Moment und Form - Die Auflösung traditioneller Formerwartungen bei John Cage's "Music of Changes" und "Variations I"


Examensarbeit, 2002

95 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung - Rechtfertigung des Themas

2. Ein Überblick über die Grundästhetik - was wir unter „Musik“ im Kontext des Europäischen Kunstverständnisses bis in das 20. Jahrhundert hinein verstehen
2.1 Ästhetische Identifikation: Musik - ein Spiel?
2.2 Bild und Emotion - die „Bedeutung“ in der Musik
2.3 Musik als Reizgebilde - Klangfarben, Abbildlichkeit und außermusikalische Inhalte
2.4 Werkidentität
2.5 Erkennendes Verstehen

3. Kurze Zusammenfassung der Situation in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts

4. Cages Entwicklung hin zu einer neuen Idee von Musik
4.1 Cages Persönlichkeit - Neugier auf Unbekanntes und der Entschluss, einen eigenen Weg zu beschreiten
4.2 Geräusche. Die Isolation der Töne. Allklang. Stille
4.3 Der Moment - Zeit und Zeitbegriff. Struktur
4.4 Emotion. Rückzug der Persönlichkeit. Indische Philosophie und Zen
4.5 Anarchismus und „Offenheit für alles“ - Musik und Leben. Beurteilung von Musik
4.6 Raum und Darstellung. Das multimediale Happening. Notation
4.7 Aleatorik und Indetermination

5. Betrachtung der kompositorischen Prämissen Cages anhand der Music of Changes und der Variations I. Analyse und Hintergründe
5.1 Music of Changes
5.2 Variations I.

6. Musik?

Anhang

1. EINLEITUNG - RECHTFERTIGUNG DES THEMAS

Die Kunst von John Cage hat innerhalb der mächtigen Umwälzungsbewegungen in der Kunstmusik im Laufe des 20 Jahrhunderts einen Sonderplatz eingenommen. Im Zuge des zunehmenden Bedürfnisses nach Verstärkung der Kontrolle des Komponisten (ins-besondere innerhalb der Richtung des Serialismus) über die musikalischen Parameter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich John Cage im Laufe seines Schaffensprozesses zu einem Gegenpol zu dieser Entwicklung. Sein sich zunehmend radikalisierender Rückzug aus der Kontrolle des Komponisten über Form, musikalische Sprache, Material, Besetzung, Struktur und sein völlig neues Verständnis von dem Verhältnis von Komponist zu Interpret und Hörer, seine Erforschung neuer Klangwelten (auch innerhalb des traditionellen Instrumentariums) und das Suchen eines neuen - dem 20. Jahrhundert angemessenen - Sinns von Musik (um nur einige Aspekte zu nennen) hat das gesamte Musikdenken nachhaltig beeinflusst. Sein sehr eigener Weg hat ihn aber auch von allem entfernt, was wir traditionell unter Musik verstehen, und ihn herber Kritik von allen Richtungen ausgesetzt; Und die ästhetische Diskussion ist noch längst nicht abgeschlossen. Cage hat eine langanhaltende Debatte in Gang gebracht darüber, was wir unter Musik verstehen und von ihr erwarten. Seine ästhetische Kehrtwende ist enorm und hat vielen der musikalischen Avantgarde an sich zugewandten Musikern und Experten „Kopfschmerzen” bereitet. Viele Skandal-aufführungen säumen seinen „Weg“. Viele musikalische Größen der Zeit, die sich ihm zunächst neugierig annäherten, haben sich später abgewandt, darunter Stockhausen und Boulez. Cage steht außerdem nicht nur für ein einziges bestimmtes spezifisches Merkmal. Man kann ihn nicht nur auf ein Schlagwort wie „Aleatorik“ reduzieren. Diese Aleatorik hat viele sich wandelnde Gesichter. Er steht daneben genauso symbolisch für das „präparierte Klavier“, was wiederum nur ein Symbol für die Auslotung der Klangeigenschaften aller Musikinstrumente außerhalb der Wege traditioneller Klangerzeugung sein kann. Auch das Verständnis des multimedialen „Happenings“ hat er sicherlich mitgeprägt; Nicht zu vergessen das ganz besonders zu verstehende Element der „Stille“. Sein unermüdlich wiederholter Leitspruch „die Musik mit dem Leben gleichsetzen“ deutet bereits an, welche Umstellung der traditionelle „Beethoven Hörer“ zu durchlaufen hat, um sich dieser Kunst anzunähern. Cages Kunst zielt darauf, den Menschen zu verändern. Natürlich kommt auch eine solche Entwicklung nicht aus dem Nichts. Auch Cage hat von Kunstrichtungen wie Dadaismus und Futurismus profitiert. Charles Ives, Edgar Varèse, Marcel Duchamp, Henry Cowell und Eric Satie und viele Andere haben ihn beeinflußt. Er bezog viele seiner Vorbilder interessanter-weise nicht nur aus der Musikszene, sondern aus Literatur, Tanz, Theater und Malerei. Die Synthese und Beziehung der Künste hat ihn nachweislich sehr beschäftigt. Er umgab sich mit einem engen Zirkel von Künstlerfreunden, darunter David Tudor, Earl Brown, Morton Feldmann und Merce Cunningham, die sich gegenseitig halfen und inspirierten. Zusätzlich wird uns die Frage beschäftigen, inwiefern und inwieweit indische und japanische Philosophie wirklich mit seiner Kunst zu tun hat.

Cage ist von einem unstetigen, immer vorwärts strebenden Geist besessen gewesen, der, immer, wenn er etwas Neues geschaffen hatte, sofort nach dem Nächsten griff. Nie hat sein Werk eine längerwährende Beständigkeit in Form, Prinzip und Material gehabt (von ganz fundamentalen Grundprinzipien, wie dem des Zufalls / der Unbestimmtheit abgesehen, doch auch jene haben sich mit der Zeit graduell geändert). Er sagte: „Mich interessiert immer nur die Musik, die ich als letztes geschrieben habe“. Die Entwicklung ist - zwischen den Zeilen gelesen - immer auch das Ergebnis seiner persönlichen Erfahrungen gewesen. Die Beschäftigung mit seiner Biographie lässt genug Anhaltspunkte dafür, daß entscheidende Einschnitte in seinem Leben und seine spezielle Persönlichkeit zu Veränderung in seinem musikalischen Weg geführt haben, als Beispiel sei hier nur die Publikumsaufnahme seines vielleicht persönlichsten Stückes The perilous Night, 1944, kurz vor der Scheidung von seiner Frau Xenia genannt. Bei der Beschäftigung mit Cage muss unbedingt auch darüber gesprochen werden.

Obwohl der Titel dieser Arbeit suggeriert, die Beschäftigung mit Cage reduziere sich hauptsächlich auf Variations I und Music of Changes, muss der Bogen weiter gespannt werden und sich eher auf fundamentale Aspekte seiner Kunst beziehen, als auf einzelne Werke - schon deshalb, weil der Werkbegriff bei Cage nicht zentral ist. Das Werk (und sein Leben) muss spätestens ab den 50er Jahren als eine Art sich entwickelndes „musikalisches Kontinuum“ angesehen werden, von dem einzelne Werke oder Konzerte nur kleine, nach außen hin sichtbare Ausschnitte bilden. Nichtsdestotrotz bieten diese beiden Werke wichtige Schlüsselaspekte, die in ihrer Begrenztheit exemplarisch auf das Gesamtwerk übertragen werden können.

Außerdem will ich hier versuchen, mich von der anderen Seite her - nämlich von der Seite des Zuhörers - dem Werk zu nähern. Diese Arbeit ist keine primär Musik-historische oder musiksystematische Abhandlung, sondern beschäftigt sich mit dem interessantesten Teil bei Cage: dem ästhetischen. Cage selbst hat dazu eine Fülle von Erklärungen und ein umfangreiches Schriftwerk hinterlassen. Er war angesichts seiner radikal neuen Ideen ständig in Erklärungsnot und hat im Laufe seines Lebens viele Vorträge und Vorlesungen gehalten, in denen seine Kunstansichten dokumentiert sind. Diese hat er sogar z.T. systematisch praktisch in die methodische Umsetzung seiner Veranstaltungen mit einfließen lassen. Das hat dazu geführt, dass man Cage oft lieber als Musikphilosoph denn als Musiker angesehen hat, der seine Ideen besser hätte theoretisch als praktisch propagieren sollen. Zudem spielt bei Cage neben seinem Interesse für fernöstliche Philosophie, und seiner Neigung zur Askese auch seine „Begeisterung für chaotischen Überfluss“2 und seine zunehmende Entwicklung zum politischen Anarchisten, resultierend aus seiner Beschäftigung mit Duchamp, eine Rolle. Diese Prinzipien spiegeln sich auch in seiner Musik selbstredend wieder.

Durch seine Negation von Vielem, was bisher unter Musik verstanden wurde, bietet sich die Gelegenheit, sich die traditionellen grundlegenden Prinzipien einmal wieder genau vor Augen zu halten und sie anschließend den neuartigen gegenüberzustellen. Daher wird die Arbeit sich auch erst einmal mit der traditionellen Musikästhetik auseinandersetzen. Dabei kann natürlich keine ausführliche Diskussion von allen unzähligen divergierenden Meinungen und Darstellungen der Geschichte erfolgen, das würde den Rahmen dieser Arbeit um ein Vielfaches sprengen. Ich kann nur ausschnitthaft auf meines Erachtens zentrale Aspekte eingehen und nehme hierzu hauptsächlich auf die relativ junge Musikästhetik „Musik Verstehen“ von Hans Heinrich Eggebrecht3 Bezug.

Diese Arbeit ist aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit Cage. Nicht alles kann einfach unbesehen aufgenommen werden. Und schließlich muss und werde ich die vielleicht schwerwiegendste Frage stellen: nämlich, inwieweit Cages Werk noch mit dem traditionellen Begriff von „Musik“ zu vereinbaren und damit in diese Kategorie einzuordnen ist. Cage hat sich selbst schon bemerkenswert früh dazu geäußert. Trotz der kritischen Auseinandersetzung mit Cage muss hier ausdrücklich auf die bemerkenswerte Leistung bezüglich seines Lebenswerkes hingewiesen werden. Die Beschäftigung mit Cages Biographie öffnet den Leser für den bewundernswerten, geradlinigen Lebensweg eines konsequenten, unabhängig denkenden Menschen, der ungeachtet von Hass und Verachtung, bösem Spott, vielen Rückschlägen und langer, bitterer Armut einen konsequenten Weg gegangen ist und der sich die späte Anerkennung seines Lebenswerkes hart verdienen musste.

2. EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE GRUNDÄSTHETIK - WAS WIR UNTER „MUSIK“ IM KONTEXT DES EUROPÄISCHEN KUNSTVERSTÄNDNISSES BIS IN DAS 20. JAHRHUNDERT HINEIN VERSTEHEN

2.1 ÄSTHETISCHE IDENTIFIKATION: MUSIK - EIN SPIEL?

Musik hat im Laufe der Geschichte viele Gesichter gezeigt. Von der Erzeugung von Stimmung und Extase in alter ritueller Musik, über das Symbol von Lobpreisung im sakralen Gesang des Mittelalters, von der Spielmusik zur Unterhaltung und Ergötzung auf Jahrmärkten und am Hofe, der Gebrauch ihrer emotionalen Eigenschaften im (auch rituell-symbolischen) Liebesgesang - angefangen vom Minnesang bis heute - oder der Gebrauch ihrer mitreissenden rhythmischen Eigenschaften in der Tanzmusik, die Tradierung von Identifikation und Bräuchen in der authentischen Volksmusik überall auf der Welt bis hin zur Entwicklung einer weltlichen Kunstmusik in aller ihrer Variation vom Barock bis in unsere Zeit hinein und darüber hinaus in Jazz und Pop (die modernen Formen von Volks- und Spielmusik) - alles hat dazu beigetragen, dass Musik zwar universal, aber in ihrer Bedeutung auch sehr vielfältig und schwer zu fassen ist. Wer traut sich schon zu sagen, was das Wesen von Musik ist?

Fest steht, dass sie etwas mit der Bildung von Kultur (im Sinne von völkischer Tradition) zu tun hat. In jeder Kultur, und sei es im hintersten Ureinwohnerdorf im letzten Winkel der Welt, hat sie in irgendeiner Form Platz gefunden. Wie sie verstanden wird, darüber besteht unter den Denkern und Experten keineswegs Einigkeit. Doch fest steht auch, dass sie verstanden wird, und zwar - jenseits von kulturellen Vorurteilen, die sich in Wirklichkeit nur auf ethnische Aspekte bezieht, und nicht auf die Musik als solche, und auch jenseits von persönlichem Geschmack und Vorlieben - jede Musik und von jedem. Ob es nun eine emotionale Botschaft ist, ein Nachempfinden von rein musikalischen Gestalten, oder das Sprechen einer universellen völkerübergreifenden „Sprache“; Es gibt offenbar eine Art von „Kommunikation“, die einfach verstanden wird (auch wenn Cage dieses bestreitet). Es ist zweifelsohne kein primär rationales Verstehen (Eggebrecht nennt es „Erkennendes Verstehen“), sondern ein sinnliches Wahrnehmungsverstehen, ein „Ästhetisches Verstehen“ (griech: aísth‘sis = „Wahrnehmung“).

Grundsätzlich heißt also „Verstehen“ nach Eggebrecht: „daß die Musik den Hörer affiziert, daß sie von ihm angenommen wird, Einlaß findet in sein Empfinden und Fühlen, den Hörer ergötzt und bewegt“4. Das passiert ganz natürlich, unbewusst und begriffslos. Es ist uns offenbar angeboren, Musik „als Sinngefüge zu erfassen, auch wenn der Sinn unbenannt und der Prozess des Erfassens uns unbewußt bleibt“5. Dieses „Sinngefüge“, von dem Eggebrecht spricht, ist in seinem Verständnis ein Mitvollzug des Geistes von dem Tongebilde innewohnenden Tonbeziehungen, und die vom Geist fassbaren und unterscheidbaren Gebilde (z.b. Motive), die erkannt, wiedererkannt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Bis zu einem gewissen Grade, argumentiert er, kann man diese Verstehensprozesse mit einer Form von Sprache vergleichen, die jedoch auf einer nicht-begrifflichen Ebene verstanden wird. Das Interessante dabei ist, dass sie nicht „missverstanden“ werden kann. Sie ist wie die Muttersprache (physikalische Erreichbarkeit vorausgesetzt), deren Verständlichkeit man sich einfach nicht entziehen kann. Der Mitvollzug der Sinneinheiten erfolgt automatisch und unabhängig von positiver oder negativer Einstellung zu den Inhalten. Das ästhetische Verstehen ist nach Eggebrecht also geschmacksunabhängig. Deshalb unterscheidet Eggebrecht hier sehr genau das ästhetische Verstehen von der (emotionalen) Reaktion des Hörers auf das Gehörte. Dieser Prozess ist rein subjektiv und individuell, und kann wissenschaftlich auf keinen einheitlichen Nenner gebracht werden (deshalb ist es auch so schwer, Musik zu bewerten, ihr verbindliche qualitative Merkmale zu verleihen; verstanden wird sie immer, aber die Bewertung basiert zwangsläufig auf einer persönlichen Werteinstufung, die vom reinen Verstehen aus immer den Bereich des Geschmacks passiert. Zur Verifizierung kommen dann erst die objektiven Kriterien hinzu, die sich bekanntlich immer für oder gegen etwas ausspielen lassen. Von diesem Manko der Bewertung ist auch der Kritiker oder der Musikwissenschaftler nicht gefeit). Angeboren ist dabei jedoch nur die Fähigkeit, diese Prozesse aufzunehmen. Mit der zunehmenden Hörerfahrung bildet sich ein zusammenhängendes System von „Sinnstiftungen“, in die „das sinnliche Verstehen sich eingewöhnt, einfühlt, einwohnt, einlebt [...], seine Regulative und Definitionen, ins Spiel der musikalischen Sinn-stiftungen“6. Eggebrecht nennt das „ästhetische Erfahrung“. Sie ermöglicht uns unter anderem auch die Bestimmung von besonderen Stilmerkmalen einzelner Komponisten oder Epochen (Polyversabilität). Wichtig in diesem Zusammenhang ist noch, dass Eggebrecht davon ausgeht, dass deswegen das „sinnstiftende“ Element in der Musik selbst ist, und nicht im Hörer erst entsteht. Sonst müsste die Allgemeinverbindlichkeit des Verstehensprozesses wieder angezweifelt werden.

Verstanden wird also der „Sinn“ der Musik. Der hier etwas sonderlich gebrauchte Begriff von „Sinn“ muss noch kurz erklärt werden, damit keine Missverständnisse entstehen. Er bezieht sich nicht auf einen kausalen Zusammenhang, eine Art von Daseinsbegründung von Musik und sagt auch nichts über die spezifische Aussage von Musik aus. Eggebrecht spricht davon an anderer Stelle unter dem Namen „Bedeutung“. Darauf komme ich später noch zurück. Sinn ist vielmehr nur das System von Verbindungen innerhalb der „Sprache“ von Musik, quasi vergleichbar mit einer Syntax, die zum Teil aus den begreifbaren Einheiten, zum Teil aus tradierten Sinnträgern besteht. Solche tradierten Sinnträger gibt es interessanterweise je mehr, je restriktiver eine überlieferte Musik sich von individuellen Einflüssen abschottet. Man denke beispielsweise an die Reichhaltigkeit der Symbole und Seufzerfiguren im Barock zu einer Zeit, in der man aber auch um jede Neuerung schwer ringen musste, da man immerwährend an den damaligen Größen (zum Beispiel Händel und Telemann) gemessen wurde. Hingegen ist es im 20. Jahrhundert fast unmöglich geworden, ein von jedem verstandenes System von symbolischen Figurationen aufzubauen, da die persönliche Freiheit eines jeden komponierenden Individuums und die damit verbundene Vielfalt das nicht zulässt.

Die Sinnstiftung geht also von der Musik aus, doch an welcher Stelle steht der Hörer? Eggebrecht gebraucht für diese Aktivität des Nachvollziehens eine schöne Metapher. Er spricht vom „Spiel“. Damit deutet er an, warum wir überhaupt bereit sind, diesen Prozess mitzuvollziehen. Wir „spielen“ ein ästhetisches, sinnliches Wahrnehmungsspiel, „das als Formung sich darbietet und sich zu verstehen gibt durch das Mitspielen des Spiels“7.

Die Gehalte, die innerhalb der Musik transportiert werden, können sich nur mitteilen, in dem die musikalische „Sprache“ aufgeschlüsselt wird. An dieser Stelle muss bereits vorweggenommen werden, dass Cage hier ganz anderer Meinung ist. Für ihn hat der Gedanke von Kommunikation keine Bedeutung. Auch für den spielerischen Gedanken im Sinne eines „Mitvollziehens“ ist kein Platz bei ihm. Was er dagegen hält, und wie es bei ihm zu dem andersartigen Verständnis kommt, wird dann im zweiten Teil der Arbeit diskutiert.

2.2 BILD UND EMOTION - DIE „BEDEUTUNG“ IN DER MUSIK

Im vergangenen Kapitel ist von der sich mitteilenden Syntax in der Musik gesprochen worden, die durch ihren sinnlichen Spiel- und Sprachcharakter schon selbst einen Teil der Bedeutung von Musik ausmacht und offenbar darin enthaltene Inhalte transportiert.

Wir sind am Punkt angelangt, an dem wir den „Sinn“ von Musik verstehen. Wir spielen ein Spiel. Doch kann das alles sein? Sitzen wir im Konzert, nur um „zu Spielen“ ? Steckt da nicht mehr dahinter? Was ist das für ein trauriges Spiel, das uns die Tränen der Rührung in die Augen treibt, wenn wir der Filmmusik von „Casablanca“ lauschen, während die Schatten auf der Leinwand dazu die existentielle Verzweiflung mimen? Wozu gäbe es die Verbindung von Musik und Film, die sich schon lange als unverzichtbar für die Filmindustrie gezeigt hat, wenn der Film allein die Botschaft tragen würde? Auch im Kontext zur Ästhetik von Cage, die keine transportierten Inhalte kennt und alle sich mitteilende (auch emotionale) Persönlichkeit von Komponist und Interpret auszuschalten versucht, müssen wir die Frage nach dem Transport von Emotionen durch Musik stellen. Der geneigte Leser wird mir deshalb gestatten, mich mit dieser wichtigen Frage etwas gründlicher auseinanderzusetzen. Natürlich weiß jeder Mensch, dass Musik in irgend einer Verbindung mit der Emotion steht. Wie diese Verbindung aussieht, darüber wage ich keine definitive Prognose. Dies ist ein Thema, über das sich die Menschen schon lange (gegenseitig) die Köpfe zerbrechen. Die historische Situation ist folgende:

Die vom frühen 19. Jahrhundert ausgehende starke Betonung des Gefühls in der Musik hat einige mächtige Gegner dieser Ansicht auf den Plan gerufen. Der Streitpunkt liegt vor allem darin, ob die Emotion in der Musik begründet liegt oder im Hörer individuell hervorgerufen werden kann, und somit für das Wesen von Musik irrelevant ist. Gegner der Theorie, dass Musik Emotion selbst transportiert, haben die Betonung auf das Gefühl gelegentlich etwas polemisch als „pathologisches Hören“ denunziert, die die Musik auf die „einseitige Reaktion auf das Emotionale [reduziert], die es lediglich als Auslöser subjektiver Gefühlsprojektionen benutzt“8. Der Prominenteste in dieser Beziehung ist vielleicht Eduard Hanslick, Freund von Brahms und mächtiger Musikkritiker seiner Zeit, der, nicht zuletzt in seinem Buch „Vom Musikalisch Schönen“ von 1854, immer wieder gegen diese „außermusikalische“ Verbindung gewettert hat. Er war der Ansicht, dass die Bedeutung von Musik immer nur in sich selbst liege, und es keinerlei beweisbare Verbindung zwischen der Musik und der hervorgerufenen Emotion bestünde.

Die Debatte ist dabei aber schon viel älter und dauert auch bis heute an. Ich kann aus Zeitgründen den Fortgang der Debatte nicht beleuchten, das sprengt bei weitem den Rahmen dieser Arbeit. Ich möchte hier nur auf einen Diskurs des britischen Philosophen Malcolm Budd über die Thesen Hanslicks eingehen, der in dem Kapitel „The repudiation of emotion“ („Die Zurückweisung von Emotion“) in seinem Buch „Music and the emotions“9 auf elaborierte Weise versucht, Hanslicks Thesen auf Basis philosophischer Argumentation teilweise zu entkräften. Nach einer langen Abhandlung über das Wesen von Emotion kommt er auf Hanslicks Argumentation zu sprechen. Diese beruht auf drei aufeinander aufbauenden Annahmen:

1. Musik kann keine „Bedeutung“ in Form von Gedanken repräsentieren
2. Benennbare Emotionen (die einzigen, die er zweifelsfrei als Emotionen identifizieren kann), wie Hoffnung, Traurigkeit und Liebe beinhalten jedoch immer Gedanken
3. Also kann Musik keine definitiven Emotionen repräsentieren

Hanslick geht dabei davon aus, dass eine Emotion aus nichts Anderem als einem Gedanken verbunden mit einem allgemeinen körperlichen Gefühl von Befriedigung oder Unbehagen besteht, die die „dynamischen Eigenschaften“ von ihm ausmachen, also den inhaltlichen Gedanken in unterschiedlicher Stärke fühlbar machen. Die Emotionen können also nur durch die beinhalteten Gedanken von einander unterschieden werden (weil die Kategorie der Befindlichkeit von Befriedigung und Unbehagen zu allgemein zur Unterscheidung ist, und weil mehrere Gefühle den gleichen Grad von Befriedigung oder Unbehagen beinhalten können). Hanslick „erlaubt“ der Musik eine Imitation der dynamischen Eigenschaften von Emotionen, aber keineswegs von anderen Eigenschaften.

Die These wird davon gestützt, dass Emotion selbst keine „hörbare“ Qualität besitzt, höchstens die äuß erlichen Anzeichen (die in Verbindung mit den dynamischen Parametern stehen) sind hörbar, genauso, wie Emotion keine sichtbare Qualität besitzt, sondern nur über ihre äußerlichen Anzeichen, d.h. den Ausdruck der Emotion (beispielsweise im Gesicht) wahrnehmbar ist.

Die Probleme tauchen jedoch weniger am Ende, denn am Anfang der Argumentation auf. Ob es wirklich so ist, dass es Gefühle nur in Verbindung mit zugehörigen Gedanken gibt, den Beweis bleibt er letztendlich schuldig. Beispielsweise gibt es Gefühle, die die schleichende Grenze zu Stimmungen beschreiten, beispielsweise die (von ihm als Emotion anerkannte) Fr ö hlichkeit. Man kann nicht wirklich beweisen, dass es im Falle von Fröhlichkeit einen Auslösergedanken geben muss. Ähnliche Fälle lassen sich sicherlich bei eingehender Betrachtung noch weitere finden. Somit ist ihm das Argument aus der Hand geschlagen, dass Musik nicht diese speziellen Gefühle ausdrücken könne.

Außerdem, wenn Musik die dynamischen Eigenschaften von einer Emotion repräsentieren oder imitieren kann, was Hanslick nicht bestreitet, repräsentiert sie unweigerlich dasjenige Element der Emotion, ohne welches die Erfahrung des Gedankens der spezifischen Emotion nicht „emotional“ wäre!10

So könnte bereits die Erfahrung der dynamischen Parameter der Emotion den Hörer stimulieren, und „belohnen“, nur eben, dass die nicht im Sinne einer spezifischen Emotion definiert werden könnte.

Des Weiteren gibt es unbestreitbare Parallelen zwischen harmonischer Spannung und dem Drang nach Auflösung (Konsonanz/Dissonanz) auf der einen Seite, und dem Gefühl von psychischer oder emotionaler Spannung und dem Drang nach seiner Auflösung auf der anderen Seite.

Hanslick führt weiter an, dass, selbst wenn Musik Emotionen darstellen könne, die Qualität der Musik nicht auf die emotionale Repräsentation angewiesen wäre. Neben anderen Argumenten vokale Musik betreffend gibt er als Beispiel, die Möglichkeit an, dass durch schlechte Interpretation die Schönheit (und infolge dessen der Wert) einer Musik zerstört werden könne, ohne dass die Richtigkeit der Repräsentation einer angeblichen Emotion berührt sei. Doch das widerlegt nicht die Existenz einer solchen Repräsentation von Gefühlen durch Musik. Und andersherum, durch schlechte Repräsentation von Gefühlen muss nicht die Schönheit (oder der Wert) von Musik beeinträchtigt sein. Beide Parameter, Schönheit/Wert und Emotion sind unabhängig von einander.

Auf der anderen Seite bestreitet er nicht, dass Musik Emotionen im Hörer hervorrufen kann, er bestreitet lediglich, dass sie für die Betrachtung von Musik relevant oder überhaupt angemessen sei, da sie nicht innerhalb der Musik beweisbar ist. Er führt an, dass Musik vom Typen des emotionalen Hörers oft für emotionale Höhenflüge „missbraucht“ wird, während der „musikalische“ Hörer die wahren Qualitäten im strukturellen Entwicklungsgeschehen suche. Nun, dies ist eine Argumentation, die stark auf das musikalische Wesen des 18. Jahrhunderts schielt (vielleicht noch mit begrenzter Ausweitung auf Bach). Eine große Palette musikalischer Erscheinungsformen vor 1600 und nach ca 1850 n. Chr. legen dagegen kein besonderes Augenmerk auf ihre immanente Struktur und verstehen sich primär als Träger von Inhalten. Dies ist so breit anerkannt, dass ich nicht glaube, es anhand einzelner Beispiele beweisen zu müssen. Dieses Musikverständnis wird bei Hanslick nicht in angemessener Weise berücksichtigt. Diese Argumentation erbringt somit nicht den Beweis der Allgemeingültigkeit und sollte mit Vorsicht genossen werden, besonders, weil das (bei Adorno wiederkehrende) Element des strukturellen Hörens bei vielen Menschen gar nicht wirklich entwickelt ist. Die meisten Menschen wären damit vom „korrekten“ Musikverstehen ausgeschlossen. Budd seinerseits behauptet gar nicht, dass Emotionen in Musik enthalten seien. Er führt selbst folgende Beweisführung dagegen an:

Emotionen rufen unweigerlich körperliche Reaktionen hervor. Als Beispiel nennt er die „Unruhe“, da die äußerliche Reaktion daran besonders plastisch darzulegen ist. Unruhe ruft „unruhige“ Bewegungen hervor; allerhand Bewegungen sind zu beobachten, die sich ohne echten Grund wiederholen, nervös zucken, mitunter hastig sind, nicht fähig, still zu stehen. Diese Bewegung kann zweifelsfrei erkennbar in Musik imitiert werden. Stakkato-Passagen, Triller, starke Betonungen, Beschleunigungen, Schüttelbewegungen, immerwährende feingliedrige Bewegung, unmotivierte Sprünge, und vieles mehr. Diese Entsprechungen kann man akzeptieren. Damit stehen die musikalischen Mittel für die äußerlichen (körperlichen) Anzeichen eines mentalen Zustandes und könnten ihn bedeuten, da er mit seinen äußerlichen Anzeichen gleichgesetzt wird. Doch hier entsteht nach seiner Ansicht ein unbemerkter Paradigmenwechsel: Die Musik klingt so, wie der Körper sich anfühlt. So stellt die Musik in diesem Fall lediglich mittelbar körperliche Anzeichen, nicht aber den mentalen Zustand akkurat dar. Mentale Zustände können nicht direkt von Musik dargestellt werden, nur die körperlichen Anzeichen werden nachgeahmt. So fehlt bereits an zwei Stellen die beweisbare direkte Entsprechung.

Budd übersieht allerdings in aller Spitzfindigkeit philosophischer Argumentation hier, dass der Wille, also die Intention eines Komponisten zur Entsprechung sehr wohl da sein kann, wenn sie auch nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar erfolgen kann. Ihre Existenz ist nicht widerlegt. Wenn die Entsprechungen nicht missverstanden oder anderweitig fehlgeleitet wird, kann die Entsprechung über die Mittelbarkeit hinweg erfolgen. Die Emotion würde in diesem Fall symbolisch in der Musik vorhanden sein -wenn gewollt. Die hier ausführlich behandelten „äußerlichen Anzeichen“ können ohne weiteres mit der Bezeichnung „Ausdruck/Expression“ gleichgesetzt werden. Es stellt sich also die Frage: Kann Musik Emotion „ausdrücken?“ Der symbolische Akt einer Entsprechung tritt dort an die Stelle eines direkten Transportes. Es stellt sich die Frage, ob Beides gleichgesetzt werden kann.

Eggebrechts Position in „Musik verstehen“ dazu ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, wobei jedoch auffällt, dass er ebenfalls eine sehr negative Einstellung gegenüber dem Typus des emotionalen Hörers zu erkennen gibt. Und er holt sich zu diesem Zwecke mächtige Verbündete heran.

„Das Subjekt, das die Musik ästhetisch versteht, bringt seine Subjektivität in der Weise ins Spiel, daß es auf das ästhetischVerstandene reagiert. Dieses Reagieren wird durch die Musik ausgelöst, hat jedoch im Rahmen dieser Auslösung und Bezogenheit [...] einen unendlichen Spielraum an Möglichkeiten.“11 Eggebrecht bezieht sich damit eindeutig auf Hanslicks Trennung von Musik und Emotion. Des weiteren unterscheidet er die Begriffe „Empfinden“ und „Fühlen“. Das Zweite ist dabei der Auslöser von Ersterem. Es ist ein Sinneseindruck, der von der „Empfindung auch den emotionalen Gehalt des Reizes [registriert] und leitet ihn weiter an das Gefühl, das auf die vom Objekt ausgehende emotionale Seite der Reizempfindung subjektiv reagiert“12.

Hier spricht er allerdings plötzlich vom “emotionalen Gehalt des Reizes“ (ich habe den betreffenden Ausdruck unterstrichen), und ein paar Zeilen weiter unten vom „ihm innewohnenden emotionalen Element [...], das [...] in unserem subjektiven Gefühls-bereich ein Gefühl erzeugt“. Darauf basiert seine Argumentation, dass das „Empfinden“ vom Sinneseindruck her kommt, und demnach direkt objektgebunden (von der Musik kommend) ist, während das „Gefühl“ subjektive Reaktion darauf ist. Was nun aber der genaue Unterschied zwischen einem „emotionalen Element“ und einem „Gefühl“ ist, die Erklärung bleibt er schuldig, insbesondere weil er den Terminus „Emotion“ ein paar Zeilen später mit „ Gefühls wert“13übersetzt und verwirrenderweise von der „Gefühls empfindung “ als subjektive Reaktion des Hörers spricht (was seiner eigenen Definition von „Empfindung“ widerspricht). Er führt aus, dass „sich die Empfindung mit dem Gefühl [berührt] und gelangt mit ihm zur Deckung, weshalb im Sprachgebrauch beide Begriffe austauschbar sind“. Gefühl und das aus der Musik kommende „emotionale Element“ sind demnach Eggebrecht zufolge deckungsgleich. Man muss sich fragen, weshalb solches Aufhebens gemacht wird um den feinen Unterschied zweier Begriffe, die letztendlich doch einen identischen Inhalt haben. Diese Deckungsgleichheit würde überdies Hanslick das Argument aus der Hand schlagen, dass die subjektive Reaktion ohne jede Relevanz für die Bedeutung der Musik (oder ihre „Schönheit“) ist.

Auf Seite 75 ff. wendet sich Eggebrecht gegen den Typus des ausgeprägt emotionalen Hörers, der „die Definitionsprozesse des musikalischen Sinns“ übertönend, primär die „Gefühlsbotschaft“ als „Stimulanz der eigenen Gefühlswelt benutzt“. Im Folgenden gibt er der „Form“, also dem System von Sinnstiftungen eindeutig das Primat gegenüber den „Gehalten“ von denen er die Emotion als die Wichtigste nennt. Zur Verstärkung zitiert er Immanuel Kant aus seiner „Kritik der Urteilskraft“ (§51 und 53). Ich möchte im Folgenden die Textstelle (S. 76) als Ganzes abdrucken:

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Abb. 1: Eggebrecht, Musik verstehen, S. 76

Eggebrecht deutet Kants Ausdruck von „Form“ in Z. 9 im Sinne seines Begriffes von „Formsinn“ (siehe Z. 5 und 18). Das ist, so wie er Kant zitiert, jedoch nicht im Sinne des Verfassers interpretiert, der von „Form der Zusammensetzung dieser Empfindungen“ spricht, die gegenüber der Einzelemotion den Vorrang habe. Demnach beinhaltet die ganze Stelle eine Fehlinterpretation Kants und bleibt in der Beweisführung nicht schlüssig.

Schon eher in seinem Sinne ist folgendes Hegel-Zitat: (b.w.)

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Abb. 2: Eggebrecht, Musik verstehen, S. 77

Hegel sagt hier sinngemäß, dass die emotionale Lautäußerung erst durch Stilisierung (kadenzale Interjektion) zur Kunst wird. Hegel gibt der „Form“ im Sinne Eggebrechts in diesem Fall ebenfalls den Vorzug, jedoch ausdrücklich als Darstellung von Emotion. Beide Philosophen sprechen von Musik als einer Sprache des „Gefühls“ oder „Gemüts“ oder der „Affekte“ (was hier gleichzusetzen ist), dessen bevorzugter Untersuchung Hegel im folgenden Zitat (S. 77/78) aber auch wegen ihrer „inhaltslosen Subjektivität“ eindeutig eine Absage erteilt. Damit erhebt er die Form der Darstellung von Emotionen zum eigentlich künstlerischen Element in der Kunst.

Der schärfste Gegner des emotionalen Hörers erweist sich jedoch Th. W. Adorno im Zitat seiner Abhandlung über „Typen Musikalischen Verhaltens“ dessen Argumentation sich jedoch an Hanslick anlehnt, und deshalb hier nicht noch gesondert diskutiert wird.

Über dieses Thema ließe sich sicher noch eine getrennte Staatsarbeit schreiben, ich muss jedoch, um den Rahmen nicht zu sprengen, vor den Augen des ermüdeten Lesers jetzt die Diskussion abbrechen. Es gibt im Bereich der „Bedeutung von Musik“ natürlich noch andere Inhalte, beispielsweise die sogenannten außermusikalischen Inhalte wie bildliche Symbole und Naturlautnachahmungen, die im folgenden Kapitel behandelt werden.

2.3 MUSIK ALS REIZGEBILDE - KLANGFARBEN, ABBILDLICHKEIT UND AUßERMUSIKALISCHE INHALTE

Entgegen Johannes Brahms und Eduard Hanslick bildete sich Mitte des 19. Jahrhunderts um Franz Liszt die sogenannte Gruppe der „Neudeutschen Fort- schrittler“14, die gegenüber dem traditionellen Modell des vorrangigen „Sinngebildes“ der musikalischen Abbildlichkeit den Vorzug geben. Damit gemeint waren Bilder und Symbole der gegenständlichen Welt oder aber der persönlichen inneren Welt des Komponisten, seinen Ängsten und Leidenschaften, die mittels bestmöglicher Nachahmung in die Musik importiert wurden.

Eggebrecht nennt hier als Möglichkeiten malerische, idiomatische, emotionale, assoziative und gestische Abbildetypen. Als Beispiele gibt er Naturnachahmungen, sozial und geschichtlich geprägte und traditionsgestiftete Abbilder wie Märsche, Tanz-, oder Signalidiome (u.a.) und außerdem anthropologisch begründete Abbildtypen, beispielsweise das Seufzermotiv oder Aufschrei und Verstummen an. Der Unterschied zum traditionellen Verständnis, wo der „Sinn“ innerhalb eines ausschließlich musikimmanenten Beziehungsgebildes als Definition sich bildet, liegt der Sinn beim Abbild durch das Symbolhafte schon vor und wird lediglich „wiedererkannt“. Es braucht nicht „musikalisch definiert“ zu werden (muss aber laut Hegel erst „künstlerisch zubereitet“ werden, um als Musik wahrgenommen zu werden; siehe voriges Kapitel). Ein anfänglicher Meilenstein in diese Richtung bildete sicherlich die allseits bekannte Sinfonie Fantastique von Hector Berlioz aus dem Jahre 1830. Das Modell der Sinfonie wurde von den Komponisten um Liszt jedoch von der Sinfonischen Dichtung weitestgehend abgelöst, die durch ihre Anlagen dem Ideal des „Sinfonischen Klanggemäldes“15mehr entgegenkam.

In der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts, wo dem Hörer das Verstehen des traditionellen Sinnverstehens (angesichts der sehr individuellen und komplexen Klangsprache) oft sichtlich schwerfällt, rät Eggebrecht dem ratlosen Hörer als ein erstes Hilfsmittel die Beachtung der abbildlichen Vorgänge an. Genommen ist dem Hörer durch das Durchstoßen der Tonalitätsgrenze durch Schönberg nicht nur ein allgemeinverbindliches System von Stinnstiftungen, sondern auch ein ebenso allgemeinverständliches Bedeutungs- und Ausdruckssystem abgerissen“16 metaphoriert Eggebrecht treffend. Abbilder sind weiterhin möglich, werden aber nicht mehr im gewachsenen traditionellen System kodiert. Ab nun ist jedes komponierende Subjekt (nach Schönberg durch weitere Radikalisierung noch zu-nehmend) mit seinem eigenen, selbstgewählten System alleingelassen. Die musikalische Sprache wird zunehmend subjektiver. Doch wo bleibt der arme Hörer? Er steht vor den Trümmern des gleichen „Hauses“ und hat außerdem das Problem, dass es nicht das seine ist. Er muss sich im individualisierten, neuen System des einzelnen Werkes zurechtfinden. Der Hörer benötigt, schreibt Eggebrecht, „die Kultivierung der ästhetischen Erfahrung gegenüber dem Neuartigen“17leicht und benötigt häufig eine Erklärung des Komponisten für eine Chance des vollen Verständnisses der Komposition. Diese Form der „Beiheft-Erklärung“ ist uns jedoch schon seit Berlioz geläufig. Jegliche subjektive Gedankenwelt, jede „Erzählung“ in Musik, braucht eine Erklärung, will man sie im Sinne des Komponisten verstehen. Schönberg setzt das im Kern im 19. Jahrhundert angelegte Expressionsdenken weiter fort und steigert es bis zum Extrem. Das musikalische Geschehen in der Kunstmusik der 20er Jahre heißt demnach konsequenterweise „Expressionismus“. Die Expression benötigt neben der Abbildlichkeit und der Klangfarbe nicht die Tonalität, um wirksam und verständlich zu sein18. Sie konstituiert sich aus „Idiome[n] assoziativer, emotionaler, gebärdischer Art“ - und kann deshalb als Abbild vom Hörer erkannt werden. Auf die Situation im 20. Jahrhundert werde ich jedoch in einem späteren Kapitel noch ausführliches eingehen. Ich will hier noch den Gedanken der „Reizästhetik“ kurz beleuchten.

Jegliche Musik besteht aus akustischen Reizen, die durch ihre Wahrnehmung „Erregungen auslösen und Empfindungen [...] verursachen“19. So wie das Abbild benötigt der Reiz als Erlebnis keine musikalische Sinndefinition, der Sinn liegt in der unmittelbaren sinnlichen Wirkung, schreibt Eggebrecht. Jeder Reiz hat einen in sich selbst vordefinierten Charakter, der auf seine eigene Art „verstanden“ wird. Ein wichtiges Beispiel der Idee vom Reiz ist die Klangfarbe, wie sie besonders augenfällig im sogenannten musikalischen „Impressionismus“ kultiviert wurde. Zu erwähnen ist im Zusammenhang mit dem Impressionismus allerdings die verwirrende Tatsache, dass dort die Klangfarbe der Musik nicht ausschließlich von der Klangfarbe des einzelnen Tones abhängt, sondern auch von der Verwendung eines ausgeklügelten, speziellen harmonischen Systems, was die schöne klare Trennung zwischen der Tonalität als sinnstiftendes Ordnungssystem auf der einen Seite, und dem Reiz als unmittelbare sinnliche Wirkung auf der anderen Seite zumindest teilweise wieder in Frage stellt. Besonders deutlich wird das in der impressionistischen Klaviermusik, beispielsweise Debussys, denn die eigentliche Klangfarbe des Klaviers ist bei Debussy objektiv nicht wesentlich von derjenigen der Klassik unterscheidbar. Das ändert sich erst mit dem Erscheinen Cages in den 30er Jahren und gehört nicht in den Zusammenhang mit dem Impressionismus.

Der Klangfarbe kommt unter anderem die Bedeutung als Charakterträger und Ausdruckswert zu. Eggebrecht zählt die Klangfarbe zu den „peripheren“ Toneigenschaften, da sie kein reguliertes, skalenartiges Ordnungssystem als Grundlage haben, was einen gegebenen Wert als relativen Bezugswert dazu definieren würde, und das Ganze somit ein schlüssiges Sinngefüge, ähnlich wie das der Tonalität, bilden würde. Nun, bei genauer Betrachtung gibt es sicherlich Tendenzen zwischen Extremen wie espressivo und dolce, dunkel, und hell, zart und stark. Ob sie aber systematisch genug sind, um sinnstiftend zu sein, muss dahingestellt bleiben. Schönberg allerdings ist da ganz anderer Meinung, wie wir noch im Kapitel 3 sehen werden.

In diesem Zusammenhang zeichnen sich allerdings genaugenommen wieder Unklarheiten zwischen Klangfarbe als Reiz und Tonalität ab. Die tonalitätsbezogenen Parameter Dur (hart) und Moll (weich) sind nämlich ebenfalls eigentlich Klangfarbendefinitionen.

Man kann jedoch nicht auf alle Ungenauigkeiten eingehen. Es gibt immer Schlupflöcher Ausnahmen und Generalisierungen im Auffindungsprozess von Prinzipien. Lassen wir Eggebrechts Aussagen deshalb im Großen und Ganzen ihre Gültigkeit. Auch auf Klangfarbenreize reagiert das Subjekt auf eine „genießerische“, imaginative Art20 , ohne einen „objektivierten“ Verstehensanspruch im traditionellen Sinne zu erheben, schreibt Eggebrecht. Infolge meiner Argumentation bei der Frage um die Emotion im vorigen Kapitel, die uns vor die gleiche Situation stellt, muss ich allerdings hier wiederum aus den gleichen Gründen Bedenken erheben. Wenn die sinnliche Reaktion des Subjekts wiederum deckungsgleich mit dem Farbwert des ausgehenden sinnlichen Reizes ist - wozu sich Eggebrecht diesmal jedoch nicht distinktiv äußert - so muss sie auch als objektiv gelten (s. Gefühl vs. emotionales Element in Kapitel 2.2). Die Bedeutung, die dem Reizgeschehen zukommt ist kann trotz der feinen Unterscheidung, ob sie subjektiv oder objektiv ist, unangefochten als wichtig eingestuft werden. Reiz und Abbild bleiben in einigen Stilrichtungen am Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Parameter auf der Suche nach Ersatz der allgemeinen Sinnstiftung der Tonalität. In musikalischen Formen außerhalb der „Kunstmusik“, beispielsweise in der Filmmusik, spielt sie auch bis heute noch eine zentrale Rolle.

2.4 WERKIDENTITÄT

Die Frage nach der Identität eines Werkes ist eine sehr wichtige im Zusammenhang mit Cage. Sie beleuchtet einerseits, wie abgeschlossen ein Werk für sich allein steht, und andererseits - noch interessanter im Zusammenhang mit Cage - wie es mit der Wiedererkennbarkeit, der Identifikation eines Werkes bestellt ist. Die Identität macht die Wiedererkennbarkeit des Werkes trotz der individuellen Interpretationsunterschiede aus, Eggebrecht nennt sie die „Zeichnung“ eines Stückes. Grob gesagt ist die Zeichnung das, was der Komponist niederschreibt. Eggebrecht unterscheidet zu recht hier sehr genau von dem „Dasein“ des Werkes. Denn allein das Niedergeschriebene „lebt“ noch nicht als tönende Musik. Erst das individuelle, persönliche Spiel des (oder der) Interpreten erweckt das Leben des Werkes und erhebt das trockene theoretische Konstrukt zum genießbaren Erlebnis. Die Persönlichkeit des Interpreten kann ein Werk jedoch auch sehr unterschiedlicherscheinen lassen, im Extremfall bis zur Entstellung. Diese Verwirklichung des Werks als Klang nennt Eggebrecht das „Dasein“ des Werkes. Es subsumiert allerdings im Gegensatz zur Zeichnung eher die „Verschiedenheit“ eines Werkes mit sich selbst, das heißt, die Einmaligkeit seines Daseins in jeder einzelnen Aufführung.

Ein Spezialfall ist allerdings die Wiedergabe einer Aufführung vom Tonträger. Die Einmaligkeit des Augenblicks ist hier außer Kraft gesetzt, wird reproduzierbar. Das hat den Vorteil, dass die schönsten, gelungensten Momente erhalten bleiben, man kann sie das nächste Mal wieder in voller „Einmaligkeit“ genießen und sich völlig darin einleben. Andererseits wird die „konservierte Einmaligkeit“ allmählich zur Wiederholung, die nach einiger Zeit abgeschmackt und fahl werden kann. Der „Kick“ ist weg. Viele Hörer greifen als Konsequenz zum Lautstärkeregler; doch auch das hilft nur begrenzt. Hier zeigt sich, das der Mensch zum neuen, frischen Erlebnis eine gewisse Variation braucht. Sie gibt dem gleichen Stück neue Lebendigkeit.

Ein Werk bestimmt sich aber darüber hinaus seine Identität noch durch sein Verhältnis zum Geist der Zeit: Es arbeitet mit den Stilmitteln der Zeit, in der es entstand. Gleichzeitig bringt fast jedes Stück durch seine Individualität der Komposition kleine Neuerungen, die wiederum den Stil bereichern. Jede Komposition „altert“ irgendwann, denn der Geist der Zeit ändert sich kontinuierlich. Die Komposition gehört dann an ihren geschichtlichen Ort. Die Komposition ist in ihren - nun historischen - Stil einordbar.

Die Stilfrage ist deshalb so wichtig, weil im traditionellen Notentext nicht alles fixierbar ist. Viele tradierte Spielkonventionen ergänzen den skizzenhaften Notentext und ersetzen auch viele komplizierte Sonderzeichen, die jedesmal vom Komponisten neu definiert werden müssten. Das macht es aber auch so schwierig, ein Werk in seiner historischen Gestalt neu zu rekonstruieren, wenn die Traditionslinien einmal abgerissen sind, wie am Beispiel des Barock - und vorher - zu erkennen ist.

Eggebrecht erwähnt im Hinblick auf die sogenannte „Historische Aufführungspraxis“, das es nicht ohne Schwierigkeit ist, dem heutigen Hörer ein (selbst wenn auch perfektes) Klangkonstrukt einer vergangenen Zeit zu präsentieren21. In der hitzigen Debatte um das Für und Wieder wird nämlich oft der Hörer ganz vergessen. Das mit allen Kontexten vergangenen Kunstverständnisses und tradierten Stilbedeutungen (z.b. musikalisch-rhetorischen Figuren) vergangener Jahrhunderte behaftete Werk trifft nämlich auf meist unbedarfte Ohren, die die Botschaften oft gar nicht entschlüsseln können, da Kunstverständnis und auch Weltsicht eine andere geworden sind. Ob aber andererseits eine moderne Interpretation einem alten Werk in den Ohren des Hörers mehr gerecht wird, bleibt ebenso fraglich.

Bei der Neuartigkeit einer Musiksprache, wie die von John Cage (besonders in seiner mittleren und späten Schaffensphase) kann der Komponist nur sehr eingeschränkt auf solche Konventionen zurückgreifen. Deswegen ist eine große Vielfalt von Sonder-zeichen entstanden, die sich mit zunehmender Mehrdeutigkeit der Kompositionen bis hin zu einer graphischen Notation entwickelte, die dem Betrachter eher an ein Bild erinnert, als an die Fixierung von Musik. Berühmt geworden ist in diesem Zusammen-hang das Improvisationsstück December 1952 von Earle Brown, einem Freund von John Cage:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Earle Brown: December 1952 aus: Dahlhaus, „Die Musik des 20. Jahrhunderts“, Handbuch der Musikwissenschaft 7 S. 336.

[...]


2 Hans Heinrich Eggebrecht, Musik verstehen, Wilhelmshaven 1999, S. 309/310

3 Eggebrecht, Musik Verstehen, 1999.

4 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 19

5 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 26

6 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 25

7 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 79

8 Sinngemäßes Hanslick-Zitat in Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 79

9 Malcolm Budd, Music and the Emotions - The Philosophical Theories, London 1985, S.20-47.

10 Siehe: Budd, Music and the Emotions - The Philosophical Theories, S. 25

11 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 42

12 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 73

13 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 74.

14 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 71

15 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 71.

16 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 91 ff.

17 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 110.

18 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 95.

19 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 64

20 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 67

21 Eggebrecht, Musik Verstehen, S. 56/57

Ende der Leseprobe aus 95 Seiten

Details

Titel
Moment und Form - Die Auflösung traditioneller Formerwartungen bei John Cage's "Music of Changes" und "Variations I"
Hochschule
Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar  (Institut für Musikwissenschaft Weimar/Jena)
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
95
Katalognummer
V21751
ISBN (eBook)
9783638252928
Dateigröße
3069 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit befasst sich mit der Gegenüberstellung der traditionellen Musikästhetik unter kritischer Betrachtung der Musikäthetischen Schrift "Musik Verstehen" von Hans Heinrich Eggebrecht und der völlig anderen Ästhetik der Musik von John Cage, die u.A. auf Dadaismus und Zen-Buddhismus zurückgreift. Ausführlich werden beide für sich behandelt und unter verschiedenen Aspekten gegeneinandergestellt. Die Argumentation läuft auf die Frage hinaus: Ist Cages Kunst mit dem Begriff Musik vereinbar?
Schlagworte
Moment, Form, Auflösung, Formerwartungen, John, Cage, Music, Changes, Variations
Arbeit zitieren
Jörg Meschendörfer (Autor:in), 2002, Moment und Form - Die Auflösung traditioneller Formerwartungen bei John Cage's "Music of Changes" und "Variations I", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21751

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