Georg Büchner - Dantons Tod


Hausarbeit, 2003

57 Seiten, Note: 2


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Entstehungsgeschichte und Dramenkonzeption

2. Historischer Kontext
2.1. Ursachenkomplex der französischen Revolution
2.2. Zeitgenössische Persönlichkeiten

3. Das Drama „Dantons Tod“
3.1. Dramentheoretische Vorbemerkungen
3.2. Akt 1
3.3. Akt 2
3.4. Akt 3
3.5. Akt 4

4. Die Figuren
4.1. Die Reden Robespierres
4.2. Das Streitgespräch
4.3. Eine Deutung der Figur Danton
4.4. St. Just – der bedingungslose Revolutionär
4.5. Frauengestalten

5. Das Kunstgespräch

6. Das Volk

7. Zeit und Raum
7.1. Raum
7.2. Zeit

8. Revolution als Protagonist – Ein Fazit

9. Fußnoten

10. Arbeitsaufteilung

11. Literaturverzeichnis

1. Entstehungsgeschichte und Dramenkonzeption

Das Genie bedarf keiner Empfehlung – das fühlen wir, wenn wir von Georg Büchner reden, und treten auch im folgenden nur abseits in einen Winkel, um die Sache für sich selbst reden zu lassen.[1]

Diese Aussage Karl Gutzkows, seiner Kritik zu Dantons Tod im „Phönix“ 1836 entstammend, weist bereits auf die Originalität und Virtuosität hin, deren man bei der Lektüre von Georg Büchners Dantons Tod gewahr wird. Seine Leistung erscheint umso bemerkenswerter in Anbetracht der Tatsache, dass unglückliche Umstände ihn zwingen, sein Drama „in höchstens fünf Wochen zu schreiben“[2] ; es sind jene Wochen, in denen Büchner auf Grund seiner zuvor verfassten und in Umlauf gebrachten Flugschrift Der hessische Landbote in das Visier der Polizei gerät und nur unter großen Anstrengungen einer Verhaftung entgeht. Die endgültige Ausarbeitung des Danton erfolgt schließlich von Mitte Januar bis zum 21. Februar 1835. Doch laufen seine Studien zur Geschichte der Französischen Revolution, in welche die Dramenhandlung zeitlich eingebettet ist, bereits wesentlich früher an: Schon zu Beginn des Jahres 1834 befasst sich Büchner eingehend mit historischen Werken zur Französischen Revolution, wie aus dem Brief an die Braut im März desselben Jahres hervorgeht:

Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.[3]

Unmissverständlich zeigen Büchners Worte, welche Desillusion sein junger Geist durch die intensive Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution erfährt. Vertraute Gestalten seines politischen Glaubens erscheinen nunmehr durch ihre eigene Geschichte desavouiert und entgöttert, was ihn schließlich dazu veranlasst, seine neuen diesbezüglichen Einsichten dramatisch zu gestalten.

Das Spektrum seiner historischen Quellen, deren sich Büchner für sein Drama bedient, ist von der Literaturwissenschaft weitgehend erschlossen, doch besteht von Seiten der Forschung noch immer keine Einigkeit über den jeweiligen Stellenwert der einzelnen Geschichtswerke, Pamphlete und Memoiren, aus denen Büchner Material für seine Bearbeitung des historischen Stoffes gewinnt. Als gesicherte Erkenntnis lässt sich jedoch der Umfang der unmittelbar aus den Quellen übernommenen Zitate auf etwa ein Sechstel des gesamten Dramentextes festsetzen. Die ungewöhnlich breite Aufnahme der historischen Quellentexte in das Kunstwerk lässt sich unter Büchners Prämisse, die Geschichte so darzustellen, „wie sie sich wirklich begeben“[4] hat, gut nachvollziehen. Büchner erhebt an sich den Anspruch, die Wahrheit ungeschönt wiederzugeben. Konsequenter Weise folgt daraus, dass die Authentizität über der Sittlichkeit des zu beschreibenden Stoffes stehen muss, wie er treffend in seinem Brief an die Familie vom 28. Juli 1835 mitteilt:

[…] die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist.[5]

Die überlieferten Aussagen der historischen Personen stellen einen bedeutenden Faktor für eben jene vorherrschende charakteristische Art der künstlerischen Formgebung dar, die sich ergibt, weil der Dichter mitunter wortgetreu aus den historischen Texten zitiert. Als wichtigste Quellen, die Büchner zur Erarbeitung und Umsetzung seines Stoffes behilflich sind, sind hier folgende Schriften zu nennen:

- Thiers, Louis Adolphe: Histoire de la Révolution Française (Paris 1823-27).
- Mignet, François Auguste Marie: Histoire de la Révolution Française, depuis 1789 jusqu’en 1814 (Paris 1824).
- Mercier, Louis Sébastien: Le nouveau Paris (Paris 1799).
- Riouffle, Honoré: Mémoires d’un Détenu, pour servir à l’Histoire de la Tyrannie de Robespierre (auch in: Mémoire sur les Prisons. Paris 1823).
- Strahlheim, Carl (Pseudonym für Johann Konrad Friederich): Die Geschichte unserer Zeit (Stuttgart 1826-30).

In der Fabelführung ist es vor allem die Revolutionsgeschichte von Thiers, welche das historische Grundgerüst für Büchners Szenenfolge bildet und leicht aus den entsprechenden Abschnitten bei Thiers herzuleiten ist.

Freilich bringt Büchners dramatische Transformierung mitunter Abweichungen von der geschichtlichen Überlieferung mit sich. So findet in Büchners Werk die letzte Unterredung zwischen Danton und Robespierre nach der Ermordung Héberts statt, obgleich die letzte historische Begegnung bereits vor seinem Tod lag. Ebenso sind die Frauengestalten Lucile und Julie in ihrer dramatischen Konzeption unhistorisch, sondern folgen vielmehr literarischen Vorbildern. Dennoch erfolgt die Zitatmontage auf eine bemerkenswert unverfälschte Art. In diesem Zusammenhang bemerken Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben wie „gestalterische Unbekümmertheit und ironische Geschichtstreue eine erstaunliche Verbindung“[6] eingehen. Darüber hinaus weist Bernd Zöllner auf die Besonderheit hin, dass Büchner vor allem die in den Quellentexten von Thiers und Mignet wörtlichen Zitate der historischen Personen in direkter Rede übernimmt. Interessant ist diese Beobachtung nicht zuletzt deshalb, weil sie die Relevanz des Zitatentypus’, der sich gerade der im historiographischen Text als direkte Rede vorliegenden Passagen bedient, aufzeigt: Schließlich resultiert aus dieser Technik nicht lediglich ein epischer Duktus, sondern eine Wahl von Zitaten, die sowohl vom Inhalt als auch vom sprachlichen Merkmal bestimmt ist. Zu problematisieren bleibt an späterer Stelle in Kapitel 7.2. noch die Zitatmontage in Hinblick auf die Zeitschichten sowie die historische Wahrheit im Drama. Diesbezüglich sei auf die Abhandlung Das Geschichtsdrama Georg Büchners verwiesen, in der sich Louis Ferdinand Helbig auf eindringliche Weise diesem Themenkomplex widmet. Dennoch kann schon hier gesagt werden, dass das wörtliche Zitieren aus den Geschichtsquellen keinesfalls zur Entlastung des Autors oder Legitimation seiner Dramenfiguren erfolgt. Vielmehr erhält das Kunstwerk erst durch die Funktionalisierung des Übernommenen auf multidimensionale Art seinen hochartifiziellen Charakter. Büchner zeichnet seine Charaktere, wie er sie „der Natur und der Geschichte angemessen“ betrachtet. Versteht man nun die Wahrheit wie Ernst Bloch als die „Angemessenheit der Dinge an sich selbst“[7], so wird erst dadurch die höchste Aufgabe Büchners verständlich, „der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen“. Ein derartiges Konzeptionsverständnis muss unweigerlich zu jener Zitattechnik führen, die Büchner entwickelt, um die Geschichte, wie sie sich wirklich begeben hat als Geschichte, wie sie sich in Wahrheit begeben hat, zu verstehen. Dieser Ansatz führt zu einer Art von Entzeitlichung der geschichtlichen Ereignisse (auf diesen Themenkomplex wird in Abschnitt 7.2 noch ausführlicher eingegangen), womit eine Erweiterung des wirkungsgeschichtlichen Horizonts erreicht wird, unter dem das Drama steht. Was Büchner bei aller Geschichtsnähe seines Werkes seinem Rezipienten offeriert, geht weit über „Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft“ hinaus, wie es im Untertitel seines Dramas zunächst heißt.

Diese Bezeichnung erhält das Werk Büchners bei seinem Erstdruck 1835 gegen den Willen des Autors. Er selbst empfindet den Untertitel als „abgeschmackt“ und ist ferner erbost über die zahlreichen Veränderungen, die Gutzkow an dem Werk vor seiner Veröffentlichung vornahm, „um dem Zensor nicht die Lust des Streichens zu gönnen“[8]. Der echte Danton, dessen Analyse wir uns in dieser Arbeit verschrieben haben und der uns heute vorliegt, ist 1835 somit gar nicht erschienen. Er wurde seiner rhetorischen Spitzen beraubt, die einen wesentlichen Teil zu der einzigartigen Struktur des Werkes beitragen, eine Symbiose aus Authentizität, Historizität, Ambivalenz und rhetorischer Sublimierung, die es zu jener Singularität synthetisiert, derer wir heute gewahr zu werden vermögen.

2. Historischer Kontext

2.1. Ursachenkomplex der Französischen Revolution

Die Französische Revolution gilt, im Osten gleichermaßen wie im Westen, als ein entscheidendes Ereignis der neueren Geschichte mit weitreichenden Folgen, denen schon im Bewusstsein der Zeitgenossen der Rang des Epochalen zuerkannt worden ist. Die Ausgangslage Frankreichs ist von vier verschiedenen Komponenten geprägt, die in ihrer Gesamtheit zur Staatskrise von 1789 führen:

1. Systemkrise der Monarchie
2. Ökonomische Krise primär im Agrarsektor
3. Mentale Entwicklung durch die Aufklärung
4. Finanzkrise: Defizit und Staatsschulden

Insgesamt lässt sich die Revolution in drei Phasen gliedern:

Mit dem Sturm auf die Bastille am 14.07.1789 setzt die Revolution in den Städten und somit auch die erste Phase ein. Die so genannte Bauernrevolution beginnt erst am Ende desselben Monats. Prägend für diese erste Phase ist der Fluchtversuch des Königs (Juni 1789), die Aufhebung der Feudalgesetze (04.08.1789), der Zug der Marktfrauen nach Versailles Oktober 1789 und vor allem die Verfassung von 1791, die den Staat säkularisierte. Im Jahr 1792 folgen die Kriegserklärung an Österreich (20.04.) und die für das Drama relevanten grausamen Septembermorde an Gefängnisinsassen. Das Revolutionsgeschehen im Jahre 1793 beginnt am 21.01. mit der Hinrichtung des Königs Ludwig XVI., führt im Mai zum Aufstand der Pariser Sansculotten9 und gipfelt am 05.09. in dem Beginn der Terrorherrschaft der Jakobiner unter ihrem Führer Robespierre. Dieses Ereignis ist sowohl ausschlaggebender Wendepunkt der Revolution als auch der Beginn ihrer zweiten Phase. Die nun anbrechende Zeit ist bestimmt durch das Verdächtigen-Gesetz (17.09.1793) und zeichnet sich vor allem durch die Notstandsdiktatur des Wohlfahrtsausschusses und die daraus resultierende Kollektivdiktatur Robespierres (seit 10.06.1794) aus. Historisch interessant für das Dramengeschehen sind die Verhaftung Dantons und seiner Anhänger am 30. März und ihre darauf folgende Hinrichtung am 5. April 1794.

Durch den Sturz Robespierres am 27.07. desselben Jahres läutet sich die dritte Phase der Revolution ein und beginnt mit der Machtübernahme der verängstigten Plaine-Mehrheit (Thermidorianer). Diese letzte Phase ist durch verschiedene Revolten, wie zum Beispiel den Germinalaufstand (01.04.1795) oder den Royalisten-Aufstand in Paris (05.10.1795), die man in ihrer Gesamtheit als Aufstände im Nachthermidor bezeichnet, geprägt.

Der Krieg hatte die Ideale von 1789 zerschlagen, die Gesellschaft tief gespalten und in Gewinner und Verlierer des gewaltsamen Umbruchs geteilt. So sind die Sansculotten zwar Mitträger der Revolution, aber die Bourgeoisie ist ihr Hauptnutznießer, da sie sich während der Inflation den größten Teil der Güter aneignen konnte, die bei der Flucht des Adels und der Auflösung der Kirche zurückblieben. Dies ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe warum die Französische Revolution im Nachhinein oft auch als die „bürgerliche“ Revolution bezeichnet wird. Ihre größte Wirkung erzielt sie, da sich Lebensformen und Einstellungen kaum geändert hatten, beziehungsweise schon vorher in einem Umbruch begriffen waren (Aufklärung), im politisch-rechtlichen Bereich.

Es wird ein „bürgerliches Recht“ geschaffen und eine deutliche Verlagerung der Legitimation der politischen Herrschaft vom Gottesgnadentum des Absolutismus zur Souveränität des Volkes, das seine Vertreter frei wählt und in ein Parlament entsendet, bewirkt.

Die Französische Revolution hat weiterhin großen Einfluss auf alle folgenden europäischen Revolutionäre gehabt und wird daher zum Modell der sozialen und politischen Umstürze des 19. und 20.Jahrhunderts. Erst durch die Oktoberrevolution 1917 wird ein neues Modell an ihre Stelle gesetzt.

2.2. Historische Personen und fiktive Dramenfiguren

Barrère: Bertand Barrère de Vieuzac (1757-1841) wechselte von den gemäßigten Girondisten zu der Bergpartei über. Er war Mitglied des Wohlfahrtsausschusses und bereitete den Sturz Robespierres in Zusammenarbeit mit Billaut-Varenne und Collot d’Herbois vor.

Chaumette: Pierre-Gaspard Chaumette (1763-1794) vertrat die sozialen Interessen des Volks, war bekennender Atheist und wurde 1794 verhaftet und hingerichtet.

Danton: Georges-Jacque Danton (1759-1794) gehörte zu den führenden französischen Revolutionären, war ab 1792 als Justizminister tätig und Mitbegründer des Wohlfahrtsausschusses und des Revolutionstribunals. Am 01.04.1794 wurde er auf Betreiben Robespierres verhaftet und vier Tage später hingerichtet.

Desmoulins: Camille Desmoulins (1766-1794) war Initiator des Sturms auf die Bastille und führender Propagandist der Revolution. Er wurde im April 1794 mit seinem Freund Danton hingerichtet.

Collot d’Herbois: Jean Marie Collot d’Herbois (1750-1796) war 1793 Präsident des Nationalkonvents, ordnete als Richter Massenvernichtungen in Lyon an und wurde 1795 nach Guayana verbannt.

Julie: Die zweite Frau des historischen Dantons hieß Louise Gely (1777-1856) und im Gegensatz zu Büchners Julie folgte Louise ihrem Mann nicht in den Tod, sondern heiratete 1797 einen Baron.

St. Just: Louis Antoine de Saint-Just (1767-1794) wurde 1792 Mitglied des Nationalkonvents, hielt dort die Anklagerede gegen die Dantonisten und wurde mit seinem engsten Vertrauten Robespierre im Juli 1794 hingerichtet.

Lacroix: Jean Francois de Lacroix (1754-1794) war Parteigänger Dantons und wurde mit diesem zusammen hingerichtet.

Legendre: Louis Legendre (1752-1797) stand auf Seiten der Dantonisten und war aktiv am Aufstand gegen Robespierre beteiligt.

Lucile: Lucile Desmoulins wurde in Wirklichkeit auf Grund einer Denunzierung verhaftet. Persönliche Daten ihrerseits sind der Forschung nicht bekannt.

Robespierre: Maximilien de Robespierre (1758-1794) war seit 1792 Führer der Bergpartei, errichtete die Schreckensherrschaft und wurde im Juli 1794 gestürzt und hingerichtet.

Herault-Séchelles: Marie-Jean Herault-Séchelles (1759-1794) war Präsident des Nationalkonvents, trug entscheidend zur Verfassung von 1793 bei und wurde mit Danton hingerichtet.

3. Das Drama „Dantons Tod“

3.1. Dramentheoretische Vorbemerkungen

Bei der dramenanalytischen Klassifizierung hat es sich weitgehend durchgesetzt, Büchners Drama Dantons Tod unter der Kategorie „Drama der offenen Form“ zu führen. Angesichts der besonderen Gestalt von Dantons Tod erscheint es jedoch adäquater von einer Übergangsform zu sprechen, die sich schließlich in einer „Übergangszeit“ zwischen Klassik und Moderne entwickelt. Bei der genauen Betrach-tung des Werkes zeigen sich jedoch deutlich antiklassizistische Konzeptionsmuster, so dass Dantons Tod eher einem Drama der offenen Form zuzurechnen ist. Die dramentheoretischen Bauformen, die einer solchen Kategorisierung behilflich sein können, werden im Folgenden zu untersuchen sein.

Mit dem Untertitel zu Dantons Tod „Ein Drama“ trifft Büchner eine klare Entscheidung gegen die Benennung „Tragödie“. Eine Analyse seiner diesbezüglichen Beweg-gründe mag zunächst trivial anmuten, zumal Literaturwissenschaftler Peter Szondi in seinem Versuch über das Tragische das Büchnersche Kunstwerk sogar als Tragödie gedeutet hat. Dennoch erscheint die Wahl des Untertitels nicht zufällig, sondern kann vielmehr als programmatische Entscheidung verstanden werden. Mit der Gattungsbezeichnung „Drama“ unternimmt Büchner eine klare Abgrenzung gegen die Tradition der Idealdichter, was insbesondere auf Schiller abzielt, dessen Dramentheorie auf eine säkularisierte Theodizee hinausläuft. Büchners Aversion gegen Schillers Tragödienmodell äußert er dezidiert in seinem Brief an die Familie vom 28. Juli 1835: „Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller.“[10]

So stark seine Abneigung – man ist versucht von einer Animosität zu sprechen – gegenüber Schiller zum Ausdruck kommt, so deutlich sind Parallelen zu jenen Dichtern erkennbar, die Büchner in seinem oben zitierten Briefausschnitt positiv hervorhebt: Das dem Drama vorangestellte Personenverzeichnis ist nach dem Vorbild Shakespeares konzipiert, der eine ständisch gegliederte Auflistung der handelnden Personen vornimmt. Der feudalen Hierarchie in den shakespearschen Dramen entspricht in Dantons Tod die Hierarchie der Volksvertreter. Die Konvents- abgeordneten als gewählte Souveränitätsträger bilden die erste Gruppe, denen die Mitglieder des wichtigsten Konventsausschusses nachgeordnet sind. Auf das Nationalparlament folgt das Gemeindeparlament, vertreten durch den Prokurator der Pariser Kommune. Daraufhin folgen die durch einen General repräsentierte Armee und sodann das durch den Kläger und die Präsidenten vertretene Tribunal. Erst dann schließen sich einzelne Personen ohne öffentliches Amt an, bevor als eigene Geschlechtsgruppe die Frauen aufgelistet werden – wiederum nach hierarchischer Ordnung, indem die Ehefrauen vor den Grisetten Erwähnung finden. Schlussendlich ist nur noch gruppenweise auf das anonyme Personal verwiesen. Signifikantes Merkmal in dem Personenverzeichnis ist weiterhin die einzige Berufsbezeichnung bei Simon (Souffleur). Dieser zunächst nebensächlich erscheinende Hinweis auf sein Gewerbe gewinnt an sinnstiftender Bedeutung, sobald er in Verbindung mit den Szenen I.2, II.2 sowie II.6 gebracht wird und mithin erst die theatralische Kulisse dieser Stellen offen legt. Ferner ist auf das Fehlen der akzidentell auftretenden Figuren hinzuweisen, was nicht als Unaufmerksamkeit Büchners zu werten ist, sondern bewusst den Gesetzen der geschlossenen Dramenform zuwiderlaufen möchte. Die offene Form möchte nicht mehr „der kleine Kosmos“[11] sein, der eine mimetische Wirklichkeitsspiegelung von der Außenwelt anzustreben ersucht. Die Ganzheit der Welt und ihrer Gesellschaft ist im modernen Drama virtuell präsent, wenn auch nur segmental dort, wo es die Fabel jeweils legitimiert.

Der Dramenhandlung liegen die zwei historischen zwei Wochen vom 24. März bis 5. April 1794 zu Grunde. Diese exakte Datierung lässt sich unmittelbar aus dem Dramengeschehen ableiten. Bereits im Verlauf der ersten Szene berichtet Philippeau von der Hinrichtung der Hébertisten, während im letzten Akt die Guillotinierung Dantons und seiner Freunde vollzogen wird. Mit dem Einsetzen der Handlung ist die Revolution de facto in das Stadium der Machtentscheidung zwischen ihren beiden sich nunmehr als Antagonisten gegenüberstehenden Gestalten Robespierre und Danton eingetreten. Untersucht man die äußere formale Struktur des Dramas, so fällt auf, dass es mit seinen vier Akten der klassischen (fünfaktigen) Einteilung zuwider läuft und somit ein weiterer Anhaltspunkt gegeben ist, Dantons Tod einem Drama der offenen Form zuzuschlagen. Demgegenüber bleibt auf der Ebene des Szenennexus’ die kausale Chronologie weitgehend unangetastet. Büchner verknüpft die Szenen häufig so, dass sie gar nicht als ein Nebeneinander von kumulierten Szenen angesehen werden können. Dies geschieht auf multiple Weise, entweder durch einen zeitlichen Parameter – so beispielsweise durch Philippeaus Aussage „heute sind wieder zwanzig Opfer gefallen.“[12], eine thematische Assoziation, wie „Gehn wir in’s palais royal“[13], um mit einer Szene auf die nächstfolgende Szene vorzubereiten, oder nicht zuletzt durch den pragmatischen Vorgang der Geschichte, da Büchner dem Geschehen durch die Integration seiner Quellen und der eigentümlichen Zitatmontage einen irreversiblen Prozess vorgibt.

3.2. Akt I

Der Vorhang hebt sich mit dem illusionslosen Thema der Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen. Er senkt sich am Ende des ersten Aktes über unentrinn- barer Verlorenheit des Menschen im Nichts. Ohne Exposition beginnend, simuliert Büchner einen unmittelbaren Übergang von der Realität in die Fiktion, indem die erste Szene mit einem Kartenspiel einsetzt, das bereits vor der Handlung begonnen hat. Als einzige der insgesamt 32 Szenen des Dramas setzt die erste ohne Erwähnung des Ortes ein. Werner Frizen vermutet die erste Szene im Palais Royal und weist auf die moralische Provokation hin, die das Einsetzen eines Dramas mit einer Bordellszene bei dem zeitgenössischen Publikum ausgelöst haben müsse. Zwar ist der eigentliche Ort uneindeutig, doch ist die Raumaufteilung selbst hingegen umso expliziter beschrieben und teilt die anwesenden Personen in zwei Gruppen. Ebenso wie der Spieltisch mit Herault-Séchelles und einigen Damen ist das Paar Danton und Julie in die Geschehnismitte gerückt. Durch den mehrmaligen und raschen Wechsel des Blickwinkels entsteht eine eigentümliche Fluoreszenz zwischen Vorder- und Hintergrund, eine spielerische Alternanz von Nacheinander und Nebeneinander. Die Szene offeriert einen spielerischen Sprechton und scheint jede einzelne Figur für sich selbst abzusondern. Besonders explizit tritt diese Isolation im Gespräch zwischen Danton und Julie auf, in dem Erkenntnisekel Dantons auf gefühlte Innigkeit Julies trifft. Eindringlich und schauderhaft erscheint ihr Sprechakt, der den Eindruck erweckt, die beiden Figuren sprächen nur, um sich fernzuhalten und mithin einen insularen Charakter erhalten, der sie auf ihrem Archipel gefangen hält. Betrachtet man die Eingangsszene als Ganze, so lässt sich feststellen, dass sie selbst – analog zu den Charakteren – eine isolierte Stellung einnimmt und als Exposition angesehen werden kann. Inwiefern sich die Sonderstellung im Drama realisiert, ist jedoch von den Literaturwissenschaftlern nicht eindeutig geklärt. Während Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben auf den rückbezüglichen Charakter der Szene hinweisen, versteht Frizen den Aufbau als zukunftsorientierte Struktur. Es liegt jedoch nahe, in der Eröffnungsszene den Rückblick auf die Vorgeschichte des jakobinischen Fraktionsdisputs aus Sicht der Dantonisten zu erkennen. Allerdings bildet diese indirekte Retrospektive nur einen kleinen Teil des politischen Gesprächs, das mit dem Erscheinen von Camille und Philippeau einsetzt. Nachdem Danton die Information über die Hinrichtung der Hébertisten als beiläufig abwertet, kommt es zum theoretischen Entwurf einer epikureischen Republik, die jedoch über ihren utopischen Charakter nicht hinausgelangen kann. Sie beansprucht für sich den Fortschritt, wie in der Aussage Philippeaus anklingt: „Wir müssen vorwärts.“[14] Die neue Republik ist in ihren Postulaten gefangen, denn unerörtert bleibt, wie eine solche Republik aus dem gegenwärtigen Revolutionsgeschehen hervorgehen soll. Danton, der von seinen Freunden zum Handeln bewegt werden soll „Danton du wirst den Angriff im Konvent machen“[15] erteilt den Schwärmereien ob einer hedonistischen Republik eine Absage. In diesem Moment weiß er nicht nur, dass eine nach dem Prinzip des Genusses aufgebaute Gesellschaftsordnung reine Phantasterei ist, sondern ist sich darüber hinaus bewusst, dass er die Verbindung zum Volk bereits unwiderruflich verloren hat, und kann die Vorwürfe erahnen, mit denen ihn Robespierre zu späterer Zeit konfrontieren wird.

Eine zentrische Themenordnung verleiht der Eingangsszene die Form eines gerundeten Vorspiels. Im Zentrum steht die epikureische Republik, umschlossen von Hellas-Rom-Antagonismen, die die beiden gespaltenen Lager der Revolutionsagi-tatoren symbolisieren, Dialogen zwischen Julie und Danton und Gesellschaftsspiel. Das Konzept der Dantonistenrepublik wird eingefasst von Bekundungen der poli-tischen Handlungsunwilligkeit seitens Dantons, dessen Sprache trotz – oder gerade auf Grund – seiner syntaktischen Einfachheit den Modus des Insularen dezidiert akzentuiert. Seine Aussagen konzentrieren sich auf das Notwendigste, weisen mit der anaphorischen Kumulation des „wir“ keinerlei rhetorische Subtilität auf und nehmen den Aktionsverben („wir strecken“, „wir reiben“) mit relativierendem „aber“ die Aussicht auf Handlungsmotivation. Danton verfügt über einen seinen Sprechakt dominierenden Metaphernreichtum, der sich jedoch mehr aus einer Sprachskepsis als aus einem Sprachüberfluss ableiten lässt. Bildassoziationen von kommensurablen Größen wie „Grab“ und „Ruhe“ oder die cœur-carreau-Methaphorik, mit zwar unausgesprochener, aber doch provozierenden Verbindung zum „Schoß“ werden zu einer funebren Personenanalogie (Julie als Grab) forciert. Eine derart gestaltete Gleichsetzung von Subjekt und Prädikatsnomen hat weniger eine anthropomorphisierende Aufwertung des Anorganischen als vielmehr eine Depersonifikation des Subjekts zur Folge. Bei einer genauen Betrachtung der sprachlichen Gestaltung jenes Dialogs zeigt sich, dass schon hier zur Sprache gebracht ist, was das Drama bis zum Ende hin begleiten wird. Dantons Worte rufen eine Todesahnung auf der Seite Julies hervor, die sich konsequent im Verlaufe der Handlung manifestiert. Julie indes, die von ihrem Ausspruch „oh!“ bis zu ihrer Frage „Du gehst?“[16] schweigt, bewahrt sich unbeirrbar die Liebe zu Danton.

Mit dem Auftritt des versoffenen Gassenkomödianten Simon, der sich klassischer Heroennamen und Narrenvokabular bedient, stellt sich die zweite Szene als grotesker Gegensatz zu der Vorherigen an. Unschwer erkennbar sind in der Permutation von Spiel und Leben die Parallelen zu Shakespeare. Wie die entsprechenden Figuren bei Shakespeare gehört auch Simon der Unterschicht an und scheitert an dem Versuch einer Antike-Rezeption, als seine Theatererinnerun-gen ihn in ein geistiges Charivari führen. An moralischer Dimension gewinnt die Szene erst, als sich einige Bürger um Simon und seine Frau versammeln. Die private Sphäre wird durch die Politisierung des Konfliktes um die Prostitution der Tochter Simons überwunden und legt unbeschönigend die Folgen einer Revolution offen, die die soziale Revolution auf die Politische nicht hat folgen lassen. Auf der Gasse parodiert Simon „das erhabne Drama der Revolution“[17], das kurze Zeit später in personifizierter Gestalt Robespierres den Schauplatz betritt. Ungewöhnlich präsentiert diese Szene eine Inversion von Ursache und Wirkung, da die Parodie sich vor dem zu Parodierenden aufbietet und somit ein aussagekräftiges Hysteron-Proteron[18] liefert. Robespierres erster Auftritt im Drama zeigt bereits die Unempfänglichkeit für die reale Situation des Volkes. Sein Staatsmodell will die natürliche Anarchie des Volkes per Gesetz zügeln. Zwar versucht der „Unbestechliche“ durch eine ebenso pathetisierende wie realitätsferne captatio benevolentiae die Gunst des Volkes zu gewinnen („armes, tugendhaftes Volk“[19] ), setzt seine nach Wohlwollen haschende Rede mit Entmündigung des Volkes durch die Gesetzgeber fort („Deine Gesetzgeber wachen, sie werden Deine Hände führen, ihre Augen sind untrügbar, Deine Hände sind unentrinnbar“[20] ). Unter diesem Aspekt kann seine Aussage durchaus als Prolog auf die folgende Rede im Jakobinerklub gelten. Nach dem Abgang Robespierres bleiben Simon und seine Frau am Schauplatz zurück und führen das Ende der Szene zurück auf den Anfang.

[...]


[1] Aus der Kritik Karl Gutzkows im „Phönix“ 1836, in: Ritscher, Hans: Georg Büchner – Dantons Tod. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Frankfurt/M.: Diesterweg 1975.

[2] Büchner-Brief an Gutzkow, ebd. S. 26

[3] Büchner-Brief Nr. 21 (An die Braut), in: Georg Büchner. Werke und Briefe. Münchner Ausgabe.München: dtv 2001 8, S. 288

[4] Büchner-Brief Nr. 45 (An die Familie), ebd., S. 305

[5] ebd., S. 305

[6] Behrmann, Alfred und Wohlleben: Büchner – Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. Stuttgart: Klett 1980

[7] aus: Helbig, Louis Ferdinand: Das Geschichtsdrama Georg Büchners. Zitatprobleme und historische Wahrheit in Dantons Tod. Bern und Frankfurt/M.: Herbert Lang 1973.

[8] aus: Ritscher, Hans: Georg Büchner – Dantons Tod. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Frankfurt/M.: Diesterweg 1975.

[9] Sansculotten – in Dantons Tod – häufig auch als „Ohnehosen“ bezeichnet, sind Leute, die keine Kniehosen wie der Adel tragen.

[10] Büchner-Brief Nr. 45 (An die Familie), S. 306

[11] aus: Baumann, Gerhart: Georg Büchner. Die dramatische Ausdruckswelt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961.

[12] Georg Büchner. Werke und Briefe. Münchner Ausgabe.München: dtv 2001 8

[13] ebd.

[14] ebd.

[15] ebd.

[16] ebd.

[17] ebd.

[18] Hysteron-Proteron soll hier eine Redefigur bezeichnen, bei der das zeitlich Spätere vor dem zeitlich Vorausgegangenen steht. So heißt es zum Beispiel schon bei Vergil: „Lasst uns sterben und uns in die Feinde stürzen!“. In Büchners Szene wird die Revolution parodiert, bevor Robespierre als Symbolfigur der Revolution überhaupt szenisch eingeführt wird und den Schauplatz betritt.

[19] Georg Büchner. Werke und Briefe. Münchner Ausgabe.München: dtv 2001 8

[20] ebd.

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Georg Büchner - Dantons Tod
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Einführung in die Dramenanalyse
Note
2
Autoren
Jahr
2003
Seiten
57
Katalognummer
V21602
ISBN (eBook)
9783638251785
Dateigröße
839 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit beschreibt den historischen Kontext, in dem Büchner sein Drama verfasste, untersucht den Hansdlungsverlauf - zunächst dramentheoretisch mit dem Blick auf die Kompositionsstruktur (formale Gestalt, Akteinteilung) und dann mit dem Fokus auf die wichtigsten Figuren und Szenen. Es folgen die Analyse von Raum-/Zeitstruktur und ein abschließendes Fazit. Jeder,der &quot,Dantons Tod&quot, bisher nicht gelesen hat, wird hoffentlich durch diese &quot,emphatische&quot, Arbeit inspiriert. :-)
Schlagworte
Georg, Büchner, Dantons, Einführung, Dramenanalyse
Arbeit zitieren
Tim Brüning (Autor:in)Kristin Bönig (Autor:in), 2003, Georg Büchner - Dantons Tod, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21602

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