Die Zukunftsfähigkeit des Nationalstaates


Wissenschaftliche Studie, 2013

29 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Das Ende des Nationalstaates und der Beginn der Weltgemeinschaft

2. Kultur als Charisma

1 Das Ende des Nationalstaates und der Beginn der Weltgemeinschaft

Nationalismus heißt Krieg

(Statement d. ehem. Französischen Staatspräsidenten François Mitterrand in Moskau)

Von Myriaden von Kriegsdenkmälern und historischen Gedenktafeln in Deutschland und der Welt verhallen ungehört die abermyriaden von Stimmen von Gefallenen, die der Menschheit zurufen: Beendet die Hybris des Nationalstaates mit seiner einzigen Logik der Macht und des Blutvergießens! Wir sind keine Helden, selbst wenn wir Generäle und Heerführer waren, sondern nur die Opfer des Nationalstaates, der entgegen der Etymologie dieses Begriffes dem Menschen keine irreversible Heimat geben, sondern sie nur zerstören kann, weil er eine artifizielle Identifikation ohne Substanz ist.

Und solange man vermittels eines Phantoms reale Identifikationsbedürfnisse befrieden möchte, bleibt man im Bereich der Realitätsfremdheit des Wahnsinns des Krieges. Er ist wohl die unglücklichste Lösung des natürlichen menschlichen Bedürfnisses nach leibseelischer Permanenz, sozialer Zugehörigkeit, Identität und Geborgenheit in Sicherheit. Gewiss, so könnte man hinzufügen, ist er nur ein historisches Übergangsgebilde, das die Nachfolge anderer Identifikationen angetreten hat, sowie es der Vorläufer weiterer Identifikationen sein wird, ohne die sich der Mensch in diesem Leben nicht als zeiträumlich relatives Wesen in den raumzeitlichen Kontexten des Existenz verankern und beheimaten kann. Und solange der Mensch keine sozialverträgliche Verankerung seiner spezifischen persönlichen und kulturellen Identität erblicken kann, zahlt er einen hohen Preis für die Ersatzbefriedung eines fundamentalen menschlichen Bedürfnisses nach lebensnotwendiger psychologischer und materieller Sicherheit und Geborgenheit.

Gibt es denn eine andere Quelle, die den Menschen speisen und sättigen könnte, sodass dem menschlichen Grundbedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Abgrenzung seiner singulären Identität vollauf Gerechtigkeit wiederführe, während man sich gleichzeitig von der destruktiven Logik des Nationalstaates befreit? Solange wir nichts Besseres haben, so könnte man sagen, ist die Menschheit dazu verurteilt, mit der ständigen Bedrohung durch dieses Damoklesschwert leben zu müssen.

Doch ist dies wirklich der Fall? Gibt es denn keine Alternative zu dieser fatalen Logik mit ihren zyklischen Prozessen der Zerstörung, die nunmehr, aufgrund der technologischen Überentwicklung bei gleichzeitiger psychologischer Entwicklungsresistenz, finaler Natur für den Fortbestand der Menschheit insgesamt sein könnten. Dieser Sachverhalt erfordert eine eingehendere kreative Betrachtung:

Im Laufe der Entstehung des Nationalstaates in den vergangenen Jahrhunderten ist parallel zur fortschreitenden Säkularisierung eine nationale Pseudoreligion entstanden, deren blutrünstigen heidnischen Götzen das Leben der Menschen
millionenfach geopfert wird. Die biblische Aufforderung „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“, wurde im Zuge der Verweltlichung und der Loslösung von der Transzendenz umgemünzt in „Gebt alles dem Kaiser.“ Und in der postimperialen Epoche hat der Nationalstaat diese Funktion in vieler Hinsicht inne. Die kulturintegrative transzendente Dimension des Lebens wurde somit entmachtet und in der Folge wurde alle Macht und Huldigung dem Götzen des Nationalstaates mit seiner machttrunkenen, blutrünstigen Logik zuteil. Und die Rückkehr zu einer Ausgewogenheit und Befolgung der biblischen Aufforderung kann somit auch die nationale Logik wieder ins Gleichgesicht bringen, solange diese Identifikation für die Menschheit erforderlich ist. Es geht also nicht darum, sozusagen das Baby mit der Badewanne auszukippen, sondern lediglich darum, gewisse unabdingbare, aber abhandengekommene Grundgleichgewichte wiederherzustellen, um nicht beim gewaltsamen Versuch der Lösung des erkannten Problems vom Regen in die Traufe ähnlicher Identifikationslogiken zu geraten und somit nicht das Problem zu lösen, sondern nur seine äußere Gestaltannahme zu verändern.

Der Nationalstaat ist das Gebilde, das die größte Huldigung erfährt und das gleichzeitig die größte Gefahrenquelle für die Menschheit darstellt. Und da er zur Religion geworden ist, lebt die Menschheit schon seit langem in einer Art Religionskrieg. Der von ihm generierte Fanatismus und seine Destruktivität legitimieren sich aber nicht transzendental, wie Religionen gemeinhin, sondern ganz und gar weltlich und vermeintlich rational.

Während lokale, nationale und regionale Reaktionen die Globalisierung torpedieren, sollte man sich fragen, ob es angesichts der Tatsache, dass die Nation und der Nationalstaat mehr als Waffe denn als Integrationswerkzeug der Menschheit fungieren und dass sie die größte und verheerendste Blutspur in der Menschheitsgeschichte hinterlassen haben, nicht vernünftiger wäre, diese permanente Ursache von Konflikten ob seiner Ambivalenz, ja sogar seiner potentiellen finalen, letalen Gefährdung der Menschheit in der gegebenen Form entsprechend zu relativieren und eine Nachfolgelösung für dieses hochgradig gefährliche historische Auslaufmodell zu explorieren. Anders formuliert, wie könnte man das positive organisatorische Acquis des Nationalstaates bewahren, während man ihn in seiner Eigenschaft als Ursache der größten Konflikte der Menschheit transformiert, sodass das damit einhergehende größte Gefährdungspotential für die Integrität der Menschheit in ihrer natürlichen und legitimen Diversität neutralisiert wird.

Kriege standen in der neueren Menschheitsgeschichte und stehen immer noch im Zeichen der Nation. Und es ist davon auszugehen, dass viele zukünftige Kriege und ebenfalls ein eventueller weiterer Weltkrieg, der das Schicksal der Menschheit besiegeln könnte, auch im Zeichen der Nation stehen werden. Trotz all seiner Vorzüge ist der Nationalstaat offenbar in der Form, in der er gelebt wird, der größte Feind der Menschheit, der sie vernichten könnte. Allein schon aufgrund dieser universellen Gefahr sollte man sich mit der Frage einer Metamorphose des Nationalstaates befassen. Zumindest kann und muss man das Problem überdenken und globale Reflektionsprozesse einleiten, die diesen größten Feind der Menschheit erkennen und alsdann bestrebt sein sollten, den letalen Giftzahn dieses Monsters zu ziehen.

Die Menschheit ist in einer Lage, die vergleichbar mit einem Patienten ist, der von einer lebensbedrohlichen Krankheit heimgesucht wurde, die erkannt und beschreiben werden kann und für deren Verlauf und wahrscheinliches Ende es vielfältige historische, erfahrungsbasierte Evidenz gibt, während aber noch keine wirksame Therapie dafür zu geben scheint. Statt den Patienten aufzugeben sollte man aber dennoch bemüht sein, ihm die denkbar beste Versorgung in der Hoffnung zukommen zu lassen, dass es dennoch eine Möglichkeit der Rettung gibt.

Der Nationalstaat ist vergleichbar mit einem Karzinom, das den gesamten Organismus der Menschheit befallen kann. Und je größer die Anzahl dieser Gefahrenpotentiale im globalen sozialen Organismus der Menschheit ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der national verursachte politische Supergau eintritt. Man könnte sagen, es ist nur eine Frage der Zeit, denn die Natur des Nationalen ist eben so, solange die Gesellschaft keinen sozialverträglichen existenziellen Bezugsrahmen institutionalisieren kann. Und so lange der Nationalstaat in dieser Form existiert, der trotz seiner massiven Kollateralschäden auch nach dessen verheerenden Auswüchsen immer noch weltweit zelebriert wird, ist wohl nichts anderes, als eventuell auch der strategisch-politische Ernstfall zu erwarten.

Was geschähe psychologisch, wenn man das Nationale überwände? Und welche Alternativformen der menschlichen Organisation gibt es, die nicht minder effektiv sind als der Nationalstaat, aber um seinen letalen Charakter bereinigt sind? Man ist versucht, vor diesen Fragen zu kapitulieren, weil wir so sehr in unseren größten Feind verliebt und daran gewöhnt sind, dass wir seinen gefährlichen Charakter schon gar nicht mehr zu Kenntnis nehmen und ihn keiner kritischen Überprüfung unterziehen, da man gelernt hat, ohne den Mut zu Alternativoptionen damit zu leben. Dennoch muss er auf den historischen Prüfstand gestellt werden, um die Gefährdung der Menschheit, die von ihm ausgeht, – inklusive der Gefahr eines eventuellen dritten Weltkrieges – ohne falsche Anhänglichkeiten zu evaluieren.

Wenn sich der Mensch nicht mit der Nation identifiziert, dann ist es, als fiele ihm ein Mühlstein vom Herzen, den man für einen Diamanten hielt. Er befindet sich in einem Zustand der Erlösung von einer Geisel, die ihn, seine eigene Nation, sowie die Gemeinschaft der Nationen, ständig bedrohte. Und wenn diese Bedrohung gewichen ist, dann hat er eine Art Befreiungserlebnis psychologischer Art, das tief in seine psychologischen Strukturen hineinreicht und eine große Verzückung auslöst. Es ist beinahe mit einem weltlichen Samadhi oder Satori, einer weltlichen Art der Erleuchtung vergleichbar, die gleichzeitig auch den Weg zu einem weiteren Bewusstsein ebnet, dessen Aktivität nicht durch das nationale Bewusstsein limitiert und eingeschränkt ist. Somit wird diese kleine weltliche Erleuchtung ein Sprungbrett für eine umfassendere Erkenntnis und Erleuchtung. Psychologisch scheint der Mensch also sehr viel gewinnen zu können, wenn er den nationalen Schutzpanzer abwirft, soweit es ihm gegenwärtig zuträglich ist und der ihn zu erdrücken und zu erdrosseln droht, während er permanente Dialektiken mit anderen Nationalidentifikationen verursacht.

Um die psychologische Dimension der Nation zu erforschen ist es also erforderlich, den Nutzen der Befreiung von der Nation und den Gewinn durch die nationale Identifikation miteinander zu vergleichen. Aber die nationale Identifikation scheint irgendwann, vor allem, wenn sie übermäßig ethnozentrisch wird - da ja vieles dabei eine Frage des rechten Maßes ist - kontraproduktiv zu werden und jene, die in ihr gefangen sind, regelrecht zu ersticken. Und wenn sie durch die Wechselwirkungen multipler nationaler Identifikationen, wie es in multikulturellen Kontexten bisweilen der Fall ist, potenziert wird, dann entsteht eine situationsabhängig divers skalierte, eskalierende interpersonale oder intergruppen Spirale nationaler Identifikationen, Gegenidentifikationen und Überidentifikationen, die in einem totalen psychologischen Krieg enden können, sodass niemand mehr mit irgendjemand kommunizieren kann, weil sie alle Gefangene ihrer national definierten Identitäten sind. Es ist makropolitisch vergleichbar mit übergerüsteten Armeen, die einander gegenüberstehen, während kein Dialog mehr möglich ist und wo der geringste Fauxpas in den Ausbruch eines großen Krieges münden kann. Im Bann ihrer nationalen Gebilde und deren Wechselwirkungen werden sie auch nicht abrüstungsbereit und -fähig sein. Und doch bestünde darin die befreiende Lösung des Dilemmas für alle. Dazu bedarf es aber des auslösenden und erleuchtenden geistigen Funkens, der zu einem Leuchtfeuer werden und als Leuchtturm für alle in eine neue Zukunft weisen kann.

Nur wenn dieser geistige Funke zu einem heiligen Feuer im Menschen entfacht werden kann, wird er die technischen Mittel und Wege postnationaler gesellschaftlicher Organisationsformen finden, die für seinen nun friedfertigeren Fortbestand erforderlich sind. Die Friedfertigkeit durch nationalpsychologische Abrüstung wird Wege erkennen lassen, die geeignet sind, die Gesellschaft, frei von ihrer größten Bedrohung, optimal umzuorganisieren. Nationale Referenzen sollten nicht über Nacht über Bord geworfen werden, damit die national konditionierten Psychen nicht über Gebühr strapaziert und einer großen Desorientierung ausgesetzt werden, solange kein gleichwertiger sozialpsychologischer Ersatz vorhanden ist, da ein Vakuum zur Brutstätte anarchischen Brut und nicht weniger menschenfeindlicher Kräfte werden könnte. Die nationalen Leitstrukturen können als organisationstechnische Kategorien beibehalten werden, während sie im Lichte der neuen Erkenntnis progressiv von ihrem tödlichen nationalen Stachel bereinigt werden. Dies ist auch das Panaceum für nationale Unteridentifikationen, die damit gleichermaßen heilsam impaktiert werden. Es könnte jedoch auch sein, dass diese kleineren ethnisch-kulturellen Gruppen dann die Nachfolge des Nationalstaates antreten wollen und zu einer Balkanisierung der Welt und einer noch größeren Zersplitterung und Fragmentierung derselben führen würden, statt hin zu einer supranationalen Welt der gesamten Menschheit. Dann würde das zu behebende Problem jedoch multipliziert und damit potenziert werden. Diese Gefahr darf man nicht übersehen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Die Zukunftsfähigkeit des Nationalstaates
Autor
Jahr
2013
Seiten
29
Katalognummer
V215371
ISBN (eBook)
9783656431459
ISBN (Buch)
9783656566779
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nationalstaat, Gechichte/Zukunft des Nationalstaates, Gesellschaftsorganisation
Arbeit zitieren
D.E.A./UNIV. PARIS I Gebhard Deißler (Autor:in), 2013, Die Zukunftsfähigkeit des Nationalstaates, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215371

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