Leseprobe
Was ist aus Kants Idee der Aufklärung geworden?
Ein Gedankenspaziergang durch die sogenannte aufgeklärte westliche Welt
Ein Essay als Prüfungsleistung für das Seminar Kultur und Bildung (Soz-SM 01) bei Dr. Ehrhardt Cremers
Nach Immanuel Kant ist die Sache mit der Aufklärung an sich keine besonders komplizierte: Alles was es braucht, um ein aufgeklärter Mensch zu sein, ist die Benutzung des eigenen Verstandes ohne Führung durch einen Dritten. Selbständiges Denken also ist es was Aufklärung ausmacht. Damit dieser Prozess in Gang gesetzt werde, hat Kant sich gedacht, dass es ein Freiheitsrecht braucht, das den öentlichen Gebrauch des eigenen Verstandes ermöglicht. Dieses Recht kennen wir heute als das Recht auf freie Meinungs- äuÿerung. Weiterhin stellte Kant sich Aufklärung so vor, dass nicht jedes Individuum für sich beginnt selbständig zu denken, da dazu ihm zufolge den meisten der Mut fehle, sondern einzelne Vormünder zur Überzeugung kämen, es sei für alle Beteiligten von Vorteil, wenn jeder Mensch selbständig denke und sie daher ihren Untertanen die Freiheit dazu lassen und sie gewissermaÿen dazu anleiten ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Kant wünschte sich demnach also eine gesamtgesellschaftliche Aufklärung, nicht bloÿ eine der Bildungseliten oder ähnliches.
Interessant ist Kants Di erenzierung zwischen öentlichem Gebrauch seines Verstan- des und privatem: So ndet er ersteren für die Aufklärung unverzichtbar, solange man als Privatgelehrter zur Öentlichkeit, also nicht bloÿ zu seinem Stammtisch oder einem erlesenen Zuhörerkreis, spricht. Der private Gebrauch des Verstandes darf, wenn es nach ihm geht, jedoch durchaus eingeschränkt werden, ohne damit dem Geiste der Aufklärung zu widersprechen. Kant ist der Ansicht, dass Ämter und Berufsrollen prinzipiell kritiklos ausgeführt werden sollten, da dies zum Funktionieren des Staates notwendig sei. Hat jemand etwas an seinem Beruf, beziehungsweise innerhalb seines Berufs zu kritisieren, nehmen wir zum Beispiel einen Berufssoldaten, der von seinen Vorgesetzten in einen sinnlosen Krieg geführt werden soll, so hat dieser Soldat zunächst seine Rolle zu ende auszuführen, bevor er sich dann auÿerhalb seiner Dienstzeit an die Öentlichkeit wenden und seine Kritik äuÿern kann. Besonders vernünftig klingt das zunächst nicht, da Kritik an sich ja unabhängig von der Situation in der sie geäuÿert wird entweder zutri t oder dies nicht tut (vgl. Kant 1784).
Heutzutage wird Aufklärung vor allem als Alleinstellungsmerkmal westlicher, demo- kratischer und säkularisierter Gesellschaften hervorgehoben, wenn in öentlichen Debat- ten mal wieder die Frage aufkommt, warum manche Gesellschaften im nahen Osten eben nicht so demokratisch und säkular organisiert sind, wie die zuerst genannten. Oftmals heiÿt es dann, diese Gesellschaften müssten erst noch die Aufklärung nachholen, die Zu- stände in ihnen seien mittelalterlich, wobei gerne übersehen wird, dass manche Länder des nahen Ostens von den sogenannten aufgeklärten westlichen Mächten nicht nur ins Mittelalter, sondern quasi bis in die Steinzeit zurück gebombt wurden.
Diese Spielart des Kulturchauvinismus soll allerdings nicht näher behandelt werden, sondern stattdessen sei der Blick auf die angeblich aufgeklärte deutsche Gesellschaft geworfen, die ja bekanntlich zur westlichen Welt gezählt wird. In einer aufgeklärten Gesellschaft müsste es von mündigen Bürgern nur so wimmeln, die zum Wohle der All- gemeinheit in öentlichen Diskursen Themen besprechen, die für die Gesellschaft als ganze von Belang sind. Die Menschen wären immun gegen Religionen und Ideologien, die ihnen das selbständige Denken abgewöhnen oder unmöglich machen könnten, Wis- senschaft und Technik, als Mittel und Werkzeuge zum besseren Verständnis der Welt würden ohne Unterlass vorangetrieben.
Die mündigen Bürger, wenn man sie in der Breite der Gesellschaft sucht, ndet man heute wohl vor allem in den Leserbriefrubriken tagesaktueller und wöchentlich erscheinender Zeitungen sowie Zeitschriften, oder in den entsprechenden Kommentarbereichen der Webpräsenzen dieser Printmedien, dazu in Blogs und Webforen; kurz gesagt überall dort, wo man ungefragt und ungehindert seine Meinung kundtun kann, ohne für die jeweiligen Inhalte verantwortlich gemacht zu werden. Angesichts des häu g eher polemischen Tons und der teilweise reaktionär anmutenden Ansichten, die dort vertreten werden, haben diese mündigen Bürger allerdings kein wirklich groÿes Publikum, auch wenn sie rein technisch wohl Millionen erreichen könnten.
Anders sieht es aus, wenn man sich damit zufrieden gibt, in den oberen Schichten der Gesellschaft nach jenen zu schauen, die gesellschaftliche Diskurse vorantreiben. Feuilletonisten, Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, jene die man gemeinhin Intellektuelle nennt, wenden sich häu g an dieÖentlichkeit und werden dank ihrer Bekanntheit meist auch entsprechend rezipiert. Allerdings werden manche öentlichen Stellungnahmen, wie solche von Jean Ziegler oder weiland Pierre Bourdieu, besonders dann, wenn sie vom vorherrschenden Meinungsbild abweichen, nahezu ignoriert. Dabei lassen besonders solche Äuÿerungen ja vermuten, dass sie das Produkt eigener Überlegungen sind. Andere Intellektuelle, wie Günter Grass, können selbst Gedichte veröentlichen, die keine sind, zu einem Thema das sich in so kurzer Form auch nur dann behandeln lässt, wenn man es dabei belässt die allerschlichtesten Gedanken zu äuÿern.
Mit einer aufgeklärten Gesellschaft hat dies nun aber auch nichts zu tun, Kant wollte eine gesamtgesellschaftliche Aufklärung und keine Ansammlungen von Wutbürgern die Leserbriefe verfassen, oder eine Elite von Gebildeten, die von Zeit zu Zeit von ihrem Elfenbeinturm zum einfachen Volke sprechen. Wobei trotz aller Polemik diesen beiden Phänomenen nicht die Existenzberechtigung abgesprochen werden soll. Besonders die öentliche Äuÿerung Intellektueller kann Vorteile haben, wie schon Emile Zolas Schrift mit dem Titel J'accuse zur Dreyfus-Affäre zeigte.
Von mündigen Bürgern könnte auch erwartet werden, dass sie die Möglichkeiten demo- kratischer Partizipation zumindest kennen, wenn nicht gar nutzen. Tatsächlich werden unzählige Petitionen und Unterschriftenlisten bei entsprechenden Stellen eingereicht, in der Ho nung so ein wenig Ein uss auf die Gesetzgebung nehmen zu können. Jedoch haben die wenigsten Erfolg, da sie nicht in genügend groÿer Zahl unterzeichnet wurden, oder die Berücksichtigung dieser einfach nicht verp ichtend ist. Für viele Menschen ist jedoch schon der regelmäÿige Urnengang von vollkommen zu vernachlässigender Relevanz, was die teilweise erschreckend niedrigen Wahlbeteiligungsquoten verdeutlichen. Es tut sich der Gedanke auf, dass Deutschland weniger aus Überzeugung demokratisch ist, als aus Gewohnheit.
So scheint es, als sei Deutschland weniger ein aufgeklärtes Land, als eines, dass die Epoche der Aufklärung hinter sich hat, dieses Erbe aber keineswegs zu bewahren sucht. Der Gedanke der Aufklärung konnte sich selbstverständlich nicht ohne weiteres von Generation zu Generation weitertragen. Stattdessen hätte es zum Beispiel eines Bildungssystems bedurft, dass nicht ausschlieÿlich danach geformt wurde, aus Schülern und Studenten möglichst schnell wirtschaftlich verwertbares Humankapital zu machen, nach unterschiedlichen Verwertbarkeitsgraden zu di erenzieren und diejenigen die nicht zu gebrauchen sind, ohne weiteres auszulesen. Die primäre Aufgabe hätte sein müssen, den Schülern und Studenten selbständiges Denken beizubringen. Dazu benötigt es jedoch Zeit, Personal und möglicherweise auch andere Wege der Leistungsermittlung als ein schlichtes Notensystem.
Statt im Dienste der Aufklärung zu stehen, hat sich das Bildungssystem also dem Kapitalismus als Steigbügelhalter angedient. Statt etwas für Menschen aus Fleisch und Blut zu bewirken, ging es um Absolventenzahlen und vergleichbare Abschlüsse.
Angesichts des Wohlstands unserer Gesellschaft stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Mangel an selbständig denkenden Menschen überhaupt ein Problem darstellt, oder der Erfolg der Unmündigkeit recht gibt. Vielleicht ist der Gedanke der Aufklärung schon längst obsolet und nur noch ein Hirngespinst anachronistischer Idealisten, die sich einbilden, die Welt würde zu einer besseren, wenn man nur ordentlich über sie nachdenken könne.
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