Zur Pluralität von LRS (Lese- und Rechtschreibstörung)

Hintergrund und Folgen der begrifflichen Vielfalt


Hausarbeit, 2012

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
2.1 Definition
2.2 Kriterien

3. Lese-Rechtschreib-Störung
3.1 Merkmale
3.2 Symptome
3.3 Ursachen

4. (Differential-) Diagnostik

5. Prävention und Intervention

6. Fazit und Bedeutung der LRS

7. Anhang

1. Einleitung

Zur Erforschung von Leseschwierigkeiten bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Man kann die verwendeten Lehrmethoden, die Personen, die lesen bzw. Lesen lernen oder die Komplexität des Lernmaterials für das Gelingen oder Mißlingen [sic!] des Lesevorganges verantwortlich machen.[1]

Um den jeweiligen ‚Fehlerquellen’ gerecht zu werden, kam es in der Vergangenheit zu den unterschiedlichsten Benennungen von Leseschwäche. So existierten parallel Namensgebungen aus der Medizin, Psychologie und Linguistik, die kaum etwas gemein hatten und bewusst in Richtung ihres Forschungsgebietes akzentuierten, exemplarisch die

…älteren Fachtermini, wie z.B. Wortblindheit (MORGAN, 1896; HINSHELWOOD, 1917), Strephosymbolie (ORTON, 1928, 1937) oder Lautnuancentaubheit (BLADERGROEN, 1955), bei denen die ätiologischen Hypothesen im Begriff selbst enthalten sind. In der neueren Forschung ist der Ätiologiebezug weniger in den Begriffen Dyslexie, Leseretardierung, Leseunfähigkeit oder Legasthenie faßbar [sic!] als vielmehr in den Zusatzattributen (entwicklungsbedingt, erblich, angeboren) bzw. Spezifikationen verschiedener Ausprägungsgrade (verbal vs. literal, primär vs. sekundär). [2]

Eigentlich zielen die Bezeichnungen auf dasselbe Phänomen ab, deuten es aber anders. Jene Deutungsversuche unterstreichen jedoch nicht bloß den Charakter ihrer Herkunftsdisziplinen, sondern evozieren darüber hinaus eine ganze Bandbreite an teilweise widersprüchlichen Übersetzungen aus dem anglophonen Sprachraum und sind mitverantwortlich für das Durcheinander von Namen, mit denen sich manch ein Ratgeberwerk gerade in der Selbstverortung in der Forschungsliteratur schwertut. Grundsätzlich gilt:

Mit dem Begriff der Legasthenie wird eine Störung bezeichnet, die sich durch auffallende Probleme beim Erlernen des Lesens und/oder der Rechtschreibung auszeichnet. […] In der einschlägigen Fachliteratur werden folgende Bezeichnungen oft synonym benutzt: Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, die teilweise im Singular und teilweise im Plural gebraucht werden.[3]

Demnach sind weder die Qualität (Art und Umfang), noch die Quantität (Anzahl) der Störfaktoren tatsächlich bekannt und einheitlich definiert. Gemeinsam ist den Begriffen ihre Einstufung als (mitunter pathologisches) Defizit, das einen Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe, sowie beruflichem Erfolg und Werdegang prognostiziert, kurzum: das gesamte Leben beeinflusst. Dies ist in erster Linie bedingt durch die Zugehörigkeit der untersuchten Personen zur literaten Welt und den damit verbundenen Umweltbedingungen.

Die Frage nach dem Nutzen der Schrift ist doppeldeutig. Es lohnt sich, die Unterschiede zwischen schriftkundigen Völkern und anderen mit rein mündlichen Formen sozialen Verkehrs in die Überlegungen mit einzubeziehen. Der Schrifterwerb ist ein strenger Vorgang. Er nimmt einzelne Menschen und ganze Völker in eine harte Schule. Er eröffnet neue soziale Möglichkeiten, fordert aber auch einen Preis. Die Unmittelbarkeit des Erlebens wird gelockert; denn die Schrift und die dadurch zur Haltung gewordenen Reflexion überlagert das Leben. Reflexion schafft Distanz zu Menschen, Erlebnissen und Dingen. […] Die Schrift tut den Kindern eine neue Welt auf, sie tut ihnen aber auch etwas an.[4]

Folglich sind die zur Gewohnheit gewordenen Strukturen der mit Schrift vertrauten Völker gewissermaßen zur zweiten Natur der Menschen geworden, hinter die sie nicht ‚zurück’ können. Zwar ist ihnen ihre erste Natur in der medialen Mündlichkeit erhalten geblieben, doch wird diese teilweise von der zweiten, die mediale Schriftlichkeit betreffenden, überlagert. Diese Tatsache soll und muss reflektiert werden, allein um des Nachvollzugs des Schriftspracherwerbs beim einzelnen Individuum willen, kann jedoch nicht rückgängig gemacht werden. Für diejenigen, die während des Prozesses des Lesen- und Schreibenlernens Probleme entwickeln (sie eventuell auch schon mitbringen) bedeutet dies, dass sie gewisse gesamtgesellschaftliche Normen unterlaufen und einer besonderen Förderung bedürfen, sobald ihre Defizite rechtzeitig erkannt worden sind – was unglücklicherweise oft genug nicht der Fall ist. „Nach wie vor wird kontrovers diskutiert, ob die Lese- und Rechtschreibstörung eine abgrenzbare diagnostische Entität im Sine einer Erkrankung darstellt (nosologisches Modell), oder ob sie […] den unteren Abschnitt der Normalverteilung darstellt (dimensionales Modell).“[5]

Ziel dieser Arbeit ist es, auf die wesentlichen Merkmale von Problemen beim Lese- und Rechtschreiberwerb aufmerksam zu machen, darüber hinaus Einblick in die historische Genese der Forschungsliteratur zu gewähren und mögliche Ursachen für die Pluralität der Natur der Erklärungsstrategien aufzuzeigen. Dafür sollen schulische Fertigkeiten als Maßstab für Entwicklungsstörungen herangezogen werden. Anschließend sollen Merkmale, Symptome und Ursachen der Lese- und Rechtschreibstörung, die als Oberbegriff für die in der deutschsprachigen Literatur verwendeten Bezeichnungen gebraucht wird, genannt und diskutiert werden. Diagnostische Ausschlussverfahren sollen ebenso wie Prävention und Intervention angesprochen werden – keineswegs beschränkt auf die Schule als Lebensraum. Schließlich wird die Arbeit mit einem Fazit zur Bedeutung der LRS enden und mit einem Ausblick abschließen. Im Anhang findet sich ein tabellarischer Überblick über Fachbegriffe.

2. Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

Worum geht es bei der Diskussion um den Legastheniebegriff eigentlich? Es geht um die Frage, ob die Gesamtgruppe aller leserechtschreibschwachen Kinder und Jugendlichen in pädagogisch und psychologisch sinnvolle Untergruppen aufgegliedert werden kann.“[6] Von Entwicklungsstörungen kann in diesem Zusammenhang gesprochen werden, wenn der Lernprozess im Lesen und Schreiben, und darauf aufbauend im Rechtschreiben, verzögert und/ oder eingeschränkt stattfindet. Sowohl die Pädagogik, als auch Teile der Psychologie machen sich die Unterteilungen von LRS- Schüler/Innen zunutze, um sie gezielt unterstützen zu können bzw. idealer Weise im Vorhinein Strategien anzubieten, die es den Lernenden ermöglichen sollen das System Schrift möglichst unvoreingenommen zu entdecken, bei Schuleintritt vorhandene Defizite, beispielsweise in der phonologischen Bewusstheit, auszugleichen und ideale Lernbedingungen zu schaffen für ein fruchtbares Unterrichtsklima, in dem Forderung, aber auch Förderung ihren Platz haben. Nicht allein angehende Deutschlehrer/Innen haben sich mit der Problematik schwacher Lerner zu befassen; Lesen und (Recht-) Schreiben gehören zu den Grundvoraussetzungen in jedem Schulfach, ebenso wie später in nahezu jeder beruflichen Ausbildung. Daher ist ein Einblick in die Hintergründe der Entwicklungsstörung der genannten grundlegenden schulischen Fertigkeiten unerlässlich und kann Aufschluss darüber geben, ob und in wie weit Schriftsprache aus dem Blickwinkel der Lerner an sich potenzielle ‚Gefahren’ birgt: „Kognitive Schwierigkeiten beim Eindringen in die Strukturen der Schrift ergeben sich aus den komplexen Regeln der Sprache selbst. Wenn langsam lernende Kinder die Schrift erwerben, gehen sie oft Umwege, die auf Mißverständnisse [sic!] zurückzuführen sind.“[7] Für erwachsene Alphabeten ergeben sich beim Versuch den Erwerb der Schriftsprache nachzuvollziehen oft unerklärliche Zusammenhänge, sodass die von den betroffenen Kindern unternommenen Anstrengungen kaum einmal nicht verkannt werden:

Schulkinder, die von der Schrift noch wenig Ahnung haben, sind beim Lesenlernen in der Situation von Kodeanwendern, die erst mit der Anwendung des Kodes lernen müssen, was ein Kode ist, - ein Paradoxon, das seine Entsprechung im Erlernen der Grammatik der Muttersprache in den ersten Lebensjahren hat. […] Kinder müssen einen Kode lernen, um die Laute der Wörter zu kodieren, die Lautzeichen geschriebener Wörter zu rekodieren, um dann die Wörter zu dekodieren.[8]

2.1 Definition

Wollte man den Bereich der Entwicklungsverzögerung von LRS- Patienten eingrenzen, so würde man vermutlich mit dem Vergleich zur Zielgruppe beginnen: Die betreffende Schulleistung (in diesem Fall Lesen und (Recht-) Schreiben) liegt deutlich unter dem erwartbaren Niveau in Bezug auf das Alter, die allgemeine Intelligenz und die Beschulung. Dabei muss eine deutliche Diskrepanz zwischen der allgemeinen Intelligenz (mit einem IQ über 70) und der lernbereichsspezifischen Minderleistung vorliegen, da es sich ansonsten um eine allgemeine Lernschwäche oder auch Lernbehinderung handelt. Klassifikationen der sogenannten Legasthenie liegen in verschiedenen Gruppen vor: „In der erstgenannten Gruppe dominieren angeborene und ererbte Hirnschäden, […] ungenügende Trennschärfe im sprechmotorischen Bereich, Reifedisproportionen, Lateralität und hereditäre Faktoren als Beschreibungskriterien, Umweltfaktoren werden größtenteils vernachlässigt.“[9] „Die zweite Gruppe ‚…(gibt)…bestimmte spezifische Merkmale an, um den Umfang des Begriffes einzuschränken’ (a.a.O.). Sie beziehen sich meist auf im Vergleich zur ‚Veranlagung’ schlechte Leistungen im Lesen und Rechtschreiben.“[10] „Die Gruppe der operationalen Definitionen beschreibt ebenfalls theoriefrei, gibt jedoch […] bestimmte Normgrenzen oder Kriteriumswerte für das Vorliegen einer Legasthenie an.“[11] Jede der drei genannten Klassifikationen benennt eigene Bezugsnormen. Deutlich wird jedoch in jedem Fall die auffällige Diskrepanz zwischen erwarteter und tatsächlich erbrachter Lernleistung. „In der deutschsprachigen LRS- Forschung wird LRS überwiegend als ein Scheitern des Lesen- und Rechtschreiblernens bzw. beim Lesen und Rechtschreiben bei meist mindestens durchschnittlicher Intelligenz definiert.“[12] Auch werden die von der Umgebung vorgegebenen Lernbedingungen so gut es geht ausgeklammert, da man eine einheitliche Lernentwicklung trotz unterschiedlicher Methodik und Didaktik erwartet und von einem vergleichbaren Lernerfolg aller Schüler/Innen ausgeht:

LRS sind Beeinträchtigungen der Lese- und Rechtschreibkompetenzen, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch inadäquate Beschulung oder durch nicht erkannte visuelle und auditive Verarbeitungsprobleme erklärbar sind. Sie sind auch nicht die Folgen andere Störungen, wie z.B. von Intelligenzdefekten, neurologischen Dysfunktionen oder emotionalen Störungen, aber sie können zusammen mit diesen Auffälligkeiten und Störungsbildern auftreten. LRS treten gehäuft auf mit Aufmerksamkeitsdefiziten, Verhaltensauffälligkeiten, Sprach- und Sprechstörungen. LRS können als entwicklungsbiologisch und zentral nervös bedingte Störungen des Schriftspracherwerbs betrachtet werden…[13]

[...]


[1] Harald Marx: Aufmerksamheitsverhalten und Leseschwierigkeiten. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft mbH, 1985. S.1.

[2] Ebd. S.7.

[3] Herbert Günther: Schriftspracherwerb und LRS. Methoden, Förderdiagnostik und praktische Hilfen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 2007. S.64.

[4] Andreas Möckel: Lese-Schreibschwäche als didaktisches Problem. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 1997. S.22.

[5] Gerd Schulte- Körne: Lese-Rechtschreibstörung und Sprachwahrnehmung. Psychometrische und neurophysiologische Untersuchungen zur Legasthenie. Münster: Waxmann Verlag GmbH, 2001. S.1.

[6] Gerheid Scheerer- Neumann: LRS und Legasthenie: Rückblick und Bestandsaufnahme. S.44-55. In: LRS – Legasthenie in den Klassen 1-10. Handbuch der Lese- Rechtschreib- Schwierigkeiten. Band 1: Grundlagen und Grundsätze der Lese- Rechtschreib-Förderung. (Hrsg.:) Ingrid M. Naegele/ Renate Valtin. S.44.

[7] Ruth Becker: Die Lese- Rechtschreib- Schwäche aus logopädischer Sicht. 4. Aufl. Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit, 1977. S.113.

[8] Ebd. S.107.

[9] Sebastian Rainer: Legasthenikerbetreuung – eine pädagogische Verpflichtung. Wien: Pädagogischer Verlag Eugen Ketterl, 1982. S.6.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Wilhelm Niemeyer: Lese- und Rechtschreibschwäche. Theorie, Diagnose, Therapie und Prophylaxe. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Verlag W. Kohlhammer GmbH, 1978. S.36.

[13] Herbert Günther: Schriftspracherwerb und LRS. Methoden, Förderdiagnostik und praktische Hilfen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 2007. S.65.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Zur Pluralität von LRS (Lese- und Rechtschreibstörung)
Untertitel
Hintergrund und Folgen der begrifflichen Vielfalt
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V215441
ISBN (eBook)
9783656441892
ISBN (Buch)
9783656442660
Dateigröße
573 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
pluralität, lese-, rechtschreibstörung, hintergrund, folgen, vielfalt
Arbeit zitieren
Hannah Grün (Autor:in), 2012, Zur Pluralität von LRS (Lese- und Rechtschreibstörung), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215441

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