung gedacht (Vandalismus), weniger oft an Gewalt von Lehrern, der Schule als Institution oder von Eltern gegenüber den Schülern.[18]

2.3 Aggression

2.3.1 Begriffsklärung

In der Psychologie versteht man unter „Aggressionen“ Verhaltensweisen, bei denen „ein gerichtetes Austeilen schädigender Reize erkannt wird“.[19] Dabei meint Aggression in erster Linie ein Angriffspotential, während die ausgeführte Handlung mit Aggressivität bezeichnet wird. Aggressive Impulse gehören zur Grundausstattung des Menschen und sind notwendig für die Lebensbewältigung. Bestimmte Formen von Aggressionen werden in unserer Gesellschaft durchaus geschätzt (so die instrumentelle oder konstruktive Aggression, die sich in Durchsetzungsfähigkeit oder Konkurrenzorientierung zeigt), gelten als gerechtfertigt (z.B. die defensive Aggression im Sinne von Notwehrhandlungen) oder werden gebilligt (wie die expressive Aggression, die sich im Sport zeigen kann).[20]

2.3.2 Entstehungstheorien

Der eben genannten Sichtweise liegen drei Entstehungstheorien zu Grunde. Zunächst ist die Triebtheorie zu nennen. Aggression wird hier interpretiert als angeborener Instinkt. Diese Annahme vom angeborenen Aggressionstrieb scheint inzwischen wissenschaftlich widerlegt zu sein, denn laut Gratzer ist es nicht die Aggressivität, die Konflikte auslöst, sondern es sind die Konflikte, die Aggressivität auslösen.[21] Zudem lässt diese Theorie dem Lehrer nur wenig Spielraum zur Intervention bzw. zur Prävention und ist daher aus pädagogischer Sicht wenig hilfreich.

Die Frustrationstheorie hingegen geht davon aus, dass eine erlebte Frustration Aggressionen nach sich ziehen kann.[22] Wichtig dabei ist, dass nicht das Störverhalten als solches die Aggression veranlasst, sondern das Verhalten abhängig ist von der subjektiven Interpretation des Betroffenen, d.h. nicht jede Frustration muss zu einer aggressiven Reaktion führen. In Bezug auf den Unterricht bedeutet das, dass sowohl Mangel (z.B. Unterforderung, Langeweile, Monotonie) wie auch Überfluss (z.B. stoffliche Überforderung, zu hohes Lerntempo, Materialflut, zu viele Leistungserhebungen) unangenehm sind und frustrieren können.[23]

Die letzte wesentliche Theorie ist die Lerntheorie, die Aggression als angelerntes Verhalten deutet.[24] Da die Beantwortung der Frage „Wie laufen Lernprozesse eigentlich ab?“ ein komplett eigenständiges Thema darstellt, soll an dieser Stelle lediglich auf drei besonders nützliche Lernkonzepte hingewiesen werden. Neben dem klassischen Konditionieren, wie es zuerst von Pawlow untersucht wurde und dem operanten Konditionieren, auch Lernen am Erfolg genannt, mit dem sich vornehmlich Skinner beschäftigte, ist vor allem das Lernen am Modell bzw. das Beobachtungslernen entscheidend.[25] Erst seit Bandura und Walters ist das Phänomen, dass auch durch bloße Beobachtung neue Verhaltensweisen gelernt werden, Gegenstand der Psychologie.

Insgesamt jedoch muss deutlich hervorgehoben werden, dass monokausale Ansätze zur Erklärung aggressiven Verhaltens vermutlich zu kurz greifen und man zu einer einzelnen Handlung immer mehrere Erklärungsansätze finden kann, die sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. Ein multikausaler Ansatz, der verschiedene Motivationen berücksichtigt, die zu aggressivem Verhalten geführt haben, eröffnet auch eine unvoreingenommene Perspektive, um unmittelbare Konsequenzen zur Verminderung von Gewalt ableiten zu können.[26] So kann folglich davon ausgegangen werden, dass Gewalt bei Weitem nicht das homogene Konstrukt darstellt, wie es die Vertreter der einzelnen Erklärungsansätze vermitteln wollen.

2.3.3 Ziele und Folgen kindlicher Aggressivität

Mit aggressivem Verhalten können Kinder das familiäre und schulische Geschehen ein Stück weit lenken. Aggressives Verhalten kann ein Appell an die Umwelt sein, die Hilflosigkeit eines Kindes verdeutlichen oder der brutalen Durchsetzung eigener Interessen dienen.[27] Bekannte Auslöser für Aggressivität sind neben der Einengung von Revieren und der Behinderung bei der Realisierung von Zielen auch die Erfahrung von Bedrohung, Rangstreitigkeiten, Enttäuschung und Umweltfaktoren wie z.B. Lärm, Musik, Bilder oder Filme.[28]

Momentan sind drei wesentliche Zielsetzungen kindlicher Aggressivität bekannt. Zum einen die Aggressivität aus Frustration, zweitens die aggressive soziale Exploration und drittens die spielerische Aggression.[29]

Oft ist aggressives Verhalten die Folge einer Enttäuschung oder einer Frustration. Kinder versuchen durch Gewalthandeln einen nicht erfüllten Wunsch doch noch durchzusetzen.

Die aggressive soziale Exploration impliziert die kindliche Zielsetzung, den eigenen Verhaltensspielraum auszuloten.

Und schließlich treten, was bei der Beobachtung von Kindergruppen immer deutlich ins Auge fällt, auch spielerische Aggressionen auf, welche auch als „spielerischer Kampf“ bezeichnet werden können. Hierdurch wird vorrangig versucht, soziale Kontakte zu knüpfen bzw. zu festigen.

Vor diesem Hintergrund betrachtet sind Aggressionen bei Kindern also als sinnvoll und durchaus normal anzusehen. Deshalb muss das Ziel vielmehr darin bestehen, das vorherrschende aggressive Verhalten in sozial verträgliche Bahnen zu lenken und nicht aggressives Verhalten gänzlich abschaffen zu wollen. So ist es entscheidend, den Kindern Spielräume und Möglichkeiten des Agierens anzubieten, wo Beziehungslernen ermöglicht wird, da Aggression ja immer auf ein Gegenüber bezogen ist, so dass Beziehungsstörungen weitgehend vermieden werden können, die ihren Ausdruck auch in Gewalttätigkeiten finden können.[30]

So verschwommen die Ziele der Aggression im Einzelnen sein mögen, so eindeutig sind die Folgen: „Aggressives Verhalten bewirkt eine Verhaltenseinschränkung und führt damit zu einer verringerten Fähigkeit, Probleme konfliktfrei zu lösen.“[31]

2.4 Zur Übereinstimmung bzw. Unterscheidung von Aggression und Gewalt

Bründel und Hurrelmann setzen den Gewaltbegriff mit Aggression gleich, wobei sie Aggression als Handlung, die auf die absichtliche Verletzung einer Person zielt, definieren.[32]

Hornberg, Lindau-Bank und Zimmermann jedoch warnen davor, die beiden Begriffe synonym zu gebrauchen. Aggression umfasse eine ganze Skala von Verhaltensweisen, wobei einige auch notwendig sind (z.B. expressive Aggression bei Zorn oder Wut), jedem sollte es daher zustehen, Zorn und Ärger zu zeigen.[33] Von Gewalt wird erst gesprochen, wenn sich Aggression schädigend, destruktiv oder aversiv zeigt, deshalb sehen sie es als Aufgabe der Schule an, Möglichkeiten zu schaffen, dass die Kinder Konflikte verbal und auf nicht verletzende Art und Weise austragen können.[34] Hierauf wird näher in Kapitel 6 eingegangen, wo die Handlungsmöglichkeiten der Lehrkräfte im Zentrum stehen werden.

Auch von Tillmanns Aggressionsverständnis (unter Punkt 2.3) ausgehend, ist Gewalt als eine Untergruppe bzw. als eine Teilmenge von Aggressionen zu verstehen. Dieses Verständnis scheint mittlerweile am populärsten in der aktuellen Literatur zu sein. „Gewalt“ bezeichnet so eine glaubwürdig angedrohte oder ausgeübte Aggression gegen einen anderen Menschen. Unter einen wissenschaftlichen Gewaltbegriff fällt also lediglich die destruktive Aggression, d.h. alle feindseligen Handlungen, die mit der Absicht ausgeführt werden, eine andere Person physisch oder psychisch zu verletzen. Anhand dieser Definition wird deutlich, dass, was den schulischen Bereich angeht, die Termini Gewalt und Aggression zwar weite Überschneidungsbereiche aufweisen, aber dennoch nicht deckungsgleich sind. So kann die Zerstörung von Sachgegenständen, der sog. Vandalismus, nicht unter den Begriff der „Aggression“ subsumiert werden, obwohl er einen wichtigen Aspekt körperlich ausgeübter Gewalt in der Schule darstellt.[35] Zugleich können auch bestimmte Formen der Aggression, so z.B. die phantasierte Aggression oder die Autoaggression, nicht zu Gewalttaten gezählt werden.

Zusammenfassend lässt sich also nach Tillmann festhalten, dass sich zwar Unterschiede in den Randgebieten beider Begriffe befinden. Im Kernbereich jedoch bezeichnen beide aber die gleichen Erscheinungsweisen, nämlich die körperlichen und psychischen Attacken gegen andere.[36]

3 Erscheinungsformen von Gewalt

3.1 Betroffene Gruppen innerhalb des Schulsystems

Gewalt in der Schule ging zu früheren Zeiten in der Regel von der Lehrkraft aus. Die Erklärung hierfür lag im jeweiligen Zeitgeist begründet. Die in Deutschland seit 1972 verbotene körperliche Züchtigung galt schließlich ebenso außerhalb der Schulen als gängige Disziplinierungsmaßnahme, zum anderen lag das Phänomen aber auch in der mangelnden pädagogischen Eignung und Ausbildung der Lehrerschaft begründet.[37] Heute liegt der Schwerpunkt der Gewalttätigkeiten neben dem Vandalismus innerhalb der Schülerschaft.

Gewaltakte unter Schülern sind mit Sicherheit kein neues Phänomen, sondern standen seit jeher dort auf der Tagesordnung, wo Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, Wünschen und Interessen aufeinandertreffen. Wenn im Folgenden von Gewalt gesprochen wird, so sind immer verschiedene Formen und Ausdrucksweisen unter Schülern gemeint.

3.2 Formen der Gewalt

3.2.1 Personale Gewalt

3.2.1.1 Physische Gewalt

Die physische Gewalt oder unmittelbare Gewalt umfasst Schädigungen und Verletzungen von Personen durch körperliche Kraft und Stärke und von Gegenständen. Im ersten Fall spricht man von Gewalttätigkeiten, im zweiten von Vandalismus. Die Bestimmung eines solchen Verhaltens ist relativ einfach, da sie auf beobachtbarem Verhalten, d.h. offenen Angriffen gegenüber dem Opfer basiert.

Gewalttätigkeiten beziehen sich überwiegend auf bewusst herbeigeführte Körperverletzungen sowie sonstige auf den Körper des Opfers gerichtete Einwirkungen, auch wenn diese nicht den Grad einer Verletzung erreichen.[38] Die körperliche Gewalt spielt sich vornehmlich zwischen den Schülern ab, auch wenn vereinzelt über körperliche Gewalt von Schülern gegen Lehrer berichtet wird.[39]

Vandalismen im Kontext der Grundschule werden als Handlungen angesehen, die sich in schädigender Weise gegen Schulinventar und Eigentum von Mitschülern bzw. Lehrer richten.

3.2.1.2 Psychische Gewalt

Auch und vor allem psychische Gewaltformen können, insbesondere wenn sie wiederholt erfolgen, gravierende psychische Schädigungen hervorrufen. Dazu zählen beispielsweise Ängstlichkeit, Sprechhemmungen, ein herabgesetztes Selbstwertgefühl, Depressionen und andere psychosoziale Belastungen.[40] Bründel zählt zur psychischen Gewalt die Schädigung und Verletzung eines anderen durch Abwendung, Ablehnung, Abwertung, durch Entzug von Vertrauen, durch Entmutigung und emotionales Erpressen.[41] Olweus spricht weiter von gesellschaftlicher Ausgrenzung und absichtlichem Ausschluss.[42] Oft ist in dem Zusammenhang auch die Rede von verbaler Gewalt, also der Schädigung und Verletzung eines anderen durch beleidigende, erniedrigende und entwürdigende Worte. Dies kann auch in Form von Spott, Auslachen, dem Ziehen gemeiner Gesten oder Beschimpfen geschehen.

3.2.2 Strukturelle Gewalt

Betrachtet man Akte der Gewalt als Ausbeutung, weil Kindern soziale und psychische Ressourcen vorenthalten oder genommen werden, dann kann auch von „struktureller Gewalt“[43] gesprochen werden. Durch das vorherrschende Gefüge der Machtverhältnisse in einem Beziehungsgeflecht oder in sozialen Institutionen kann Kindern Schaden zugefügt werden, indem ihre psychischen, physischen und sozialen Bedürfnisse unterdrückt oder in ihrer Entfaltung gehindert werden. Zu nennen sind schulische Faktoren wie Leistungs- und Konkurrenzorientierung, Unterdrückung des kindlichen Bewegungsdrangs oder der bauliche Zustand der Schule, die insofern gewalttätiges Verhalten begünstigen können, wenn sie es erschweren, Bedürfnisse der Kinder nach Geborgenheit und Anerkennung zu erfüllen.[44]

3.2.3 Gewaltphänomene an Grundschulen

Laut Handbuch der Schulberatung lassen sich an Haupt- und Förderschulen und explizit auch erwähnt an Grundschulen folgende Gewaltphänomene finden:

„Körperverletzung, Beleidigung gegen Schüler, Beleidigungen gegen Lehrer, Nötigung, Bedrohung, Erpressung, Raub, räuberische Erpressung, sexuelle Belästigung, Drogen, Alkohol, Waffenbesitz, Provokation gegen Lehrer“[45]

Genauere Erläuterung bedarf meines Erachtens die sexuelle Gewalt, deren Erwähnung vielleicht manch einer im Rahmen der Grundschule abtun möchte. Sie meint die Schädigung und Verletzung eines anderen durch erzwungene intime Körperkontakte oder andere sexuelle Handlungen, die dem Täter eine Befriedigung eigener Bedürfnisse ermöglichen. Dies äußert sich in der Grundschule z. B. darin, dass Jungen den Mädchen die Röcke hochheben oder sie gegen deren Willen anfassen.[46] Weitere Erscheinungsformen von Gewalt sind die frauenfeindliche, also die physische, psychische, verbale oder sexuelle Form der Schädigung und Verletzung von Mädchen, die unter Machtausübung und in diskriminierender und erniedrigender Absicht vorgenommen wird sowie die rassistische Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen Kindes aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seines Aussehens oder seiner Religion.“[47]

An der Stelle erscheint es sinnvoll, eine weitere Quelle, nämlich das Jahrbuch der Schulentwicklung, heranzuziehen, um mögliche Auslöser dafür näher zu beleuchten. Hier werden folgende sieben Erscheinungsformen genannt, wobei in den meisten Fällen zugleich verursachende Gründe angeführt werden:

„Rang- und Revierkämpfe, wobei innerhalb vorgegebener Regeln um die vermeintlich günstigen Plätze gekämpft wird.

Soziale Gestaltungswünsche, die z.B. dann in gewaltförmiges Handeln münden können, wenn ein Mitschüler nicht das tut, was der andere von ihm bei einem Spiel erwartet.

Gewalt als Mittel der spontanen Beziehungsgestaltung, bei der „schwächere“ Kinder zuweilen zu Opfern willkürlich gewalttätig agierender „stärkerer“ Mitschülerinnen und Mitschüler werden.

Gelegenheitsgewalt, die vor allem in Situationen der Langeweile auftritt und eine eigene Dynamik annimmt, bei der zufällig „ausgewählte Kinder“ von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in immer groberer Form „geneckt“ werden.

Gewalt als Mission, die dann zu beobachten ist, wenn ein offensichtlich falscher Sachverhalt behauptet, ein Werturteil gesprochen und ein Sündenbock gewählt und verfolgt wird.

Gewalt als depressive Destruktionsabsicht, die aus Ohnmachts- und Isolationserfahrungen hervorgeht und sich gegenüber Dingen und Menschen entlädt.

Und schließlich Gewalt als Folge von sozialen Missverständnissen, z.B. wenn ein Kind glaubt, ein Spielzeug gehöre nun ihm, obwohl ein anderes Kind es ihm lediglich zum Spielen zeitlich befristet überlassen hat.“[48]

4 Empirische Befunde

4.1 Erträge der jüngeren Forschung

4.1.1 Formen und Häufigkeiten der Gewaltanwendung

Ein Großteil der vorliegenden Studien versuchte über Schüler- und Lehrerbefragung zu ermitteln, welche Gewalterscheinungen im schulischen Kontext wie häufig vorkommen. Dabei zeigte sich nach Tillmann eindeutig, dass die besonders „harten“, überwiegend auch strafrechtlich relevanten Delikte recht selten vorkommen wie z.B. Erpressungen, schwere Körperverletzungen oder Bandenschlägereien.[49] Zugleich jedoch stimmen die vorliegenden Untersuchungen darin überein, dass Beschimpfungen, Beleidigungen und verbale Attacken zwischen Schülern in der Grundschule wie auch in allen anderen Schulformen weit verbreitet sind.[50] Es muss also davon ausgegangen werden, dass verbale Angriffe unterschiedlichster Art den alltäglichen Kommunikationsstil in Grundschulen prägen.

4.1.2 Unterschiede hinsichtlich verschiedener Bezugsfelder

4.1.2.1 Schulform

Hinsichtlich der einzelnen Schularten lässt sich zusammenfassend feststellen, dass sich das jeweilige gesellschaftliche Prestige der Schulform auch in den Zahlen der Gewalthäufigkeit abbildet. So steht bei allen Formen körperlicher Aggressivität die Sonderschule für Lernbehinderte an der Spitze, dicht gefolgt von der Hauptschule, Mittelwerte nehmen Real- und Gesamtschulen ein, während Gymnasien die niedrigsten Häufigkeitswerte aufweisen.[51] Ähnliches gilt auch für weitere schulische Leistungsindikatoren, so z.B. für das Sitzenbleiben: Leistungsschwache Schüler sind häufiger in Gewalthandlungen verwickelt als andere.[52]

4.1.2.2 Alter

Der für das Land Hessen repräsentativen Bielefelder Untersuchung zufolge liegt nach Holtappels und Meier die Gewaltspitze bei den 13- bis15-jährigen, also im 7.-9. Jahrgang.[53] Danach nehmen die Häufigkeiten von Gewalthandlungen in der Regel wieder ab. Entsprechend davor, also im Grundschulalter, kann folglich keineswegs von einer Gewaltspitze die Rede sein.

4.1.2.3 Geschlecht

Alle bislang vorliegenden Studien bestätigen deutliche Geschlechtsunterschiede. Jungen setzten sich weit häufiger mit körperlicher Kraft durch als Mädchen, wobei nicht übersehen werden darf, dass auch eine kleine Minderheit von Mädchen vor härteren körperlichen Attacken Gebrauch macht.[54] Hinsichtlich der verbalen Gewalt sind die Geschlechtsunterschiede weit geringer.[55]

4.1.2.4 Region und Schulgröße

Entgegen der weit verbreiteten Meinung sind in Bezug auf Schulgröße und Region große Schulen und Schulen in Städten nicht häufiger durch aggressives Verhalten belastet als kleinere Schulen und Schulen auf dem Land.[56]

4.1.2.5 Interventionen bei Gewaltkonflikten

Unter Bezugnahme auf eine repräsentative empirische Studie an sächsischen Schulen (ein Parallelprojekt zur oben genannten Bielefelder Untersuchung), in der 10- bis 16-jährige und deren Lehrkräfte zu ihrer Wahrnehmung von Gewalt an Schulen befragt wurden, wird deutlich, dass Lehrkräfte in Konfliktsituationen häufiger eingreifen als Schüler.[57] Demnach sagen etwa zwei Drittel der Schüler, dass Lehrer oft bzw. sehr oft bei Konflikten eingreifen, wobei gleichzeitig 95% der Lehrer im Selbstreport angeben, dass sie intervenieren würden; parallel kann davon ausgegangen werden, dass rund die Hälfte aller Schüler bei körperlichen Attacken nicht eingreift.[58] Zieht man den Rückschluss, stimmt hier der Aspekt bedenklich, dass folglich ein Drittel der Schüler der Meinung ist, dass ihre Lehrer zu wenig eingreifen bzw. bei Gewalt nur zu- oder wegschauen. Ebenso kritisch ist die Tatsache zu bewerten, dass so viele Schüler nur Zuschauer von Gewalthandlungen sind, statt dem ein Ende zu bereiten. So können gewalttätige Handlungen an Legitimationsgrund gewinnen und zunehmend als „normal“ angesehen werden.

4.1.2.6 Zusammenfassung

Die dargestellten Befunde erlauben eine Fokussierung auf diejenige Schülergruppe, die besonders durch gewaltförmige Auseinandersetzungen belastet ist. So sind es vor allem „männliche Heranwachsende, insbesondere 13- bis 15-jährige Schüler, insbesondere solche mit schulischen Leistungsproblemen.“[59]

4.1.3 Beziehungen zwischen Opfer- und Tätersein

4.1.3.1 Unterscheidung zweier informeller Kulturen

Das in vielen Köpfen verankerte Bild vom aggressiven Mehrfachtäter einerseits und dem hilflosen Opfer andererseits ist nicht in allen Fällen richtig, oft stellt sich die Realität weitaus komplexer dar. So kann zwischen Opfer und Täter vor allem bei massiven Gewalthandlungen nicht eindeutig unterschieden werden, da etwa 50% der Opfer auch als Täter in Erscheinung treten und umgekehrt.[60] So erscheint es sinnvoller, zwischen zwei informellen Kulturen in der Schülerschaft zu unterscheiden. Auf der einen Seite stehen solche, die sich von gewalttätigen Auseinandersetzungen fernhalten und deshalb weder als Opfer noch als Täter in Erscheinung treten und auf der anderen Seite stehen die mit einer eher aggressiven Kultur, die einmal zum Opfer und einmal zum Täter werden.[61] Opfer und Täter sollten also in keinem Fall isoliert voneinander betrachtet werden.

[...]


[1] vgl. Lehrplan für die Grundschulen in Bayern. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus. München 2000, 5.

[2] vgl. Drews, Ursula/ Schneider, Gerhard/ Wallrabenstein, Wulf: Einführung in die Grundschulpädagogik. Weinheim, Basel: Beltz 2000, 94.

[3] Drews 2000, 94.

[4] vgl. Drews 2000, 98.

[5] vgl. Kahlert, Joachim: Sozialwissenschaftlicher Lernbereich im Sachunterricht. In: Einsiedler, Wolfgang/ Götz, Margarete/ Hacker; Hartmut/ Kahlert, Joachim/ Keck, Rudolf W./ Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001, 517.

[6] Kahlert 2001, 517.

[7] vgl. Lehrplan für die Grundschule 2000, 16.

[8] Lehrplan für die Grundschule 2000, 16.

[9] vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Bd.7. Hrsg.: Dudenredaktion. 3. Auflage. Mannheim: Dudenverlag 2001, 275 und 909.

[10] vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch 2001, 24.

[11] vgl. Preuschoff, Axel/ Preuschoff, Gisela: Gewalt an Schulen und was dagegen zu tun ist. 4. Auflage. Köln: Papy Rossa Verlag 2000, 21.

[12] vgl. Schneider, Michael: Vom Opfer zum Täter? Gewalt in Erziehung und Schule. Hrsg. vom Bayerischen Nationalmuseum München und dem Institut für Anthropologisch-Historische Bildungsforschung der Universität Erlangen-Nürnberg. Heft 14. Nürnberg: City Print GmbH 2000, 4.

[13] Microsoft Encarta 98 Enzyklopädie. Stichwort: Gewalt.

[14] Olweus, Dan: Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können. 2. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber 1996, 22.

[15] vgl. Olweus 1996, 22f.

[16] vgl. Olweus 1996, 72.

[17] Bründel, Heidrun/ Hurrelmann, Klaus: Gewalt macht Schule. Wie gehen wir mit aggressiven Kindern um? München: Droemer Knaur 1997, 28.

[18] vgl. Busch, Ludger/ Todt, Eberhard: Gewalt in der Schule. In: Rost, Detlef (Hrsg.): Handwörterbuch pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz 2001, 225.

[19] Tillmann, Klaus-Jürgen/ Holler-Nowitzki, Birgit/ Holtappels, Heinz Günter/ Meier, Ulrich/ Popp, Ulrike: Schülergewalt als Schulproblem. Verursachende Bedingungen, Erscheinungsformen und pädagogische Handlungsperspektiven. 2. Auflage. Weinheim, München: Juventa 2000, 23f.

[20] vgl. Valtin, Renate: Der Beitrag der Grundschule zur Entstehung und Verminderung von Gewalt. In: Valtin, Renate/ Portmann, Rosemarie (Hrsg.): Gewalt und Aggression: Herausforderungen für die Grundschule. Frankfurt a.M.: Beltz 1995, 9.

[21] vgl. Gratzer, Werner: Mit Aggressionen umgehen. Braunschweig: Westermann 1997, 13.

[22] vgl. Miller, Reinhold: Umgang mit Aggressionen und Gewalt in der Schule und Konsequenzen für die LehrerInnenaus- und –fortbildung. In: Becker, Georg/ Coburn-Staege, Ursula (Hrsg.): Pädagogik gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt. Mut und Engagement in der Schule. Weinheim, Basel: Beltz 1994, 310.

[23] vgl. Gratzer 1997, 15.

[24] vgl. Miller 1994, 310.

[25] vgl. Selg, Herbert/ Mees, Ulrich/ Berg, Detlef: Psychologie der Aggressivität. 2. Auflage. Göttingen: Hogrefe-Verlag 1997, 28.

[26] vgl. Ziegler 1997, 68.

[27] vgl. Petermann, Franz/ Petermann, Ulrike: Training mit aggressiven Kindern. 8. Auflage. Weinheim: Beltz 1997, 4.

[28] vgl. Miller 1994, 310.

[29] vgl. Miller 1994, 310f.

[30] vgl. Miller 1994, 311.

[31] Petermann 1997, 4.

[32] vgl. Bründel 1997, 27.

[33] vgl. Hornberg, Sabine/ Lindau-Bank, Detlev/ Zimmermann, Peter: Gewalt in der Schule – Empirische Befunde und Deutungen. In: Hans-Günter Rolff, Karl-Oswald Bauer, Klaus Klemm, Hermann Pfeiffer, Renate Schulz-Zander (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Daten, Beispiele und Perspektiven. Band 8. München, Weinheim: Juventa Verlag 1994, 357.

[34] vgl. Jahrbuch der Schulentwicklung, 357.

[35] vgl. Tillmann 2000, 24.

[36] vgl. Tillmann 2000, 24.

[37] vgl. Schneider 2000, 3f.

[38] vgl. Ziegler, Albert/ Ziegler, Regine: Gewalt in der (Grund-)Schule: Analysen und pädagogische Konsequenzen. Aachen: Shaker 1997, 8.

[39] vgl. Ziegler 1997, 23.

[40] vgl. Ziegler 1997, 9.

[41] vgl. Bründel 1997, 27.

[42] vgl. Olweus 1996, 23.

[43] Bründel 1997, 29.

[44] vgl. Valtin 1995, 10.

[45] Bachheibl (ohne Angabe des Vornamens): Handlungsmöglichkeiten bei Gewaltphänomenen an der Schule. In: Honal, Werner (Hrsg.): Handbuch der Schulberatung. 38. Nachlieferung 1999,4.

[46] vgl. Ziegler 1997, 22.

[47] Bründel 1997, 27f.

[48] Hornberg 1994, 357f.

[49] vgl. Tillmann 2000, 16.

[50] vgl. Tillmann 2000, 16.

[51] vgl. Tillmann 2000, 17.

[52] vgl. Tillmann 2000, 17.

[53] vgl. Holtappels, Heinz Günter/ Meier, Ulrich: Gewalt an Schulen. Erscheinungsformen von Schülergewalt und Einflüsse des Schulklimas. In: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, (89) 1997, Heft 1, 51.

[54] vgl. Popp, Ulrike: Gewalt an Schulen – ein „Jungenphänomen“? In: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, (89) 1997, Heft 1, 77.

[55] vgl. Tillmann 2000, 17.

[56] vgl. Busch 2001, 227.

[57] vgl. Schubarth, Wilfried: Gewaltphänomene aus der Sicht von Schülern und Lehrern. Eine empirische Studie an sächsischen Schulen. In: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, (89) 1997, Heft 1, 71.

[58] vgl. Schubarth 1997, 71ff.

[59] vgl. Tillmann 2000, 17.

[60] vgl. Tillmann 2000, 17.

[61] vgl. Tillmann 2000, 17.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Was tun, wenn Grundschüler gewalttätig werden? Bestandsaufnahme und Handlungsmöglichkeiten
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für Grundschulpädagogik)
Note
1,0 (sehr gut)
Autor
Jahr
2003
Seiten
106
Katalognummer
V21509
ISBN (eBook)
9783638251105
Dateigröße
1164 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundschüler, Bestandsaufnahme, Handlungsmöglichkeiten
Arbeit zitieren
Barbara Walzner (Autor:in), 2003, Was tun, wenn Grundschüler gewalttätig werden? Bestandsaufnahme und Handlungsmöglichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21509

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